Nach einem Erdbeben reißt ein Bagger ein zerstörtes Kirchengebäude ab – das kann ein Sinnbild für die Auseinandersetzung, die Überlebende geistlichen Missbrauchs leisten müssen, um wieder einigermaßen “normal” leben zu können. Erste Erfahrungen lassen vermuten, dass es dabei Phasen gibt.

Etappen eines Gesundungsprozesses nach spiritualisiertem Machtmissbrauch

Text: Peter Hundertmark – Photo: marcellomigliosi1956/pixabay.com

Spiritualisierter Machtmissbrauch schädigt die Betroffenen sehr schwer. Viele Betroffenen leiden viele Jahre – manche lebenslang – körperlich, seelisch-emotional, in ihrer Beziehungsfähigkeit und in ihrer Gottesbeziehung. Spiritualisierter Machtmissbrauch dringt in alle Bereich der Persönlichkeit ein und zerstört die menschlichen und geistlichen Lebensgrundlagen. Vor allem dann, wenn es nicht ein einzelner Übergriff war, sondern ein/e Betroffene/r länger in einem Kontext oder System gelebt hat, das missbräuchlich agiert, ist der Rückweg in ein stabiles Selbstvertrauen, in gelingende Beziehungen und eine gesunde, lebensförderliche Spiritualität lange, mühsam und von vielen Rückschlägen belastet.

Eine Faustformel lautet: Wenn der/die Betroffene mit guter Unterstützung intensiv daran arbeitet,  braucht es etwa so lange für eine Gesundung, wie er/sie dem missbräuchlichen Kontext ausgeliefert war. Natürlich ist jeder individuelle Weg verschieden, verfügen Menschen über unterschiedliche Resilienz, stützen Begleiter/innen unterschiedlich… aber die Faustformel warnt doch vor der Hoffnung, rasche Erfolge erzielen zu können.

Bei aller individuellen Einzigartigkeit der Aufarbeitung und Gesundung scheint es doch auch Regelmäßigkeiten zu geben. Um diese zu wissen, kann Begleiter/innen und Betroffenen helfen. Natürlich folgen diese Etappen aber nicht einfach schematisch aufeinander.

Eine Warnung vorweg: Vergebung ist kein Ziel dieses Aufarbeitungs- und Gesundungsweges. Vergebung kann sich vielleicht am Ende langer Auseinandersetzungen einstellen, kann und soll aber nicht kurzfristig angestrebt werden. Das würde weder den Betroffenen und ihrem Leid gerecht, noch wäre es recht für die Täter/innen und Verantwortlichen, wenn diese nicht zu ihren Taten stehen.

Denn spiritualisierter Machtmissbrauch ist häufig weder den Betroffenen, noch den Täter/innen und Verantwortlichen bewusst. Alle glauben, ehrlich und richtig Gott zu suchen, ein geistliches Leben zu pflegen, Gemeinschaft zu leben, Normalität zu erleben – und gegebenenfalls andere darin anzuleiten. Sonst würde der Missbrauch nicht funktionieren, handelt es sich bei den Betroffenen doch um Erwachsene, die sich scheinbar auch wehren oder weggehen könnten. Es gibt jedoch oft keinerlei Schuldempfinden bei Täter/innen und Verantwortlichen, und auch die Betroffenen identifizieren sich intensiv mit dem missbräuchlichen System, seinen Werten und Vorgehensweisen.

Aber es entsteht Leid. Leid, das irgendwann eben nicht mehr ignoriert, wegerklärt, individualisiert, spiritualisiert… werden kann. Für dieses Leid wird um Hilfe gesucht – meist zuerst systemintern, dann aber, wenn das Leid weiter zunimmt, auch außerhalb. Dabei kann die Initiative von den Betroffenen, aber auch von Täter/innen und Verantwortlichen ausgehen.

Leiden

Und so ist die erste, oft lange anhaltende Etappe der Gesundung von intensivem, existenzbedrohendem Leid – häufig bei gleichzeitiger Identifikation mit dem Tätersystem – geprägt. Das was schadet, wird durch die erlebte Manipulation oft zugleich für das Richtige und Rettende gehalten. Der Zwiespalt der dabei entsteht, ist existentiell, wird aber lange weiter spiritualisiert oder nur mit der eigenen Unzulänglichkeit des/der Betroffenen erklärt.

In dieser Etappe ist es für Begleiter/innen primär wichtig, die Begleitbeziehung zu stabilisieren. Sie werden dann in ihren Gesprächsinterventionen das Leid fokussieren und die unangemessenen Erklärungsmuster kritisch befragen. Es macht aber keinen Sinn, das missbräuchlich agierende System jetzt schon frontal angehen zu wollen oder den Missbrauch mit dem/der Betroffenen gemeinsam zu analysieren. Das würde oft sogar schaden, denn die Identifikation ist eine wesentliche Bindung an das Leben und hat in aller Krise und allem Leiden doch immer noch auch eine stabilisierende Wirkung.

Es gilt also zuerst andere Stabilisierungen aufzubauen: durch eine verlässliche, nährende Begleitbeziehung, durch ein unterstützendes Umfeld, durch medizinische Hilfe, durch erste Erfahrungen von Selbstwirksamkeit und Selbststeuerung, durch den langsamen Aufbau eines „normalen“ Alltags, durch ein mehr finanzielle Unabhängigkeit… Der/die Begleiter/in darf dabei nicht aus den Augen verlieren, dass sie es mit einem missbräuchlichen System zu tun haben, aber er/sie braucht vor allem Geduld und die Bereitschaft zur Solidarität mit einem/r Betroffenen, der/die noch nicht bereit ist, sich von den schädigenden Einflüssen des missbräuchlichen Systems zu distanzieren.

Identifikationsbruch

Erst wenn durch den/die Betroffene genügend alternative Stabilität und Sicherheit aufgebaut werden konnte, beginnt die Identifikation mit dem missbräuchlich agierenden System brüchig zu werden. Einzelne Personen und ihr Verhalten werden in Frage gestellt, schädigende und förderliche Elemente werden unterschieden, Fehlentwicklungen benannt. Die „Schuld“ verlässt den/die Betroffene, wo sie zuerst gesucht wurde und wandert in Teile des Systems. Und wieder ist es ein längerer Weg, bis bewusst wird, dass es sich eben nicht nur um Fehlverhalten Einzelner handelte, sondern um systemische Zusammenhänge von Machtmissbrauch. Jeder Missbrauch infiziert das ganze System. Das ganze System hat gezielt Manipulationen und Gewalt eingesetzt, sie aber spiritualisiert und damit der Wahrnehmung und Kritik entzogen. Der/die Betroffene war einer geschlossenen Welt ausgeliefert und in sie eingegliedert, die sich selbst durch Missbrauch erhält und den Missbrauch zum Normalfall umgedeutet hat.

In dieser Phase geht es oft langsamer voran, als bei der Echternacher Springprozession, wo auf zwei Schritte vorwärts nur einer zurück folgt. Der/die Begleiter/in wird die schon einmal erarbeiteten Einsichten in Erinnerung halten und versuchen den Blick vom einzelnen Täter auf das systemische Ganze zu weiten.

Benennen

Erst jetzt, in der dritten Phase, sucht der/die Betroffene nach angemessenen Worten, um zu beschreiben, was er/sie in dem missbräuchlichen Kontext erlebt hat. Grenzverletzung, Übergriff, Machtmissbrauch, Gewalt, Ausbeutung, Unterdrückung… sind Worte die der/die Begleiter/in jetzt immer wieder einmal anbietet, um mit dem/der Betroffenen auszuloten, wie das Geschehen angemessen benannt werden kann.

Jetzt schwingt das Selbstempfinden und Gesprächsverhalten des/der Betroffenen oft von einer passiv-depressiv-autoaggressiv-resignativen Stimmung in massiv aggressive Kommunikation um. Dabei kann sich die Aggression durchaus auch an dem/der Begleiter/in entladen, der/die auch… Umso wichtiger ist es, dass sich der/die Begleiter/in früh und nun wieder in aller Ausdrücklichkeit vom missbräuchlichen System, von seinen Täter/innen und Verantwortlichen distanziert. Der/die Begleiter/in bleibt immer radikal auf der Seite des/der Betroffenen, auch wenn diese/r sie aggressiv in ein Gegenüber zu setzen versucht. Der/die Begleiter/in steht ausdauernd und nachdrücklich gegen das missbräuchliche System ein. Es macht dabei wenig Sinn, sich gegen die Aggressionen zu verhalten. Die Aggressionen sind gut, unbedingt notwendig und ein wichtiger Schritt hin zu einer Gesundung, auch wenn sie sich vielleicht öfter im Objekt irren.

Der/die Begleiter/in braucht jetzt unbedingt eine zweite, supervisorische oder praxisbegleitende Gesprächsebene, um sich mit den erlebten Aggressionen auseinander setzen zu können, ohne gegenaggressiv auf den/die Betroffene reagieren zu müssen.

Entmystifizieren

Es kann und wird jedoch nicht beim Benennen bleiben. Es beginnt jetzt oft eine geradezu fieberhafte Zeit, in der der/die Betroffene zu verstehen sucht. Die missbräuchlichen Abläufe werden analysiert, die eigene Geschichte mit dem missbräuchlich agierenden System wieder und wieder durchleuchtet. Immer neue Details und Zusammenhänge werden ans Licht gebracht. Die acht Indikatoren für totalitäre Systeme von Robert Lifton können jetzt hilfreich als analytische Instrumente eingesetzt werden: Milieukontrolle, mystizistische Manipulation, Manipulation der Sprache, religiöses Sondergut, Forderung nach Reinheit, Beichtkult, Doktrin über Person, Bindung der Existenzberechtigung an die Gruppe.

Oft verlieren die Betroffenen in dieser Phase ihren „Glauben“, weil ein heilsamer und menschenfreundlicher Glaube nicht von der erlebten spiritualisierten Manipulation und Gewalt unterschieden werden kann. Dieses Verlieren ist oft notwendig. Es ist für viele ein existentiell wichtiger Schritt der Distanzierung. Das eigene Erleben, die eigenen Werte müssen und werden gegen den missbrauchten Glauben in Stellung gebracht. Nur so kann ein stabiler Selbststand, ein Halt in sich selbst und der eigenen Lebensgestaltung und vielleicht viel später auch ein tatsächlich eigener, „gesunder“ Glaube vorbereitet werden.

Der/die Begleiter/in wird diese Phase der Aufarbeitung unterstützen, zum Beispiel indem er/sie analytische Instrumente zur Verfügung stellt. Wenn der Eifer die Person und ihren gerade mühsam stabilisierten neuen Alltag zu gefährden droht, wird der/die Begleiter/in jedoch versuchen, ein wenig zu bremsen – nicht um die Aufarbeitung zu behindern, sondern um sie in verkraftbare Schritte zu verteilen. Er/sie sollte sich nicht vom „Fieber“ anstecken lassen, nur weil er/sie froh ist, dass die lange Zeit der Uneindeutigkeit und weiterlaufenden Identifikation endlich zu Ende ist.

Den Glaubensverlust dürfen die Begleiter/innen einerseits nicht zu verhindern suchen, denn das was Glaube bei den Betroffenen hieß, hat oft wenig mit dem Glauben des Neuen Testamentes und der Kirche zu tun. Andererseits dürfen und sollen sie persönlich für die Möglichkeit eines lebensfördernden Glaubens und eines wohlwollenden Gottes einstehen. Sie dürfen sich selbst mit ihrem geistlichen Leben sichtbar machen, aber auf gar keinen Fall in dieser Etappe geistliche Übungen welcher Art auch immer den Betroffenen vorschlagen. Die Gefahr, damit das Falsche zu reaktivieren und damit noch mehr Schaden anzurichten, ist zu groß.

Entängstigen

Die Aufarbeitung trägt oft rasch Schicht für Schicht aller bisherigen Gewissheiten, Überzeugungen, Praktiken ab. Zwangsläufig kommen die Betroffenen dadurch in eine Krise der Selbstwahrnehmung. „Wer bin ich überhaupt noch ohne…?“ Darf ich überhaupt sein, wenn ich…? In dieser Etappe schießen existentielle Ängste hoch und können sehr bedrohlich werden. Das ist keine Zeit für Veränderungen. Das stützende Umfeld und die normalen Alltagsabläufe, die zuvor gewonnen wurden, sind jetzt die entscheidende Hilfe.

Der/die Begleiter/in muss in dieser Phase die Möglichkeit einer Suizidgefährdung im Blick behalten und immer wieder einmal ansprechen. Er/sie ist ansonsten Anwalt der Lebensmöglichkeit. Er/sie erinnert an die Selbstwirksamkeitserfahrungen, steht dafür ein, dass Leben auch „ohne“ und „gegen“ gelingend gelebt werden kann. Eventuell informiert der/die Begleiter/in in dieser Phase auch über die Erfahrungen mit Aufarbeitungsprozessen und darüber, dass die derzeitige Erfahrung bei aller Dramatik (nur) ein Durchgang ist.

Es kann helfen, das Erleben und die Selbstzweifel zu entdramatisieren, einzuordnen in ein Normales, in eine Solidarität mit anderen Menschen. Gut verhaltenstherapeutisch kann der/die Begleiter/in einladen, sich zuerst in der geschützten Atmosphäre des Gesprächs und in der vorwegnehmenden Phantasie und dann immer wieder in kleinen, bewältigbaren Schritten einer Wirklichkeit „ohne“ zu stellen. Zu jedem dieser Schritt braucht es jedoch eine zeitnahe Möglichkeit über die Erfahrungen zu sprechen. So kann es jetzt – und erst jetzt – hilfreich sein, zum Beispiel zu einem Tag ohne Stundengebet einzuladen und dann am nächsten Tag im Gespräch die vielfältigen Regungen und Bewegungen, die diese Veränderung bewirkt hat, miteinander anzuschauen. Es gibt kein Verfahren, das stärker und sicherer entängstigt, da die Betroffenen unweigerlich erleben, „dass kein Blitz vom Himmel fährt“.

Enttarnen

Sind die eigenen Ängste eingehegt und die Erfahrung stabil, dass ein Leben „ohne“ das missbräuchliche System und seine manipulativen Interventionen möglich und beglückend sein kann, setzt eine Etappe ein, während derer der/die Betroffene viel investiert, um das System zu enttarnen und dadurch andere Menschen vor dem eigenen Schicksal zu bewahren.

Es macht dabei wenig Sinn, die Täter/innen, Verantwortlichen und Repräsentant/innen des Systems selbst zu konfrontieren. Mangels Schuldempfinden können sie kaum anders als mit Abwehr reagieren. Unbedingt zu vermeiden ist eine direkte, face to face-Konfrontation mit den Täter/innen. Die Wahrscheinlichkeit einer „Niederlage“ und weiteren schweren Schädigung liegt bei nahezu 100 Prozent.

 Der/die Begleiter/in wird den/die Betroffene warnen, dass es zu massiven Gegenreaktionen kommen wird. Vor allem aber wird er/sie den/die Betroffene emotional stützen, wenn es gilt, die Gegenwehr des missbräuchlichen Systems zu ertragen. Missbräuchliche Systeme sind unfair und agieren unfair – und natürlich umso mehr, wenn sie enttarnt und unter Druck gesetzt werden. Es werden vielleicht alle Register gezogen: Verleumdung, juristische Schritte, Beschädigung der Person und ihrer Glaubwürdigkeit, Einfluss auf das Lebensumfeld des/der Betroffenen, soziale Ausgrenzung, finanzielle Attacken… Die wichtigste Hilfe, die die Betroffenen jetzt brauchen, ist die unverbrüchliche und starke Solidarität des ganzen unterstützenden Umfeldes und selbstverständlich des/der Begleiter/in. Diese müssen ihre eigenen Ängste, Unsicherheiten, Betroffenheiten… in der Supervision bearbeiten, aber unbedingt aus der Begleitung und aus aller Öffentlichkeit heraus halten.

Gerechtigkeit fordern

Oft folgt auf das Enttarnen dann das Bedürfnis auch für sich selbst Gerechtigkeit zu erfahren. Die Betroffenen wollen eine Anerkennung ihres Leides, eine Wiedergutmachung, eine Verurteilung der Täter/innen, eine Beendigung des missbräuchlichen Systems… erreichen. Leider lässt das säkulare Rechtsystem Erwachsene dabei weitgehend alleine. Juristisch wird – trotz fünfzig Jahren Forschung über totalitäre und sektoide Gruppierungen – weitgehend davon ausgegangen, dass Erwachsene in der Lage sind, sich missbräuchlichen ideologischen Kontexten zu entziehen.

Auch wenn es wenige ermutigende Erfahrungen gibt, dass wirklich Gerechtigkeit erlangt wurde, ist der Versuch ungemein wichtig, denn er setzt den/die Betroffene in die Handlungsmacht. Er/sie nimmt damit das Heft des Handelns in die Hand. Dadurch wird die innere, introjizierte Macht des Systems und der Täter gebrochen. Der/die Betroffene tritt sichtbar und machtvoll aus dem Opfersein heraus und wird zum/r machtvollen Gegner/in.

Der/die Begleiter/in wird ermutigen, Gerechtigkeit zu suchen und bei Bedarf auch entsprechende Hilfen zu vermitteln suchen. Allerdings darf er/sie weder sich selbst noch dem Begleitenden zu viel Hoffnung auf Erfolg machen. Umgekehrt ist er/sie sehr gefragt, wenn es eben nicht zur Gerechtigkeit kommt, diese Erfahrung mit abzufedern und auszuhalten. Wiederum ist die Solidarität in konkretem Beistand und in emotionalem Mitbetroffensein, die wichtigste Hilfe. Der/die Begleiter/in wird auch versuchen, den/die Betroffene darin zu unterstützen, für die eigenen Erfahrungen, für das erfahrene Leid und die eigene Deutung einzustehen – gerade auch dann, wenn die öffentliche oder juristische Anerkennung versagt wird.

Akzeptieren

Vielleicht gelingt es, dass auf diesen langen Wegen der Auseinandersetzung und Aufarbeitung in den Betroffenen eine Akzeptanz möglich wird. Das darf erhofft, aber durch den/die Begleiter/in nie aktiv angestrebt werden. Es ist die Akzeptanz, dass die Erfahrungen des spiritualisierten Machtmissbrauchs Teil der eigenen Geschichte sind, nicht die Akzeptanz des Missbrauchs oder der Täter/innen und Verantwortlichen. Die Betroffenen sind und bleiben immer Überlebende des Missbrauchs. Aber sie sind nicht nur das, sondern viel mehr. Sie sind Menschen, die sich nach und nach ein neues Leben, neue Beziehungen, neue Sicherheit… aufgebaut haben. Sie sind Menschen mit vielfältigen Begabungen, mit Freuden und Sorgen… und mit der Erfahrung, Machtmissbrauch erlebt und überlebt zu haben.

Die Begleiter/innen sind jetzt behutsam, vorsichtig und stehen für eine gesunde Langsamkeit. Die Akzeptanz darf nicht zu früh kommen, quasi als „Abkürzung“ um die vorhergehenden Etappen und Auseinandersetzungen zu vermeiden. Sie werden also eher bremsen, skeptisch nachfragen, auf wirkliche „Erdung“ prüfen helfen. Besonders kritisch sind Bedürfnisse aufzunehmen, den Täter/innen zu vergeben. Nicht selten und unter dem Anschein des Guten und Frommen, schlagen auf diese Weise die Manipulation und der Missbrauch noch einmal zu. Vergebung setzt die Reue und die Veränderungsbereitschaft des/der Täter/in voraus. Wenn diese fehlen und nicht zu erlangen sind, ist Vergebung nicht dran und kontraproduktiv.

Allerdings kann es sehr sinnvoll sein, dass der/die Betroffene sich selbst vergibt, in den missbräuchlichen Kontext hineingeraten zu sein und nicht in der Lage gewesen zu sein, sich selbst zu schützen. Das hat viel mit einer gesunden Akzeptanz und wenig mit einer faulen „Vergebung“ für uneinsichtige Täter/innen zu tun.

Vielleicht stellt sich dann auch eine Vergebung ein, die das Menschenmaß überschreitet, die auf die fehlende Genugtuung verzichten kann… und doch echt, existentiell und geerdet ist. Aber das ist eben nicht mehr Menschenwerk und kann und darf nicht „hergestellt“ werden.  Dann sind aber lange Wege der Auseinandersetzung und Akzeptanz schon begangen worden.

Gesunde Spiritualität

Er jetzt, frühestens jetzt, wenn eine große Distanz zum missbräuchlichen System und eine gewisse Akzeptanz der Erfahrungen als Teil der eigenen Geschichte erreicht ist, kann, wenn denn durch den/die Gesprächspartner/in gewünscht, damit begonnen werden, wieder eine eigene, diesmal lebensförderliche, selbstbestimmte Spiritualität aufzubauen und den Glauben wieder zu gewinnen. Es ist aber ein „neu zum Glauben kommen“, kein Anknüpfen und folgt deshalb der Logik initiatischer Erfahrung.

Der/die Begleiter/in kann jetzt gefragt sein, neue Zugänge zu einem geistlichen Leben zu erschließen. Das ist wieder eine große und diesmal schöne Aufgabe. Die Betroffenen haben ein Anrecht auf lebensförderliche Spiritualität, ein Anrecht auf sicheren Grund im Glauben und ein Anrecht, den wohlwollenden Gott und Vater Jesu Christi zu suchen. Sie brauchen ein gesundes, geerdetes geistliches Leben und eine frohmachende und hoffnunggebende Theologie vielleicht mehr als jeder andere.

Aber der/die Begleiter/in sollte gewarnt bleiben, denn gerade das Glück, den Glauben wieder zu finden, kann zu Kurzschlussreaktionen führen und dazu, dass der/die Betroffene wieder in missbräuchliche Kontexte gerät. Er/sie wurde zum Opfer spiritualisierten Machtmissbrauchs, weil er/sie mehr Jesus nachfolgen wollte. Wenn dieser in sich gute und förderungswerte Wunsch nun wieder an die Oberfläche kommt, ist die Gefahr auch wieder da. Die Gefahr kann sich sogar in die sonst erprobten und bewährten Übungen des/der Begleiter/in hinein „schleichen“. Der/die Begleiter/in wird also sorgsam hinschauen, welche Schritte unternommen werden sollen, geistlich zu unterscheiden suchen, die Wirkungen eigener Interventionen sehr kritisch beobachten, eventuell warnen oder versuchen, falschen Schritten zu widerstehen.

Die Wirklichkeit der Auseinandersetzung mit spiritualisiertem Machtmissbrauch ist noch wesentlich langwieriger und komplizierter, als dieses Phasenmodell auf den ersten Blick scheinbar nahe legt. Immer wieder werden die Betroffenen weit zurück geworfen. Immer wieder muss die Aufarbeitung unterbrochen werden, weil die Kraft für den nächsten Schritt nicht reicht. Manchmal bleibt die Gesundung stecken. Manchmal kehren Menschen sogar lieber wieder in missbräuchliche Kontexte zurück. Aufarbeitung ist harte Arbeit. Sie kann von Hoffnung getragen sein, hat Chancen, aber es bleibt harte, steinige, oft Jahre in Anspruch nehmende Arbeit.

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