“Als ich ein Kind war, dachte und glaubte ich wie ein Kind. Als ich erwachsen geworden war, legte ich ab, was kindlich war” (nach 1 Kor 13,11). Aber wie geht es dann weiter? Wie verändert sich der Glaube im Erwachsenenalter?

 

 

Wenn Glaube sich verändert…

Beitrag von Dr. Peter Hundertmark – Photo: brfcs/pixabay.com

 

Die entwicklungspsychologische Forschung und insbesondere ihre Rezeption in der Praktischen Theologie und Religionspsychologie in den siebziger und achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts hatten ihren Schwerpunkt auf die Entwicklung des Kindes und der Jugendlichen gelegt. Die meisten Theorien sehen nach dem Erreichen des 20. Lebensjahres nur noch sehr große, eher vage Zeiträume und Veränderungen. Eine differenzierte wissenschaftliche Betrachtung der Entwicklung von Erwachsenen, die sich kontinuierlich um ein geistliches Leben bemühen, liegt nicht vor. Aus den Erfahrungen in der geistlichen Begleitung lassen sich jedoch typologische Elemente und Reifungsschritte isolieren und in ein abstraktes Modell umsetzen.

Dabei muss bewusst bleiben, dass Typologien Muster beschreiben und nicht Wirklichkeiten. Niemand entwickelt sich genau auf diese Weise. Keine Entwicklung läuft geradlinig. Nie geht es einfach vorwärts. Zu jeder Zeit sind Rückschritt, Scheitern und Verzicht auf weitere Entwicklung möglich. Jede/r Mensch ist anders. Dennoch erklären Typologien etwas und helfen, eigene Veränderungen begrifflich zu fassen.

Wenn im Folgenden von Entwicklung die Rede ist, dann meint dieser Begriff zuerst ein Geschehen, das sich an und mit den Glaubenden vollzieht. Entwicklung im hier verwendeten Sinn ist nicht Selbstverwirklichung, Optimierung und überhaupt nur in kleineren Anteilen bewusstes Handeln. Bewusst bemühen sich die Glaubenden, ihr Leben aus dem Glauben zu verstehen und zu gestalten. Aus dem Zusammenwirken verschiedener Beziehungsdimensionen – zu sich selbst und dem eigenen Körper, zu den Menschen des nahen Umfeldes, zu Gesellschaft, Zeitgeist und bewegenden Ereignissen, zu Gott, Heiliger Schrift und Tradition – und wesentlich transportiert durch das Älterwerden und die dadurch sich verändernden familiären und beruflichen Aufgaben, entsteht eine Gesamtentwicklung der glaubenden Person.

 

Phasen und Übergänge

Dabei verläuft die Entwicklung nicht einfach linear, sondern kennt längere Phasen stabiler Grundüberzeugungen, dann Phasen des Übergangs und ein Einschwingen in eine neue Phase. Die Dauer der einzelnen Entwicklungsphasen ist dabei einerseits individuell und kann durch Ereignisse im persönlichen Leben oder im Umfeld beeinflusst werden, zeigt aber andererseits auch eine gewisse Konstanz und Vergleichbarkeit. Verschiedene „Marker“ können genutzt werden, um die Phasen typologisch zu beschreiben: Lebenswenden im sozialen Leben (Familiengründung…), körperliche Veränderungen (Midlife-Crisis…) oder, wie hier vorgeschlagen, einfach gleichmäßige Zeitabschnitte. Wenn also von im Weiteren von Fünfzehnjahres-Schritten gesprochen wird, so soll damit lediglich eine Größenordnung solcher Phasen angesprochen werden. Bei niemandem wird die Entwicklung so schematisch verlaufen. Auf gar keinen Fall darf diese Einteilung normativ verstanden werden, als müsse sich pünktlich alle fünfzehn Jahre eine Veränderung einstellen.

Die Übergänge zwischen den Phasen sind Zeiten der Veränderung. Grundlegende Positionen, Weltzugang, Ort und Rolle in Gesellschaft und Glaube wandeln sich. Es sind Zeiten fundamentaler menschlicher und geistlicher Umgestaltung. In Bildworten ausgedrückt: Die Überschrift über das Leben ändert sich. Das Fundament des Lebenshauses wird Stück für Stück ausgetauscht. Es ist ein Wechsel von einem Lebenskontinent zu einem anderen. Das kann fast unmerklich geschehen und erst im Rückblick auffallen. Es kann jedoch auch sehr krisenhaft erlebt werden. Immer aber ist die Persönlichkeit und mit ihr der Glaube in diesen Übergängen, empfindlicher, weicher, weniger geschützt und verlässlich. Dadurch sind die Übergänge leichter aus der Binnenperspektive des Individuums zu beobachten, als die langen Phasen unter einer gemeinsamen „Überschrift“. Hier sind die Zeiträume meist zu lang, um beobachtbar zu sein. Innerhalb der Phase fühlt sich einfach „normal“ an, so zu sein, zu handeln und zu glauben.

Jenseits aller individuellen Unterschiede werden also in typologischer Vereinfachung Entwicklungsphasen von jeweils etwa fünfzehn Jahren postuliert: etwa von 20 bis 35, von 35 bis 50, von 50 bis 65 und jenseits der 65 Jahre. Um beurteilen zu können, ob es eine weitere geistliche Phase mit eigenem Profil jenseits von 80 Jahren gibt, fehlt bisher die Erfahrungsbasis. Die Übergänge zwischen diesen Phasen dauern mindestens Monate, meist aber einige Jahre.

 

Evangelium

Leichter beobachtbar sind solche Phasen, wo sich Glaubende um ein persönliches geistliches Leben bemühen, Zeit und Aufmerksamkeit auf Gottsuche, Aneignung der Heiligen Schrift, Gebet und Gottesdienst aufwenden – und die so gemachten Erfahrungen immer überdenken, gewichten und zu einer individuellen Glaubensbiographie zusammen stellen. Ihre Auseinandersetzung mit den Themen und Herausforderungen des Glaubens ermöglicht es, solche langen Phasen und dazwischen die existentiellen Übergänge zu beschreiben. Hierbei wird im Folgenden eine methodische Konzentration auf die Aneignung und Umsetzung des Evangeliums vorgenommen. Verbindet sich das Evangelium doch in jeder Phase neu mit der Person des/der Glaubenden zu einer Gesamt-Gestalt einer evangelisierten, vom Evangelium geprägten Persönlichkeit.

Zugleich trägt das Evangelium aus sich heraus eine dynamische Komponente in den Glauben hinein. Die Evangelien sind quasi-biographisch aufgebaut und nutzen vielfach das Weggeschehen als strukturierendes Element. Selbst die Auferstehung Jesu wird mit einem Bewegungswort bezeichnet. Entsprechend Christ/innen haben ihren Glauben an das Evangelium von Anfang an als „Weg“ gedeutet. Paulus vergleicht ihn mit einem sportlichen Wettlauf. Die „Heimat“ der Glaubenden liegt in der Zukunft. Advent ist das Wesensmerkmal des Christlichen. Weil das Evangelium jedoch immer voraus liegt, in je neue Umsetzung ruft, einen Lebensweg mit Jesus anregt, greift es in existentieller Weise in die Biographie der Glaubenden ein. Ihre reale Lebensgestalt wird damit zum Kriterium der Zugehörigkeit, ihre menschliche Entwicklung zur Etappe auf dem Weg der Nachfolge.

 

Nachfolge

Der Abschied von der adoleszenten Infragestellung jeglicher Transzendenz, Autorität und Tradition markiert den Beginn der ersten erwachsenen Glaubens-Phase. Die Persönlichkeit hat sich so weit stabilisiert, dass umfassende Sinnzusammenhänge, die nicht vom Subjekt selbst entworfen wurden, wieder zugelassen werden können. Gesucht werden nun realistischere Leitbilder, die dem eigenen Lebensentwurf Richtung oder Korrektur geben können. Jesus wird jetzt zuerst als Modell gelingenden Lebens verstanden. Er verheißt Leben in Fülle. Die Annäherung jedoch ist eher intellektuell, argumentativ, abwägend: „Sagt mir dieser Jesus von Nazareth etwas für mein Leben?“ Jesus ist Rabbi, Meister und „großer Bruder“. Er ruft, in seine Fußstapfen zu treten, nach zu folgen, nach zu ahmen, sein Handeln, seine Optionen und seine Gottesbeziehung in ein Heute zu übertragen. Berufung, im Sinne von Beruf, Lebensform, Stil, Engagement… ist die Herausforderung, die eine glaubende Antwort sucht.

Evangelientexte die viel Resonanz auslösen und unmittelbar existentiell betreffen, sind natürlich die Berufungstexte und alle Texte, die eine klare Position Jesu in Abgrenzung von den Frommen seiner Zeit erzählen – die Bergpredigt allen voran. Der ethische Impuls neutestamentlicher Texte ist in dieser Phase interessant und lädt zur Auseinandersetzung ein. Gebetsweisen, die in dieser ersten Phase leichter zugänglich sind, sind einerseits Anbetung und das meditative oder lobpreisende Singen, das die Ausrichtung auf Jesus stützt und trägt, andererseits das betende Nachsinnen, Erwägen und Unterscheiden. Dieses Sinnen und Unterscheiden fragt nach dem stimmigen, authentischen, wirklich lebendigen, einzigartigen Leben – in der Nachfolge Jesu.

 

Partnerschaft

In den nächsten 15 Jahren von 35 bis 50 tritt der Aspekt der von Christus angebotenen Partnerschaft („Willst Du mit mir gehen…?) ins Zentrum des geistlichen Lebens. Jüngerschaft als prägende Gestalt des Lebens ist die geistliche Herausforderung. Verantwortung für Familie, Welt und Kirche prägt den Alltag. Umkehr und Neuausrichtung beziehen sich auf die Bedeutung der Ich-Identität in der Gestalt des Lebens. Die eigene Stimme – auch im Glauben – ist gefunden und erprobt. Das Ich mit seinen Bedürfnissen kann nun etwas zurücktreten und mehr Raum lassen, Bedürfnisse anderer wahrzunehmen und ihnen eine höhere Priorität als der eigenen Selbstwerdung zu geben.

Geistlich-religiös wächst dadurch die Bereitschaft, andere Formen des christlichen Glaubens, andere Gebetsstile, auch traditionelle Sprache wieder mehr zu akzeptieren und in die eigene Praxis zu integrieren: „Es ist nicht meines, aber es macht dennoch Sinn“. Geglaubt wird mit den Händen, den Füßen und immer mehr auch mit dem Herz. Spiritualität, Gebet, Aneignung der Heiligen Schrift müssen sich zu jeder Lebenszeit im Alltag bewähren, aber in dieser Phase wird dieser Anspruch am deutlichsten gelebt und zum Kriterium erhoben.

Besonders wertgeschätzt werden die Erzählungen aus dem öffentlichen Leben Jesu und hier insbesondere die Texte der Synoptiker. Für Glaubende in dieser Phase geben diese Texte Auskunft darüber, was das Projekt Jesu ist, wie er Optionen setzt, wie er auf Konflikte reagiert, welche Vision für ein gelingendes Zusammenleben er entwirft. Entsprechend werden Gebetsweisen, die helfen die Erzählungen der Evangelien zu betrachten und zu vertiefen, sehr geschätzt. Gottesdienst und traditionelle Gebetsformen bekommen mehr Platz im geistlichen Leben.

Jesus wird als der Herr, als („Senior-„)Partner und zugleich als Freund erlebt. Die Glaubenden bemühen sich in ihrem Handeln die Sendung Jesu für die Welt umzusetzen und erleben dabei und darin, dass sie Anschluss haben an die Kraft des Evangeliums und des Heiligen Geistes. Entsprechend ist dies auch die Phase in der besonders häufig die Charismen nach vorne treten, sichtbar und wirksam werden.

 

Stellvertretung

In der Phase 50 bis 65 Jahren löst sich die Gestalt des Lebens und des Engagements in der Sendung Jesu von der Festlegung auf konkrete, partikulare Formen ab. Die Grenzen der eigenen Gruppe, Zugehörigkeit, Konfession werden weicher. Auch gegensätzliche Positionen können leichter in ihrer Berechtigung wahrgenommen werden. Unauflösliche Spannungen und Paradoxa werden als normale Wirklichkeiten religiöser Konzepte und Traditionen verstanden. Der Umkehrruf lädt ein, Jesus in seiner historischen Vorbildgestalt los zu lassen. Er ist nicht hier – und sogar das Grab ist leer. Christus wird mehr als früher als erhöhter Herr erlebt, der eben nicht mehr als praktisches Vorbild oder für gelebte Partnerschaft zur Verfügung ist. Es geht nun um Stellvertretung – Christus dort zu leben, wo Jesus nie war, die Ausrichtung auf die Königsherrschaft Gottes in völlig neue Lebensbereiche zu übersetzen. Der Ruf Christi wandelt sich in: „Willst Du für mich gehen?“

Mehr als andere Texte der Evangelien tragen und bereichern nun die Auferstehungsberichte das geistliche Leben. Andere biblische, auch alttestamentliche Texte werden versuchsweise aus der Perspektive der Auferstehung gelesen. Viele Glaubende finden erst jetzt einen vertieften Zugang zu den Texten des Johannesevangeliums. Gleichzeitig tritt die zuvor oft recht streng gelebte Disziplin geistlicher Übungen etwas zurück. Die Beziehung zu Christus und Vertrautheit mit Gott geht ständig mit und muss nicht mehr in der gleichen Intensität stetig erneuert werden. Gottesdienste werden wertgeschätzt, aber nach ihrem „Gehalt“ ausgewählt. Der verpflichtende Charakter tritt hingegen weiter zurück; äußerliche, sozialnormierte Motivationen verlieren ihre Plausibilität und ihr Gewicht.

Das Beten wandert mehr nach innen – ins Herz. Dabei gehen zwei mögliche Entwicklungen auseinander. Manche Menschen fühlen sich stark zum kontemplativen, bildlosen und wortarmen Beten hingezogen. Für andere wird Beten mehr noch als bisher ein emotionales Geschehen, das manchmal von starkem Erleben innerer Bilder und innerer Stimmen (natürlich nicht im Sinne von psychischen Erkrankungen) begleitet wird. Emotionalität, Fähigkeiten, Charismen, persönliche Berufung, konkretes Engagement, Partizipation an der Sendung Jesu, alles was das geistliche Leben in praktisches Verhalten umsetzt, wächst im Idealfall zu einer schlüssigen individuellen Gestalt zusammen, die sich manchmal – jenseits aller Beruflichkeit oder gar Weihe – mit den neutestamentlichen Beschreibungen des Auftrags Jesu und der ersten Glaubenden („Munera Christi“) fassen lässt: Apostel/in, Priester/in, König/in, Prophet/in, Evangelist/in, Hirte/in, Lehrer/in, Heiler/in, Diakon/in… Diese Beschreibungen sind innere, geistliche Wirklichkeiten, nicht äußere Würden. Äußere Bestätigungen, Würden, Titel… werden oft sogar ausdrücklich relativiert. Demut wird zur Leit-Tugend dieser Phase.

 

Einheit

Jenseits der 65 tritt parallel zum Ende der Berufstätigkeit und damit des sinkenden Anteils öffentlicher Tätigkeit die Bedeutung praktischen Engagements aus Berufung und Sendung zurück. Gruppenegoismen, exklusive Bindungen an eine Konfession, manchmal auch die eindeutige Festlegung ausschließlich auf christliche Traditionen treten als innere, geistliche Verpflichtung weiter in den Hintergrund. Dem folgt in der Regel jedoch keine äußere Trennung. Der zugefallene und nach und nach erworbene Ort innerhalb der Vielfalt der Religionen, Traditionen und Meinungen wird bewahrt, indem er zugleich relativiert wird.

In dieser Phase nähern sich einige Glaubende dem schon von Paulus beschriebenen und dann in der spirituellen Tradition oft als Ideal vorgestellten „immerwährenden Beten“, wobei gleichzeitig ausdrückliche und ausgegrenzte Gebetszeiten weiter zurück genommen werden. Beten wird ein Geschehen des Körpers, oder in anderer symbolischer Sprache auch der „Seele“, verstanden als die Form des Körpers, als Identität und umfassende Gestalt. Sprache, betender Dialog mit Gott, aktive Aneignung biblischer Texte werden weniger wichtig. Bewusstes Atmen – manchmal verstanden als Verbindung mit dem Lebensatem Gottes, dem Heiligen Geist – hingegen wird bei manchen Gläubigen zum wesentlichen spirituellen Vollzug.

Mystische Texte werden hoch geschätzt, weil sie eine Erlaubnis für und ein Echo auf die eigenen Erfahrungen formulieren. Die großen Hingabegebete der christlichen Tradition (Klaus von der Flüe, Ignatius und andere) haben in dieser Phase eigentlich erst ihren Sitz im Leben. Zugleich wächst die  Gottesvorstellung mancher Glaubender über die personalen Bilder hinaus: Gott als Kraft, Licht, Welt-Mensch-Kosmos umgreifenden und durchwirkende Wirklichkeit – jedoch eben nicht als prä-oder subpersonale, sondern als transpersonale Identität.

Geistliche Herausforderung ist die Einheit mit Christus, mit allen Menschen, mit der ganzen Schöpfung. Die Umwandlung in Christus strebt ihrem innerweltlich möglichen Ziel zu.

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