Christinnen und Christen sind Menschen, die in einem Auftrag stehen – in neutestamentlichem Griechisch heißt das: die “apostolisch” sind. Dieser Auftrag gründet in der Selbstsendung Gottes, die die Sendung Jesu ist. Erlebt wird es als Aufgabe – und als Rückenwind.

Die apostolische Dimension der Berufung aller Christen

Text: Peter Hundertmark – Photo: sailer1960/pixabay.com

Apostelinnen und Apostel sind Gesandte. Neutestamentlich wird das Wort erst nach der Auferstehung Jesu verwandt. Und auch wenn es rasch zu einem Kennzeichen einiger Personen wird – der verbliebenen Elf des Zwölferkreises, später auch einiger anderer Missionarinnen und Missionare – dahinter steckt das lateinische Wort für Gesandte – wurde, ist es doch zuerst eine Beschreibung für alle, die zuvor Jüngerinnen und Jünger Jesu waren. Sie, die mit ihm von Galiläa an gemeinsam unterwegs waren, von ihm gelernt haben und von ihm geprägt wurden, sind nun Gesandte. Sie bezeugen seine Auferstehung, sie führen sein Werk weiter, sie tragen die Botschaft von der Erlösung bis an die Enden der Erde.  

Aber die Apostolizität greift noch tiefer, greift zurück auf die Sendung Jesu selbst, die die Selbstsendung, die Gott sich gegeben hat, verwirklicht. Greift zurück bis auf den Schöpfungsakt und das Wesen Gottes selbst. Denn Gott ist immer für die Menschen und die Erde engagiert. Wir wissen nichts von ihm, vor oder neben dieser Sendung, die er sich gegeben hat. Er ist immer Gott für die Menschen und die Erde. Das ist die erste theologische Prämisse.

Jesus erläutert und präzisiert diesen Auftrag, im Rückgriff auf prophetische Traditionen Israels, in seinen Predigten und Zeichenhandlungen. „Ich bin gekommen…“ Da geht es um Heilung und Heil, um Befreiung und Gerechtigkeit, um Würde und Leben in Fülle für alle Menschen, um Frieden und Versöhnung, um neue Schöpfung und das Reich Gottes, zusammengefasst um: Evangelium – gute Neuigkeiten. Dieser Hinwendung zum Menschen in der Selbstsendung Gottes lässt sich in der heute bewussten Bedrohungslage des gemeinsamen Hauses Erde ohne Umstände auf die ganze Schöpfung ausdehnen und zum Beispiel über die Hoffnung der ganzen Schöpfung auf das Offenbarwerden der Kinder Gottes auch biblisch anschließen. Gott ist entschieden. Sein Wille für Menschen und Erde ist eindeutig. Dieser Wille ändert sich auch nicht. Gott ist wirklich entschieden.

Das inkarnatorische Prinzip: Erlösung durch Menschwerdung

Und deshalb ist Gott beständig und schon immer für diese selbstgegebene Aufgabe aktiv. Er nutzt dafür die verschiedensten Formen der Offenbarung – das Gesetz und die Propheten – und handelt durch seinen Geist, alttestamentlich gesprochen durch seine Weisheit, auch weit über die Gemeinschaft der Glaubenden hinaus. In Christus ist Gott Mensch geworden, indem er „Fleisch“ geworden ist. Das griechische Wort „sarx“ steht für die ganze vergängliche Materie. In der Menschwerdung hat Gott sich materialisiert. Dieses „inkarnatorische Prinzip“ ist grundlegend, um zu verstehen, wie Gott handelt. Er agiert nicht an den Naturgesetzen vorbei, er schafft nicht einfach neue Wirklichkeit durch sein wirkmächtiges Wort, sondern er geht den Weg der Menschwerdung, der Annahme des Vergänglichkeit und Begrenztheit. Durch das Leben, Sterben und die Auferweckung Jesu setzt er seine Selbstsendung in die Tat. Als Auferstandener nimmt Christus seine Jünger/innen – und damit alle, die ihm folgen, zu allen Zeiten – mit in seine Sendung und gibt ihnen seinen Geist, sein Lebensprinzip, als Kraft und Orientierung. Durch sie, durch seinen kommunitär-sakramentalen Leib, wirkt er im Sinne seiner Selbstsendung weiter. Die Sendung Jesu ist die Sendung der Christ/innen.

Christsein versteht sich in dieser Perspektive als Teilnahme an der Selbstsendung Gottes. Diese geistliche Partizipation ist die Grundlage allen Handelns. Die Christ/innen leben und wirken für das Evangelium vom Reich Gottes für alle Menschen und das gemeinsame Haus Erde. Deshalb kommen sie zusammen. Die allgemeine Berufung aller Christinnen und Christen ist apostolisch – griechisch für gesandt. Christsein und apostolisch sein, das heißt aus der Sendung heraus zu leben, ist identisch. Diese apostolische Berufung geht alle an: jede und jeden Einzelnen, aber auch Gruppen, Gemeinschaften, Gemeinden… und als Gesamtheit des Leibes Christi, das ganze pilgernde Gottesvolk.

Dabei sind auch die Christ/innen dem gleichen inkarnatorischen Prinzip verpflichtet. Sie sind gerufen „von innen heraus“, mitten in den Herausforderungen und Konflikten der Gesellschaft, mit den je zur Verfügung stehenden materiellen und geistigen Mitteln, an ihrem partikularen Ort zu handeln und dabei in jedem Moment das universale Gute – das Reich Gottes des Friedens, der Versöhnung und Gerechtigkeit – im Blick zu behalten und anzustreben.

Was Gott grundsätzlich will, ist nicht schwer herauszufinden, denn das Gesetz, die Propheten und Jesus sprechen in klaren Worten darüber. Gottes Wille ist eindeutig. Er ist entschieden. Wie aber dieser allgemeine Wille heute inkarnatorisch umzusetzen sein könnte, darüber gibt es kein gesichertes Wissen. Welcher Weg, welches Handeln liegt heute in der Linie der Selbstsendung Gottes? Fast immer kann man dazu sehr verschiedener Meinung sein. Nie ist es eindeutig und wer behauptet, es sicher zu wissen, hat Gott ebenso sicher verfehlt und redet letztlich übergriffig und missbräuchlich.

Äußere und innere Hilfe

Als äußere, materiale Hilfen, um den Willen Gottes ins Heute zu bringen, liegen die schriftliche Offenbarung und die Tradition der Kirche vor. Jesus gut zu kennen, seine Optionen, seine Lebensmaxime, sein Empfinden meditiert zu haben, ist wesentlich für Christ/innen. Aber natürlich stehen im Neuen Testament keine Antworten auf die konkreten Fragen unserer Zeit. Alles muss übersetzt, inkulturiert und adaptiert werden. Diese Situation ist jedoch nicht neu, sondern das Existential der Kirche mindestens seit der Himmelfahrt Christi. Die Zusage Jesu aber: „Ich lasse Euch nicht als Waisen. Ihr werdet den Heiligen Geist empfangen“ gilt auch heute und ist die innere Hilfe, die allen Christ/innen zugänglich ist. Was aber nicht dazu führt, dass alle einer Meinung wären, sein könnten oder müssten. Im Gegenteil, der Geist Gottes verbindet sich mit jeder Lebensgestalt, Biographie und Prägung der Glaubenden und schafft auf diese Weise ganz unterschiedliche, oft sich widersprechende Wirklichkeiten, Vorstellungen und Ideen, die dennoch alle als geistgegeben und geistgeführt anzusehen sind.

Es gilt also auf den Geist Gottes, der in allen Glaubenden präsent und aktiv ist, hin zu horchen. Er ist zwar nicht direkt zu beobachten, doch die ganze geistliche Tradition geht davon aus, dass er „Spuren“ hinterlässt, die wahrgenommen, entschlüsselt und gedeutet werden können. Diese Spuren des Wirkens des Geistes finden sich im Erleben und der inneren Verarbeitung der Erfahrungen in jeder und jedem. Sie finden sich aber auch als Zeichen der Zeit hineingewoben in die Bedingungen des Alltags und als Fremdprophetien, im Handeln und Sprechen anderer Menschen. Sie finden sich im Leben und Zusammenwirken von Gruppen, Gemeinschaften, Gemeinden… die aus dem Glauben heraus zu reden und handeln suchen und in der Heiligen Schrift, den Traditionen, den liturgischen und sakramentalen Vollzügen der Kirche. Das Horchen ist also vierfach: nach innen auf die „Regungen und Bewegungen der Seele“, auf Empfindungen, Träume, innere Bilder…, in die Situation mit ihren materiellen und gesellschaftlichen Bedingungen, Abläufen und Perspektiven, auf die anderen Christinnen und Christen, die miteinander nach dem Weg Jesu suchen, und auf die verschiedenen Quellen der Offenbarung mit der Heiligen Schrift im Zentrum.

Dieses Horchen erfordert längere Phasen der Achtsamkeit, immer wieder Unterbrechungen, viel Gespräch und geistlichen Austausch. Niemand weiß, was aktuell der richtige Weg ist, um den an sich bekannten Willen Gottes umzusetzen. Alle bemühen sich, eine Ahnung zu erhaschen. Wegen der ganz unterschiedlichen geistgeführten Ideen kommt es nun ganz selbstverständlich zu Meinungsverschiedenheiten und nicht selten zu Streit. Miteinander zu streiten ist dabei unbedingt positiv zu werten, solange jedenfalls, als sich die Gruppen nicht destruktiv gegeneinander wenden, sondern alle um die beste und hoffentlich eher Gottes Sendung gemäße Lösung ringen. Die allgemeine apostolische Berufung aller Glaubenden verlangt die Bereitschaft, gemeinsam nach der besten Lösung für alle zu streben und dafür eigene Vorstellungen zurückzustellen. Die geistliche Tradition nennt diese Haltung „Indifferenz“.

Unterscheidung der Geister

Selbstverständlich ist das Streiten jedoch nicht das Ziel. Es ist ein manchmal notwendiges Mittel. Ziel ist die konkrete und alltagspraktische Partizipation am der Sendung Gottes. Es gilt also abzuwägen, welcher Weg eher in der Linie der Bewegung Gottes liegen könnte, welches Handeln eher an seine Optionen anschließt. Die geistliche Tradition hat hierfür das Instrument der Unterscheidung der Geister entwickelt. Zentral dabei ist die Frage nach dem „Trost“. Damit ist nicht das Gegenteil von Trauer gemeint, sondern ein Gespür für Authentizität, Stimmigkeit und Resonanz. Neutestamentlich klingt dieses Empfinden an, wenn die Evangelien im passivum divinum formulieren: „Es muss so sein!“ Zugleich geht Trost mit der Erfahrung von Kraft einher. Es entsteht eine Handlungsoption, die irgendwie passt – und der/die einzelne Christ/in oder die Gruppe erlebt sich als lebendig, kraftvoll, wach. Ist „Trost“ zu spüren, dann gibt es eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass die Handlungsoption an die Selbstsendung Gottes anschließt. Manchmal geschieht es sogar, dass dann ein Überschuss an Kraft und Dynamik in die Verwirklichung fließen, die so aus den gegebenen Umständen heraus nicht einfach zu erklären sind. Das Neue Testament spricht von der Kraft des Evangeliums, der Kraft des Heiligen Geistes oder der Kraft des Wortes Gottes. Das Erleben von Trost lässt sich immer mit einem Mehr an Glaube, Hoffnung und Liebe in Beziehung setzen. Leichter zu erspüren sind oft die Früchte des Heiligen Geistes: Liebe, Freude, Friede, Langmut, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut und Selbstbeherrschung. (Gal 5, 22-23). Oder die Trias: ein Mehr Leben, Freiheit und Mündigkeit – für alle Beteiligten und Betroffenen.

Dieses erste Kriterium, das die Frage nach dem Trost leiten kann, genügt meist schon als Orientierung. Hinzutreten kann, wenn eine Person oder Gruppe länger auf einem Weg geistlicher Auseinandersetzung und Aneignung unterwegs ist, ein Gespür für die individuelle Berufung, die die allgemeine Berufung aller Christinnen und Christen zur Teilnahme an Gottes Selbstsendung präzisiert und konkretisiert. Diese individuelle Berufung setzt sich aus den Talenten und Charismen des Einzelnen oder der Gruppe, aus dem Selbstverständnis und der Aufgabenstellung, aber auch aus einer entdeckten Verheißung gelingenden Lebens und glückenden Engagements zusammen. Sie ist die große Vision, die durch den Geist Gottes über und in eine/n einzelne/n Christ/in oder eine Gruppe von Glaubenden gelegt wird. Trost wird erlebt, wenn die gefundene Handlungsoption beiden Kriterien entspricht: dem Mehr Glaube, Liebe und Hoffnung und einem Mehr im Anschluss an die eigenen Berufung, Vision und Verheißung.

Da die Selbstsendung Gottes für die Menschen und die Erde sich in Jesus Christus materialisiert und konkretisiert hat, tritt als drittes Kriterium die Nachfolge hinzu. Schließt eine Handlungsoption an Leben, Lehre, Lebensschicksal… Jesu an? Passt es zu seinem ganzen Leben, Sterben und Auferweckt- werden? Folgt sie seinen Optionen und seiner Praxis: Vorrang der Armen, Vorrang des Menschen vor dem Gesetz, Vorrang konsequenter Solidarität vor dem Einsatz von Machtmitteln? Zum inkarnatorischen Prinzip? Die Vertrautheit mit Jesus, die sie erleben und die Prägung, die Einzelne und Gruppen in der Nachfolge erfahren, indem sie heute geistlich als Schülerinnen und Schüler Jesu leben, vervollständigt die apostolische Partizipation an der Selbstsendung Gottes: Anteil an der Sendung – in der Weise der eigenen Berufung – geprägt von den Geheimnissen des Lebens Jesu und mit ihm vertraut.

Wie die Jüngerinnen und Jünger Jesu sich nach Kreuz und Auferstehung noch einmal neu finden mussten, so geschieht es auch auf zeitgenössischen Wegen der Nachfolge. Es kommt der Punkt, wo Jesus als Modell und „Anführer“ zurücktritt und seine Gefährtinnen und Gefährten auf eigenen Füßen weiterschickt. In den Evangelien wird dieses Geschehen vorweggenommen in der Aussendung der zweiundsiebzig Jünger/innen. Für alle Glaubenden reale Wirklichkeit und unvermeidliche Notwendigkeit wird es nach der Himmelfahrt. Aus Jünger/innen, aus Schüler/innen, werden Apostelinnen und Apostel – eigenständige Gesandte, die aus ihrer Vertrautheit mit Jesus heraus seine Sendung weiterführen. Dazu wird ihnen vom Auferstandenen als Hilfe der Heilige Geist gegeben. Sie bekommen Anteil an der Vollmacht Jesu – exemplarisch in der Vollmacht, Sünden zu vergeben. Sie sind nun in der Verantwortung, den Weg Jesu dort weiter zu gehen, wo er nie gegangen ist. Schon in der ersten Generation führt sie dieser Weg zu den Heiden, weit über den historischen Wirkungskreis Jesu hinaus.

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