Machtmissbrauch in vielfältigen Formen – sexualisierte Gewalt, finanzielle Skandale, spiritualisierte Manipulation… – erschüttert seit Jahren die Kirche in Deutschland. Höchste Zeit nachzudenken, wie denn gute, verantwortliche Machtausübung in kirchlichen Gemeinden, Gruppen, Gemeinschaften… beschrieben werden könnte. Ein Versuch in dreiunddreißig Thesen.

Gute geistliche Leitung

Text: Peter Hundertmark – Photo: geralt/pixabay.com

  1. Geistliche Leitung ist zunächst einmal einfach Leitung und muss alles leisten, was legitim von guter Leitung erwartet werden kann: einen Orientierungsrahmen geben, das Zusammenwirken der Vielen möglich machen, die Ausrichtung auf das gemeinsame Ziel einfordern, die Beiträge der Einzelnen anerkennen und wertschätzen, rechtskonformes und ethisches Handeln vorgeben, die Schwächeren und das Neue schützen, die Entscheidungen treffen, deren Umsetzung dann alle zusammen angehen, sich hinter diejenigen stellen, die hart angegangen werden, nach außen vertreten und den Kopf hinhalten, für das was alle oder auch nur einer getan hat, Verantwortung übernehmen und Konsequenzen ziehen. Gute Geistliche Leitung setzt die Fähigkeit zu guter Leitung voraus.
  2. In geistlichen Kontexten – Bewegungen, Gemeinschaften, (Glaubens-)Gruppen, Pfarreien, Gemeinden, kirchlichen Gremien und Teams… bekommt Leitung durch den Kontext eine spezifische Prägung und „Farbe“. Wie in allen Kontexten ist auch hier Leitung eine Funktion für das Ganze. So hat sie im Kontext christlichen Glaubens dafür zu  sorgen, dass alle Glaubenden ihr in der Taufe verankertes Bürgerrecht des Reiches Gottes ausüben können, durch das sie an den Abläufen und Entscheidungen der Kirche für Menschen und Erde mitwirken und so an der Sendung Christi teilhaben.
  3. Geistliche Leitung ist dabei unbedingt dem Geist Gottes und dem Evangelium im Reden und im Tun verpflichtet. Sie ist deshalb nie die erste und nie die wichtigste Funktion im Geschehen von Kirche und relativiert deshalb sich selbst und ihre praktische Bedeutung stetig selbst.
  4. Entsprechend achtet geistliche Leitung darauf, die doppelte Transparenz von Kirche – auf Gott und zu den Nöten der Menschen und der Erde – offen zu halten. Sie verweist stets auf das Wirken des Geistes und bemüht sich so zu leiten, dass der Geist Gottes in den organisationalen und organisationsentwicklerischen Abläufen eine aktive Rolle spielen kann. So versucht sie umzusetzen, dass Jesus Christus selbst, und keine menschliche Instanz, das Haupt der Kirche ist.
  5. Geistliche Leitung privilegiert das aktuelle und oftmals überraschende Handeln Gottes über die kirchlichen Gewohnheiten. Sie ist im Sinne des „semper reformanda“ stets kritisch zu den konkreten, historisch bedingten Ausformungen von Kirche, ihren Abläufen, Traditionen und Festlegungen.
     
  6. Der Geist Gottes ist allen Getauften gegeben. Die Christinnen und Christen sind die, die den Geist haben. Geistliche Leitung steht auf der organisatorischen Ebene dafür ein, dass wirklich alle Getauften Geistträger/innen sind und deshalb alle in die Entscheidungsprozesse einzubeziehen und zu hören sind.
  7. Das Wort Gottes, das jetzt die Gemeinschaft orientiert, stärkt und mit Energie erfüllt,  kann jeder/m Glaubenden anvertraut sein. Niemand kann vorher wissen, wer es diesmal sein wird. Der Geist hält sich an keine Hierarchien, nutzt nicht immer die Erfahrenen als Sprachrohr, ist nicht selten den Stillen innerlich. Gottes Kraft ist in den Schwachen mächtig. Geistliche Leitung erinnert alle an diese Erfahrung.
  8. Geistliche Leitung weiß darum, dass Gott zu seinem Volk immer wieder auch durch Fremdpropheten, durch Stimmen von außen, durch gesellschaftliche Entwicklungen und die Zeichen der Zeit spricht. Sie hält nach solchen Zeichen Ausschau und leitet alle an, in dieser Wachsamkeit zu bleiben.
  9. Mit der Taufe ist der Geist allen zugesprochen. Sein Wirken zu erschließen, muss jedoch erst erlernt werden. In jeder Situation neu und in jeder Lebensphase anders muss das Wirken Gottes erspürt und in verantwortliches Leben und Handeln umgesetzt werden. Glauben ist ein lebenslanger Reifungsprozess. Jede und jeder muss diese Herausforderung selbst bewältigen. Geistliche Leitung bemüht sich, günstige Rahmenbedingungen für das geistliche Leben und die geistlichen Lern- und Reifungsprozesse der Glaubenden zu schaffen.
  10. Sie ist dem geistlichen Selbstbestimmungsrecht aller verpflichtet und strebt in allem Handeln danach, die Freiheit der Christinnen und Christen, ihre geistliche Mündigkeit und geistliche Selbstwirksamkeit zu fördern.
  11. Geistliche Leitung schafft also für die Glaubenden Räume und Gelegenheiten, Erfahrungen gemeinsam anzuschauen, auszuwerten, zu besprechen und einzeln und gemeinsam nach dem Wirken und Willen Gottes in den Dingen und Begegnungen zu fragen. Sie hält diese Räume des Gesprächs auch für Suchende und Nicht-Glaubende offen. Auch fördert sie Experimente, die je neu nach dem besten Beitrag hin auf das Reich Gottes suchen. Diese öffnende Funktion von Leitung in der Kirche findet sich schon in einem traditionellen Bild: Petrus sind die Schlüssel zum Reich Gottes anvertraut, damit er öffnen kann.
  12. Geistliche Leitung erträgt es selbst und hilft es zu ertragen, dass Leerstellen bleiben, sinnvolle Dinge nicht getan werden können, Erfolg ausbleibt, die Not die vorhandenen Ressourcen übersteigt, Zeiten des individuellen und kommunitären Misstrostes sich einstellen, Pläne, Verantwortlichkeiten, Bindungen scheitern, Brüche geschehen und nicht repariert werden können, Krankheit und Tod zum Leben der Glaubenden und der Kirche gehören. Sie gibt der Solidarität mit den Armgemachten und Leidenden hohe Priorität.
  13. Der Geist Gottes wirkt nicht punktuell und interventionistisch „von außen“, sondern inkarniert in der Kirche und auf die Kirche ein. Er stößt Prozesse der Selbstvergewisserung, der Rückbindung an das Evangelium, der Neuorientierung an den Zeichen der Zeit an. Geistliche Leitung hat es folglich primär mit kommunitären (Gesprächs-)Prozessen zu tun. Diese Prozesse erfordern eine dreifache Achtsamkeit: auf die äußeren Fakten und Bedingungen, auf die inneren Regungen der Einzelnen und die Dynamik in der Gemeinschaft und auf die Selbstmitteilung Gottes in der Heiligen Schrift, in Tradition, Lehre und Liturgie, wie im aktuellen betenden Erleben der Glaubenden.
  14. Es ist deshalb sehr angemessen, Geistliche Leitung zuerst als ein Prozessgeschehen und nicht als Funktion einer oder mehrerer Personen zu verstehen. Geistliche Leitung geschieht in geistgeführten, ergebnisoffenen, aber zielorientierten Prozessen in der Nachfolge Jesu.
  15. Direkte Folge ist, dass potentiell alle Geistträger/innen Anteil am geistlichen Leitungsprozess in einer Gemeinde oder Gemeinschaft haben. Spezifische Leitungsfunktionen und –aufgaben hingegen werden in der Kirche immer subsidiär übertragen, das heißt sie dienen dazu, dass alle Glaubenden ihre Beiträge partizipativ in das große geistliche Leitungsgeschehen der Kirche einbringen können.
  16. Zentraler Vollzug der gemeinsamen geistlichen Leitung ist die gemeinschaftliche Unterscheidung der Geister, bei der die Gemeinde oder Gruppe zu erspüren und zu ergründen sucht, durch welche Impulse der Geist die Glaubenden jetzt mit der Sendung Jesu verbinden will.
  17. Der Prozess geistlicher Leitung setzt bei allen Mitwirkenden ein Bemühen um Indifferenz voraus. Indifferenz meint in diesem Zusammenhang, das universale Gute des Heilshandelns Gottes hier und heute für alle Menschen und das gemeinsame Haus Erde über alle partikularen Interessen, Abhängigkeiten, Gewohnheiten und Loyalitäten zu stellen. Indifferenz ist immer zukunftsorientiert und macht deshalb bereit, in jedem „jetzt“ neu zu handeln, wenn sich die Bedingungen verändert haben. Geistliche Leitung setzt Indifferenz voraus und fördert sie nach Kräften.
  18. Gemeinsame Unterscheidung ist dabei immer konsensorientiert, geht es doch nicht um die Durchsetzung partikularer Interessen, sondern unter den Bedingungen möglichst grundlegender Indifferenz um das universale Gute. Die subsidiär übertragene Leitungsvollmacht formuliert diesen gefundenen Konsens, nimmt ihn entgegen, setzt ihn in Kraft, sorgt für seine Umsetzung und später auch für die notwendige Evaluierung in erneuten kommunitären Unterscheidungsprozessen.
  19. Unterscheidung der Geister bedeutet jedoch auch, die Kräfte zu benennen, die dem Wirken des Geistes Gottes entgegenstehen. Auch daraus muss geistliche Leitung Konsequenzen ziehen, Grenzen setzen und Klarheit schaffen.
  20. Geistliche Leitung agiert also prophetisch im doppelten Sinne des Wortes: Sie denunziert alle Formen der Menschverachtung, Ausbeutung, allen Machtmissbrauch, alle Übergriffigkeit und Gewalt – und sie kündet vom Reich Gottes und seiner Ethik, von der Hoffnung über den Tod hinaus und der Erlösung von allen Abhängigkeiten und Begrenzungen.
  21. Geistliche Leitung – als kommunitärer Prozess und als übertragene Verantwortung – übt die „Cura Personalis“ aus, was mit „Personalverantwortung“ nur unzureichend übersetzt ist. Vielmehr geht es darum, dass die Leitung die Talente und Charismen der Glaubenden fördert, sie bei Bedarf benennt und bestätigt, sie zu unterscheiden hilft. Geistliche Leitung müht sich, das Verständnis für die Charismen zu stärken – insbesondere für die weniger alltäglichen Geistesgaben. Sie sucht die Charismen in das Handeln der Kirche zu integrieren, Kirche von den Charismen her zu gestalten. Das heißt, sie gibt den Charismenträger/innen eine Sendung, betreut die praktische Ausübung dieser Sendung, gibt Feedback, sorgt für die Einhaltung der Grenzen und den Selbstschutz der Personen.
  22. Geistliche Leitung sucht Menschen, Glaubende und Nicht-Glaubende, für eine tiefergehende Ausrichtung an Jesus Christus zu gewinnen, in dem sie in die Schule Jesu – in die Jüngerschaft – ruft. Sie setzt entsprechend für das „Rückgrat“ von Kirche auf diejenigen, die sich in ihrem Leben immer mehr von Jesus, von seinem Evangelium, von seinem Leben, Sterben und Auferstehen prägen lassen wollen.
  23. Geistliche Leitung ist jedoch strikt von der geistlichen Begleitung einer Gruppe oder Gemeinde zu unterscheiden. Sie agiert geistlich, aber im „forum externum“, das heißt sie greift nur Dinge auf, die von den Glaubenden öffentlich gemacht werden. Alle Dinge, die in primär seelsorgerlichen Einzelgesprächen oder im persönlichen geistlichen Austausch in Gruppen mitgeteilt werden, unterliegen der striktesten Diskretion.
  24. Geistliche Leitung ist selbstreflektiert, selbstkritisch, nimmt Feedback und kritische Rückmeldungen an und fordert in der Gemeinschaft oder Gruppe eine Kultur der Selbstreflexion und des Feedback ein. Sie sorgt dafür, dass Konflikte angesprochen, fair und transparent ausgetragen werden. Sie engagiert sich gegen alle Vorverurteilungen, alles Mobbing, alles Gerede „hinter vorgehaltener Hand“, alle verdeckten Koalitionen und sachfremden Loyalitäten.
  25. Geistliche Leitung fördert spirituelle Bildung, theologische Kritikfähigkeit und ein informiertes Urteil – gerade auch über alle internen Festlegungen und Gewohnheiten der Gruppe. Sie widersetzt sich jeder Schließung der Kommunikation und ihrer Begrenzung auf die eigene Gruppe, fördert den Austausch mit Menschen anderer Überzeugungen, die theologische Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Traditionen und Meinungen, sowie das geistliche Gespräch über die eigene Gemeinschaft hinaus. Sie sorgt dafür, dass die natürlichen Bindungen der Familie und Freundschaft gepflegt werden können, auch wenn sie über die Gruppen und Gemeinschaft hinausweisen.
  26. Geistliche Leitung widersetzt sich jeder Verwechslung der eigenen oder einer anderen Stimme mit der Stimme Gottes. Sie widersteht jedem geistlichen Machtmissbrauch, jeder Einschränkung der Freiheit der Christenmenschen, jeder Gewalt gegen Menschenwürde und Menschenrechte.  Sie verweigert sich selbst und wehrt allen Versuchen der Manipulation, der Gedankenumbildung und selbst- oder fremdschädigenden Programmierung.
  27. Sie bewegt sich immer und in allen Bezügen im Rahmen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung und des Rechtsstaates. Sie ist Gott, allen Mitgliedern und Betroffenen, den übergeordneten kirchlichen Stellen – konkret zumindest auch dem Diözesanbischof, staatlichen Autoritäten und der Zivilgesellschaft gegenüber Rechenschaft schuldig.
  28. Sie folgt in allem Tun den Werten der Transparenz, Gerechtigkeit und Partizipation. Entscheidungen werden protokolliert und öffentlich allen zur Verfügung zu gestellt. Jeder/m Mitglied und Betroffenen stehen interne und externe Beschwerde- und Klagewege offen und sind leicht zugänglich.
  29. Geistliche Leitung wendet die kirchenrechtlichen Normen, die approbierten Statuten der Gemeinschaft, die Auflagen der kirchlichen Autorität bzw. das Ordensrecht konsequent an. Sie schützt besonders die verletzlichsten Mitglieder und Betroffenen: Kinder und Jugendliche, Schutzbefohlene und Schutzsuchende. Sie besteht auf Prävention und Schutzkonzept. Sie achtet darauf, dass Frauen vor Gewalt und Übergriffigkeit geschützt sind und sich mit gleichen Rechten beteiligen können.
  30. Geistliche Leitung unterstützt aktiv die Aufklärung von Machtmissbrauch und zieht in transparenter Weise auch Konsequenzen. Die Aufklärung darf dabei auch vor den Leitungspersonen niemals Halt machen. Im Ernstfall übernimmt die übertragene geistliche Leitung die „politische“ Verantwortung und stellt ihre Position zur Verfügung.
  31. Sie sorgt dafür, dass Mitglieder sich von der Gruppe distanzieren oder sie verlassen können, ohne dass sie dafür abgewertet oder sozial ausgegrenzt werden.
  32. Subsidiäre geistliche Leitung als Funktion und Auftrag sollte nur Menschen übertragen werden, die selbst geistliche Erfahrungen gemacht und reflektiert haben. Sie setzt ein geistliches Leben im Bemühen um Gebet, Aneignung der Hl. Schrift, liturgischen und diakonischen Gottesdienst voraus.
  33. Geistliche Leiter/innen lassen sich in ihrem persönlichen geistlichen Suchen geistlich begleiten, nutzen Schulungen und Weiterbildungen für ihr Leitungsverhalten, nutzen Supervision und Kollegenberatung, suchen externe Rückmeldungen.
Diesen Beitrag teilen: