In der Pandemie musste Geistliche Begleitung über lange Strecken auf digitale Medien – meist auf Videokonferenzen – ausweichen. Siri Fuhrmann und Esther Göbel reflektieren auf Chancen, Grenzen und besondere Bedingungen, wenn Begleiterin und Gesprächspartner nicht physisch im gleichen Raum sitzen.
Geistliche Begleitung – digital
Text: Esther Göbel und Siri Fuhrmann – Photo: /pixabay.com
„Digitalisierung“ ist das Stichwort, das nicht erst seit der Corona-Pandemie in aller Munde ist. Aber die pandemiebedingten Lockdowns, Abstandsregeln und Versammlungsverbote haben uns förmlich dazu gezwungen, Leben und Arbeiten von null auf hundert auf digitale Formate umzustellen. Doch bereits vor der Pandemie waren Computertechnologien selbstverständlicher Teil fast aller Lebensbereiche und haben diese transformiert, vom Smartphone über die Smartwatch bis zum Smarthome, Online-Dating und Google Earth. Auch das Kommunikationsverhalten hat sich durch Social Media längst tiefgreifend verändert. Digitales und Analoges gehen seit geraumer Zeit Hand in Hand und sind kaum noch trennscharf zu unterscheiden.
Wir möchten im ersten Teil daher zunächst Begriffe voneinander unterscheiden, um uns dann philosophisch und theologisch dem Phänomen anzunähern. Im zweiten Teil werden wir schließlich praktische Fragen erörtern und methodische Anregungen für digital basierte Geistliche Gespräche anbieten.
Die Idee zu dieser Arbeit kommt aus den praktischen Erfahrungen der Autorinnen. Sie sammelt Gedanken und Fragen mit dem Versuch einer Systematisierung.[i]
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Digital ist … real
„Aber das ist doch nicht echt?!“ titelt Maria Herrmann in ihrem Artikel über Komplexität und Virtualität als Impulse gegenwärtiger Kirchenbildungsprozesse.[ii]
Lange Zeit galt alles, was sich im Internet oder auf dem Computer abspielte als „nicht echt“. In der Folge bezeichnen immer noch viele alles Digitale als „virtuell“ und die Bezeichnungen für das, was sich da vom „normalen“ und „realen“ Leben auf den Computerbildschirm verschoben hat, gehen wild durcheinander. Daher scheint es uns wichtig, zunächst einige Begriffe zu klären.
Klärung der Begriffe
„Virtuell“ ist das Gegenstück zu „real“
Das Wort „virtuell“ leitet sich ab von lat. virtus = Tugend, Tauglichkeit, Kraft; Virtualität bezeichnet die Eigenschaft einer Sache, nicht in der Form zu existieren, in der sie zu existieren scheint, aber in ihrem Wesen oder ihrer Wirkung einer in dieser Form existierenden Sache zu gleichen. „Virtuell“ sind daher simulierte, künstliche Welten in Computerspielen, die in der Realität so nicht vorhanden sind. Dies trifft auch auf andere animierte Programme wie zum Beispiel „virtuelle Museumsbesuche“ zu. Man geht eben nicht wirklich ins Museum und bewegt sich nicht wirklich „durch ein Süßigkeitenland, um goldene Donuts zu sammeln“, sondern tut dies nur auf dem Bildschirm.
„Digital“ ist das Gegenstück zu „analog“
Digitalisierung ist immer verlustbehaftet, denn wenn ein Signal komprimiert wird, wird das Datenvolumen reduziert, indem das Signal um vernachlässigbare Teile beschnitten wird. Das Wortpaar „analog-digital“ bezieht sich also nicht wie das Wortpaar „virtuell-real“ auf die Existenzweise, sondern auf die Kommunikationsform.
Bei den oben erwähnten Videokonferenzen handelt sich um reale / wirklich stattfindende Gespräche und Konferenzen. Meine Gesprächspartner sind nicht animiert, sondern echte Menschen. Wir befinden uns zwar physisch nicht am selben Ort und können daher nicht direkt von Mund zu Ohr, wohl aber medial vermittelt per Mikrofon und Lautsprecher miteinander kommunizieren. Virtuell können dabei durchaus unsere Hintergrundbilder sein, die uns dabei scheinbar (!) in einem modernen Konferenzraum, am Strand der Karibik oder einer Raumstation im Weltall sitzen lassen.
Werfen wir einen Blick auf das Kommunikationsmodell, mit dem Paul Watzlawick die Interaktion von Menschen beschrieben hat, um sie dann auf die digitale Kommunikationsweise anzuwenden:
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Kommunikationsmodell von Watzlawick
Paul Watzlawick entwickelte ein Modell zwischenmenschlicher Kommunikation, das auf fünf Vorannahmen, sog. Axiomen, beruht:
(1) „Man kann nicht nicht kommunizieren“: jedes Verhalten hat, sobald es von anderen wahrgenommen wird, informativen Charakter. Es ist unmöglich, sich nicht zu verhalten und damit nicht zu kommunizieren.
(2) „Jede Kommunikation hat einen Inhalts- und einen Beziehungsaspekt, wobei Letzterer den Ersteren bestimmt.“: Zunächst stellt eine Mitteilung sich als Information über einen Sachverhalt dar. Gleichzeitig enthält sie aber auch einen Hinweis auf die zwischenmenschliche Beziehung und kann als nicht intentionale und nicht explizite Metakommunikation verstanden werden.
(3) „Die Natur einer Beziehung ist durch die Interpunktionen der Kommunikationsabläufe seitens der Partner bedingt“: Hier zeigt sich deutlich der Grundansatz des Konstruktivismus. Die Kommunikationspartner können sehr unterschiedliche Auffassungen davon haben, was in einer Auseinandersetzung Ursache und was Reaktion ist. Der Mensch „konstruiert“ auf Grundlage der eigenen Wahrnehmung damit auch die jeweils eigene Realität.
(4) „Menschliche Kommunikation bedient sich digitaler und analoger Modalitäten“: Sachverhalte werden einerseits „analog”, sprich durch Analogien wie Gesten und Mimik sowie Symbole oder Bilder dargestellt, deren Bedeutung intuitiv erfasst und verstanden wird, aber andererseits auch „digital“ durch in der Bedeutung durch Konventionen festgelegte Begriffe. Die digitale Kommunikation dient nach diesem Modell in erster Linie der Übermittlung sachlicher Informationen. Die analoge Kommunikation dient in erster Linie der Übermittlung von Emotionen, Bewertungen und der Definition der zwischenmenschlichen Beziehung.
(5) „Zwischenmenschliche Kommunikationsabläufe sind entweder symmetrisch (gleichwertig) oder komplementär (ergänzend), je nachdem ob die Beziehung auf Gleichheit oder Unterschiedlichkeit beruht”: Symmetrische Beziehungen zeichnen sich durch das Streben nach Gleichheit und Verminderung von Unterschieden aus, in komplementären Beziehungen hingegen ergänzen sich Unterschiedlichkeiten.[iii]
Insbesondere aus der Kombination von Axiom 1 und 4 ergibt sich eine für unseren Zusammenhang bedeutsame Schlussfolgerung: In Face-to-Face-Situationen wie Geistlicher Begleitung ist digitale Kommunikation immer von analoger Kommunikation begleitet. Während also gedankliche Inhalte digital kommuniziert werden, wird die aktuelle Beziehung der Kommunizierenden mittels analoger Kommunikation definiert. Da wir Menschen beide Kommunikationsformen einsetzen und sogar gleichzeitig verwenden können, ergeben sich gelegentlich einander widersprechende Botschaften.
Sowohl die technische als auch die soziologische Definition von analog und digital spielen für das Kommunikationsgeschehen in Geistlicher Begleitung eine Rolle. In keinem Fall aber finden solche Gespräche „virtuell“, also nur scheinbar, statt. Pastorales Handeln muss von einer Haltung der Authentizität und Echtheit geprägt sein, der eine künstlich-simulierte Gesprächssituation in ihrer Logik zutiefst widerspricht.
Während sich die gleichzeitige Nutzung von analogen und digitalen Kommunikationsweisen im sozialen Sinn nach Watzlawick leicht erschließt, ergänzen sich auch analoge und digitale Aspekte im technischen Sinne: Sprechen, Hören und Sehen finden in Videokonferenzen zwar medial vermittelt statt und werden digital übertragen, dennoch sind auch analoge Aspekte wie körpersprachliche Signale, Mimik und Gestik, die Atmosphäre und Stimmung, die das Gespräch begleiten, auch über den Ausschnitt des Bildschirms wahrnehmbar.
In Gruppensituationen bietet sich sogar der Vorteil, jemanden über die Sprecheransicht heranzuzoomen, um Mimik und Gestik genauer zu studieren, als dies in einem größeren Raum über die Entfernung möglich ist. Auch bei Sitzungen sehen wir in der Regel unsere Kolleg:innen nur brustaufwärts und nehmen ggf. ein nervöses Händekneten unter der Tischplatte nicht wahr. Doch selbst wenn wir unser Gegenüber ganzkörperlich sehen können, bleibt unsere Wahrnehmung immer beschränkt und / oder durch Fehlinterpretation verfälscht.
Im Folgenden verwenden wir im übertragenden Sinn das Wort „analog“ für präsentisch an einem gemeinsamen Ort stattfindende Gespräche und das Wort „digital“ für medial vermittelte Formen wie z.B. Videokonferenzen oder sonstige Formen von Online-Kommunikation.
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Kultur-verändernde Wirkung der digitalen Wende. Einordnung und Bewertung
Inzwischen hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass das Internet doch „echt“ ist und digitale Strukturen zu wichtigen Faktoren gesellschaftlicher Prozesse geworden sind, die selbstverständlich auch Auswirkungen auf Kirche, Theologie und Pastoral haben. Die Kontaktverbote der Corona-Pandemie haben einerseits zu einer enormen Beschleunigung von Digitalisierungsprozessen geführt, andererseits aber auch zu einem Vertautwerden mit digitalen Kommunikationsweisen. Es findet also nicht nur ein technischer, sondern auch ein psycho-sozialer Anpassungsprozess im Verhalten von Menschen statt. Der Begriff „Digitalisierung“ ist allerdings schwierig und ungenau, weil er – wie der Begriff „Bildung“ – zugleich sowohl den Prozess als auch das Ergebnis bezeichnet. Längst wird auch zwischen der Digitalisierung als technischem Prozess der Datafizierung und dem kultur-gesellschaftlichen Transformationsprozess hin zu einer „Kultur der Digitalität“ (Felix Stalder) unterschieden. Stalder überführt den Begriff der Digitalität aus dem rein technischen Bereich und versucht, zwei Perspektiven zusammenführen: zum einen bezieht er sich auf das medientheoretische Werk von Marshall McLuhan, nach dem Medien als integrale Umwelten zu verstehen sind, in denen wir leben und die unsere Kultur strukturieren. Medienumbrüche sind daher auch als Kulturumbrüche zu verstehen, beispielsweise Gutenbergs Erfindung des Buchdrucks. Die spezifischen Bedingungen der Buchkultur waren lange Zeit prägend für viele Phänomene und Kontexte, so wie es jetzt und in Zukunft die Kultur der Digitalität sein wird. Zum anderen geht mit der durch den Aufstieg der Kultur der Digitalität zugleich sich vollziehende Abstieg der Buchkultur die Krise der westlichen Moderne einher. Rückblickend muss man konstatieren, dass der Buchdruck einerseits eine Informationsvervielfältigung und -verbreitung ermöglichte, andererseits aber gerade zu einer Reduktion und Vereinheitlichung geführt hat. Informationen herzustellen war teuer und kompliziert und beschränkte dadurch den Kreis derer, die daran partizipieren konnten, auf wenige Personen (zumeist bürgerliche, weiße Männer mit hoher formaler Bildung). Die aufkommende Kultur der Digitalität hat seit den 1960er Jahren zu deutlich mehr Diversität und Teilhabe in der Produktion von Informationen geführt und ermöglicht dadurch einen Veränderungsprozess in Richtung Gleichberechtigung, Globalisierung und Dekolonialisierung.[iv]
Der Transformationsprozess beinhaltet also nicht nur die Übersetzung oder Übertragung von einer Kommunikationssprache in eine andere, sondern geht auch mit Vernetzung, Mobilität, Verschiebungen von Arbeit und Freizeit und damit auch der Veränderung von Privatheit einher, und bedeutet somit eine Umformung aller Lebens- und Gesellschaftsbereiche. So werden neben einer technik-fixierten Perspektive auch soziale Aspekte in den Veränderungsdiskurs getragen, der einerseits Lebensbereiche (Arbeit, Bildung, Freizeit), aber andererseits auch Handlungssysteme (Politik, Wirtschaft, Gesellschaft) beeinflusst.
Stalders Begriff der Digitalität beschreibt treffender als die Bezeichnung Digitalisierung, wie tiefgreifend und umfassend die „Hybridisierung und Verfestigung des Digitalen, die Präsenz der Digitalität jenseits der digitalen Medien …“ wirksam sind und sowohl alltägliche Praktiken als auch unser Selbst- und Weltverhältnis prägen.[v]
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Lernfeld Digitalität
Die Kultur der Digitalität ist ein weitreichender Paradigmenwechsel und epochal. „Dass Digitalisierung ein ‚Zeichen der Zeit‘ ist, ein Phänomen also, dass Welt und Mensch in einer Weise betrifft, die theologische Reflexionen herausfordert, bestreitet heute niemand mehr.“[vi]
Und dennoch muss im Bereich kirchlichen Handelns immer noch um die Akzeptanz des Themas gerungen werden. Zum Teil aus Unkenntnis und / oder Unvermögen, zum Teil aus ideologisch anmutender Abwehr wird der Digitalisierungstrend naiv ignoriert oder bisweilen sogar jegliche Auseinandersetzung mit medialer Kommunikation verweigert.
Unter der Prämisse, dass jedes kirchliche Handeln immer in konkreten kultur-gesellschaftlichen Rahmenbedingungen stattfindet, muss aber kritisch angemerkt werden, dass eine nicht-digitale bzw. rein analoge Kommunikationsweise für eine von Digitalität geprägte Gesellschaft keine Option mehr sein kann und darf. Pastoral muss daran interessiert sein, was die Menschen in einer Kultur der Digitalität im 21. Jahrhundert bewegt.
Es gilt daher, eine reflektierte persönliche Haltung zu entwickeln und den unumkehrbaren Trend kritisch auf Probleme und Gefahren, aber auch auf Potential und Chancen hin zu prüfen und sich theoretisch und praktisch darauf einzulassen. Dies betrifft sowohl den privaten wie den professionellen Umgang mit Medien und Digitalität. Ebenso gilt es, eine gewisse Ambiguitätstoleranz gegenüber den Nutzungsungleichzeitigkeiten zu entwickeln. Nicht alles, was grundsätzlich möglich ist, muss ich auch tun.
Im Raum der Kirche folgen unmittelbare und medial vermittelte Seelsorgekontakte einerseits den gleichen Regeln, andererseits bedarf jedes Handeln und Verhalten –auch solches unter digitalen Rahmenbedingungen – der Reflexion, der Professionalisierung und der Qualifizierung. Das Digitale wird nach der Pandemie nicht wieder verschwinden, weil es elementar zur gesellschaftlichen Entwicklung des 21. Jahrhunderts gehört. Wer diesen Megatrend ignoriert oder Nostalgie betreibt, wird verändert werden.[vii]
Grenzen und Chancen müssen analytisch durchdacht und daraufhin überprüft werden, was nützt und was nicht („Prüfet alles und behaltet das Gute.“ 1 Thess 5, 21).
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Körper und Raum – online real präsent
Leiblichkeit bringt die soziale Dimension der Körperlichkeit zum Ausdruck. Durch den Leib stellt sich der Mensch zur Welt und geht in Resonanz. Der Leib erzählt die eigene Biographie körperlich. „Der Leib erlegt uns insofern jeweils unsere ganz eigene und unwiderrufliche Perspektive auf. Somit ist nach Merleau-Ponty die Existenz des Menschen durch den und im Leib inkarniert.“[viii] Im eigenen Leib findet man Zugang dazu, wer man ist und durch den eigenen Leib ist man in der Lage wahrzunehmen, was gegenüber ist. Aber „[…] der Leib ist nicht nur konstitutiv für die Wahrnehmung, sondern ebenso für Räumlich- und Zeitlichkeit. Einerseits ist er als Körper den Gesetzen des Raumes und der Zeit unterworfen, andererseits übersteigt er diese, insofern er sie als Leib erst möglich macht. Ohne sich vor jeder Bewegung alle Zielpunkte reflexiv bewusst zu machen, ist der Leib im Raum beheimatet. Er existiert weniger im Raum als zum Raum. Somit umschließt der Leib die vielen Raummomente zu einem Raumfeld und ordnet die Zeitmomente von der Perspektive der Gegenwart in Vergangenheit und Zukunft. Erst durch diesen kontinuierlichen Prozess und die Horizonthaftigkeit des Leibes ist dem Subjekt der existentielle Zugang zu Raum und Zeit gegeben.“[ix]
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Selektive Wahrnehmung
Die Kritik an kirchlicher Seelsorge im Netz, genauer gesagt an der Begleitung mittels digitaler Kommunikationsformen, lässt sich unter den Stichworten „Kontrollverlust“ und „Verlust der Leiblichkeit / Entleiblichung“ fassen.
Zum einen besteht eine diffuse Sorge der „Verfälschung“, die in einer mehrheitlichen Unkenntnis und Steuerbarkeit der technischen Prozesse im Hintergrund digitaler Medien gründet. Es ist nicht nachvollziehbar, wo die Informationen bleiben und wie sie möglicherweise auf dem Weg bis zum Adressaten von Dritten verändert werden.
Zum anderen befürchten Kritiker:innen, man würde einander „nicht richtig“ wahrnehmen können. Der Ausschnitt von Kopf und Oberkörper böte keinen ausreichenden und echten Eindruck.
Den Kritiker:innen ist zuzustimmen. Tatsächlich wird im digitalen Setting die Wahrnehmung begrenzt und die Personen, die Begleitung geben bzw. erfahren, nehmen einander nur ausschnitthaft wahr – allerdings ist das auch in der präsentischen Begleitung der Fall. Denn auch wenn dort, im Analogen, potentiell neben Hören und Sehen andere Sinne einbezogen werden, bleibt die Wahrnehmung auch hier voneinander begrenzt. Immer nehmen wir unser Gegenüber ausschnitthaft wahr, erfassen nur einen Teil seiner Identität. Auch wenn wir leiblich ko-präsent sind und einander in einem Raum gegenüber sitzen, müssen wir mit nüchternem Blick die generellen Grenzen menschlicher Wahrnehmung anerkennen.
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Periphere Wahrnehmung
Beachtenswert ist auch: immer nehmen wir uns selbst lediglich an unseren Rändern wahr. Wir sind immer auf unseren Leib verwiesen, er ist permanent gegeben und gleichzeitig relativ. Es ist so, „daß ich niemals ihn eigentlich vor mir habe, daß er sich nicht vor meinem Blick entfalten kann, vielmehr immer am Rand meiner Wahrnehmung bleibt und dergestalt mit mir ist“[x] Ich stehe also mit der Welt in Kontakt, indem ich gleichzeitig meinen eigenen Körper immer peripher im Verhältnis zur Welt wahrnehme. Es gibt also kein Gegenüber von mir in meinem Körper und der Welt, sondern ein Miteinander. Welt und Körper sind miteinander verwoben.
Worin liegt der in der Kritik des Mangels an „echter“ Begegnung vorgebrachte Grund? Besteht die Sorge, wir würden unseren Körper verlieren, wenn digitale Welten immer weitere Lebensbereiche erfassen? Begegnungen finden niemals „körperlos“ statt, weder in der analogen noch in der digitalen Weise. Freilich sind wir nicht körperlich im Zoom-Raum anwesend; und doch ist jede für sich in ihrem physischen Raum leibhaftig vorhanden. Unsere Körper sind weiterhin von Belang und stehen durch den Aufenthalt in digitalen Zonen nicht infrage.[xi] Irritationen und Bedenken mögen genau in dieser bisher unvergleichlichen Doppel-Gegebenheit gründen: sich in einem Raum begegnen, die Körper (selektiv) wahrnehmen und in der Leiblichkeit im sich je eigenen Zimmer aufhalten. Die mit der Corona-Pandemie auf breiter Ebene notwendig gewordene digitale Kommunikation ist anders und doch vergleichbar mit „leiblicher Ko-Präsenz“[xii] analoger Settings. Wir können sagen: in der digitalen Begegnung zweier Personen besteht digitale Ko-Präsenz bei leiblicher Dis-Position.
In der digitalen Begleitung befinden wir uns also gleichzeitig in zwei Räumen, wobei einer der eigene persönliche Raum ist, der andere der gemeinsame digitale. Je nachdem, wie der Hintergrund des Bildschirmausschnitts eingestellt ist, nehmen wir auch den Raum der Gesprächspartner:in wahr. Das verändert gewohnte Kommunikationsbedingungen. Zum Beispiel fehlen gemeinsame Referenzpunkte. Blickt eine Kommunikationsteilnehmer:in zu Seite, erschließt sich nicht unmittelbar, ob sie aus dem Fenster schaut oder einen „unsichtbaren Dritten“ anvisiert. Es fehlen zur Einschätzung gemeinsame Parameter von den Räumen, in denen wir uns physisch aufhalten.
Natürlich bietet sich auch die Möglichkeit der Täuschung. Handicaps können weitgehend versteckt werden. „Aber es wäre naiv zu glauben, dass unser Wille, unsere Werte, unser Charakter, unsere Rollen und unsere Selbstnarration völlig unabhängig von unserer tatsächlichen körperlichen Beschaffenheit existierten. Das, was uns ausmacht, ist auch von unseren Körpern mitbestimmt. Eine körperliche Beeinträchtigung ist nur ein besonders augenfälliges Beispiel dafür. In Wirklichkeit können wir den eigenen Körper eben aus dem Grund weder on- noch offline zurücklassen, weil wir durch ihn geworden sind, wer wir sind und er sich damit, wenn auch nur mittelbar, in jeder unserer Handlungen – seien sie nun digital oder analog – äußert.“[xiii]
Der digitale Raum kann vergleichbar mit einem analogen Ort zum Treffpunkt der Geistlichen Begleitung werden. Es begegnen sich Menschen, die leibhaftig verortet sind.
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Raumbezogenheit zwischenmenschlicher Begegnung
Wir Menschen sind relationale, auf Beziehung ausgerichtete Wesen, die ihr Bewusstsein von sich selbst durch Widerhall erlangen.
Geistliche Begleitung findet immer in einem Raum zwischen Individuen statt. Sie verortet sich als Resonanzgeschehen konkret in dem Raum, der zwischen Menschen entsteht. Es sei nochmal erinnert an das, was im Anschluss an das Kommunikationsmodell Watzlawicks beschrieben wurde: Für das Nachdenken über digitale Räume als Orte Geistlicher Begleitung ist unseres Erachtens die Beziehung zwischen den Parteien bedeutsam. Der konkrete, lokalisierbare Raum, etwa ein Besprechungszimmer, wird als typische oder übliche Umgebung eines Geistlichen Gesprächs gesehen. Und sie wird es, weil es mehrheitlich so praktiziert wird, weil es als „normal“ gilt. Wenn wir über digital-gestützte Seelsorge ins Gespräch kommen, scheint uns bedeutsam zu sein, über unser menschliches „auf den Raum bezogen sein“ nachzudenken und von der Voraussetzung auszugehen den „Raum“ als Rahmen zu verstehen, in dem sich eine Beziehung entwickelt und sie gepflegt wird.
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Störungen im Raum
Digitale Begleitung ist abhängig von den technischen Voraussetzungen und das macht sie fragil. Sobald die Internetverbindung instabil ist, ist die Gesprächsbasis nicht mehr gegeben. Die technischen Unwägbarkeiten, manchmal auch das (uneingestandene) eigene technische Unvermögen bringen Kritiker:innen dazu, den digitalen Raum als Ort der Geistlichen Begleitung generell infrage zu stellen. Demgegenüber ist einzuwenden, dass der störungsfreie Raum analog wie digital eine Ideologie [darstellt], konstatierte Friederike Erichsen-Wendt auf Twitter[xiv]. Den störungsfreien Raum gibt es nicht. Was es gibt, ist eine relative Vertrautheit im Umgang mit den Störungen, die sich in einem Raum ergeben. Wenn beispielsweise vor dem analogen Besprechungszimmer der Asphalt aufgerissen wird, können wir die Fenster schließen und hoffen, dass das weiterhin hör- und spürbare Wummern und Lärmen des Presslufthammers von unserer Aufmerksamkeit ausgeblendet wird. Wenn alles nichts hilft, wird ein neues Treffen anberaumt werden müssen. Wenn in der digitalen Begleitsituation die Internetverbindung eine zu große Latenz zwischen Bild und Ton zeigt, können wir die Verbindung neu aufsetzen, ein besseres WLAN finden oder – wenn alles nichts hilft, ein neues Treffen anberaumen.
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Theologische Einordnung
Gottes Geist macht nicht Halt vor modernen Kommunikationsmitteln, ist doch die ganze Wirklichkeit – auch das Schaffen des Menschen – als Schöpfung auf Gott verwiesen. Christus ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes „durch ihn wurde alles erschaffen, was im Himmel und auf der Erde ist, das Sichtbare und das Unsichtbare, Könige und Herrscher, Mächte und Gewalten. Das ganze Universum wurde durch ihn geschaffen und hat in ihm sein Ziel.“ (Kol 1,15f)
Was bedeutet es, wenn der Leib Christi online geht[xv]– für die Beziehungen, für die Gemeinschaften? Wenn der Leib Christi, die Kirche, Christus sinnenhaft erfahrbar macht, durch lebendige Menschen aus Fleisch und Blut, wie zeigt Gott sich dann nicht nur in der analogen, sondern auch in der digitalen „Welt“? Es gibt Stimmen, die das Internet sakralisieren und das World Wide Web als Gott ebenbildlich einordnen, es sogar als allwissende Alternative zum jüdisch-christlichen Gottesbild betrachten.[xvi] Das ist nicht unser Anliegen. Uns interessiert das Internet in seiner Ausdifferenzierung als Kommunikationsmedium und wie dieses als Ort und Möglichkeit der Begegnung mit Gott verstanden werden kann.
“Die christliche Religion […] ist als eine besondere Form der Kommunikation zu verstehen, die sich in der Kultur ausdifferenziert hat und sich selbst als Religion versteht und beschreibt. Sie besteht in der Weitergabe der religiösen Erinnerung an Jesus Christus. Diese ist stets an Medien gebunden, die in der christlichen Religion als Medienkörper Jesu Christi fungieren”[xvii] Christian Danz skizziert, ausgehend von den Kritiker:innen, die eine leibliche Ko-Präsenz liturgisch zur Voraussetzung machen, ein Verständnis von der in Christus versammelten Gemeinschaft als „Medienkörper Christi“: „Ist Christus das körperliche Medium Gottes und der Gottesgeist sein durch diese Form bestimmtes Verbreitungsmedium, dann ist die im Geist Christi leiblich versammelte Gemeinde sein Medienkörper.“[xviii]
Die Frage nach realer Konstituierung des Leibes Christi in einem digitalen liturgischen Geschehen interessiert uns, weil an der Argumentation die Rolle und Bedeutung des Digitalen abgelesen werden kann. Das Internet ist ein Kommunikationsmittel, ähnlich wie ein Buch, und hat eine vermittelnde Rolle, durch die Gottes Ansprache möglich und wirksam wird. In der Debatte um die (Un-)Möglichkeit digitaler Gottesdienste wird auf den Ursprung des Symbolons verwiesen und gefragt: „[Können] die in Chalcedon festgehaltenen christologischen Bestimmungen heute so gelesen werden, daß das Christusmedium stets an Interaktionen in leiblicher Kopräsenz rückgebunden sein muß?“[xix]
In der Diskussion um digitale Gottesdienste wird die fehlende Körperlichkeit als doketistisch beargwöhnt, weil sie ja körperlos stattfinde.[xx] An dieser Stelle stellen wir uns die Frage, wie bedeutsam und entscheidend das Postulat einer leiblichen Ko-Präsenz für das Geschehen der Geistlichen Begleitung tatsächlich ist. Seit Jahrhunderten ist zum Beispiel die briefliche Begleitung gute Praxis. Ignatius hat mehrere tausend Briefe verfasst und stand im Briefwechsel mit unzähligen Menschen. Heute hat die Begleitung via E-Mail eine vergleichbare Akzeptanz gewonnen. Hier gibt es auch keine körperliche Ko-Präsenz und darüber hinaus ist die Reaktion bisweilen zeitlich stark versetzt.
Digitale Begegnung ist allerdings weiterhin körperhafte Begegnung: sie ist, wie oben skizziert, eine medial vermittelte Ko-Präsenz zweier analog anwesender leibhaftiger Menschen. Es treffen in der digitalen Begleitung keine Avatare aufeinander. Der je eigene Leib der in die Begleitung Involvierten ist für das Begleitsetting weiterhin relevant. Deshalb stellt sich die methodische Frage, wie der Leib in die Begleitung einbezogen werden kann und über die sprachlichen Ausdrucksmittel hinaus die Gottsuche gefördert werden kann. Ideen dazu finden sich im letzten Kapitel.
Für Paulus wären heute vielleicht die sozialen Netzwerke sein Areopag und Ignatius fordert auf, „Gott in allen Dingen“ zu suchen. Das Digitale ist ein Ort der Wirklichkeit, an dem nach Gottes Gegenwart gefragt werden kann und sollte.
Das bedeutet auch: In digitalen Räumen kann genauso wie in analogen Kontexten an der Gottesbeziehung gearbeitet werden. Es gibt im methodischen Vorgehen Ähnlichkeiten, die aus analogen Zusammenhängen übernommen werden können. Und es gibt Unähnlichkeiten, die neue Herangehensweisen nötig machen. Im Folgenden werden wir darauf nun unsere Aufmerksamkeit lenken.
[i][i] Ausgangspunkt unserer Überlegungen war der Beitrag von Fuhrmann, Siri: Geistliche Begleitung in digitalen Räumen. In: https://geistlich.net/geistliche-begleitung-in-digitalen-raeumen/ (abgerufen am 21.12.21).
[ii] Hermann, Maria: „Aber das ist doch nicht echt!“ Komplexität und Virtualität als Impulse gegenwärtiger Kirchenbildungsprozesse. In: ZPTh 39 (2019) 19-31.19.
[iii] Für diesen Abschnitt s. https://dorsch.hogrefe.com/stichwort/kommunikationsmodell-von-watzlawick-et-al)
[iv] Vgl. Felix Stalder: Zur Kultur der Digitalität. Ein Interview von Wolfgang Beck mit Felix Stalder. In: Beck/Nord/Valentin: Theologie und Digitalität, 21-31. Hier: 21-24.
[v] Stalder: Kultur der Digitalität, 188 [ebook]
[vi] Einleitung In: Valentin, Nord, Beck: Theologie und Digitalität, 9.
[vii] Vgl. Schrage, Bruno: Digitaler Wandel. Eine christlich-caritative Chance! In: Pastoralblatt 71 (2019) 210-216, 213.
[viii] Ottinger, Richard: Körperliche Leiblichkeit als Bedingung der Erfahrungsmöglichkeit von Authentizität. Walter Benjamins Begriff der Aura, (Neue) Phänomenologie und digitale Mediatisierung. In: ztp 143 (2021) 388-404. 398.
[ix] Ebd., 398.
[x] S. Merleau-Ponty, Maurice: Das Sichtbare und das Unsichtbare. München. 1966. 1986, 115.
[xi] Vgl. Pint, Lena: Gibt es eine digitale Identität? In: https://www.frankfurter-hefte.de/artikel/gibt-es-eine-digitale-identitaet-2595/ (letzter Zugriff: 17.12.21).
[xii] Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen. Frankfurt am Main 2004, 47.
[xiii] Ebd.
[xiv] @feriwen am 18. Januar 2021.
[xv] Crizaldo, Rei Lemuel: Digital Incarnation in: https://www.academia.edu/8803624/ Digital_Incarnation pdf, 4 Seiten (20.07.2020), 1.
[xvi] S. z.B. Ulf Grüner: Das Internet ist die technische Form Gottes. In: SPIEGEL ONLINE 52/1997, abgerufen am 21.12.21; Gero von Randow: Gott ist online, in: Zeit online vom 14. September 2014; abgerufen am 21.12.21).
[xvii] Danz, Christian: Christus und seine Medienkörper. Religiöse Kommunikation im digitalen Zeitalter, in: Beck / Nord / Valentin: Theologie und Digitalität, 388-406, 392.
[xviii] Ebd., 393.
[xix] Günter Thomas: Die Multimedialität religiöser Kommunikation. Theoretische Unterscheidungen, historische Präferenzen und theologische Fragen, in: Ingolf U. Dalferth / Philipp Stoellger (Hgg.) Hermeneutik der Religion, Tübingen 2007, 189-213. 212.
[xx] Vgl. Danz 393.