Ein neues Erdzeitalter hat begonnen: das Anthropozän. Der Name zeigt an, dass der Mensch nun zum entscheidenden Faktor für die Zukunft des Planeten geworden ist. Diese Situation stellt natürlich auch den christlichen Glauben und die Kirchen in neue theologische Herausforderungen.
Hoffnung wider allen Augenschein. Sieben Thesen vom prophetischen Trostamt der Kirche im Anthropozän.
Text: Klaus Heidel – Photo: geralt/pixabay.de
Die Menschheit befindet sich im Anthropozän an einem Scheidewege, sie hat ihre Zukunft weitgehend selbst in der Hand. Noch kann eine möglichst holozänartige Gestaltung des Anthropozän gelingen. Sie ins Werk zu setzen, ist Aufgabe aller gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Akteure – von der lokalen bis zur globalen Ebene. Für die hierfür erforderliche sozial-ökologische Transformation gibt es aber weder Masterpläne noch zentrale Steuerungsinstanzen. Und erst im Nachhinein lässt sich beurteilen, welche Handlungsansätze am erfolgreichsten gewesen waren.
Im Mittelpunkt dieser Skizze steht die Frage nach dem besonderen Beitrag des Christentums, der Kirche und ihrer Glieder zur erforderlichen Transformation. Mit diesem Fokus soll keinesfalls die Notwendigkeit bestritten werden, dass sich die Kirchen und ihre Glieder an all den vielfältigen zivilgesellschaftlichen Aktivitäten und Netzwerken beteiligen. Im Gegenteil, ich wünschte mir, es wäre dies noch viel mehr als bisher der Fall – von der Klimaallianz bis zum neuen Netzwerk Finanzwende, von Demonstrationen bis hin zur Lobbyarbeit – überall dort wünsche ich mir das engagierte Mittun von Kirchen und Christenmenschen. Und selbstredend führt an ökofairsozialer Beschaffung und EMAS-Zertifizierung kein Weg vorbei – wenn nur der grüne Hahn auf mehr Kirchtürmen krähen würde! All dieses Engagement kann gut auch theologisch begründet werden, doch all dies bedarf einer theologischen Begründung nicht. Und wenn wir ehrlich sind, müssen wir einräumen, dass in der Auseinandersetzung mit den Herausforderungen im Anthropozän die Kirchen und ihre Glieder eher nicht in der ersten Reihe stehen. Doch jenseits dieses notwendigen praktischen und politischen Engagements haben wir als Kirche und Christenmenschen etwas in den Diskurs einzubringen, was uns eigen, was unser Proprium, was unser besonderer Beruf ist. Hier sollten wir als Kirchen und Christenmenschen weniger zurückhaltend sein, es geht um die unerhörtesten Tiefen unseres Glaubens, um die gewagtesten Ausgriffe christlicher Theologie, es geht um Gott, sein Verhältnis zu uns, unser Verhältnis zu ihm und es geht um Gottes Verhältnis zur Schöpfung. Dieses christliche Proprium sind wir dem öf- fentlichen Diskurs über das Anthropozän schuldig, auch und gerade dann, wenn wir ihn mit Absicht interkulturell und interreligiös führen wollen – und zu einem solchen Vorhaben sehe ich keine Alternative.
Mit diesem Frageinteresse erinnere ich zunächst mit wenigen Strichen an einige Kerneinsichten über das Anthropozän als Ausgangspunkt der folgenden theologischen Überlegungen und Anregungen für Gestalt und Arbeit der Kirchen. Mit einem zweiten Schritt streife ich beiläufig das Erfordernis einer Kultur der Nachhaltigkeit, um danach zur Frage zu gehen, was denn die Herausforderungen im Anthropozän Kirche und Theologie theologisch angingen. Diesem Schritt folgt der Versuch, über christliche Prophetie im Anthropozän nachzudenken. Fünftens werde ich andeuten, weshalb ich davon überzeugt bin, dass das kirchliche Trostamt im Anthropozän wichtiger denn je ist. Schließlich benenne ich einige konkrete Konsequenzen aus meinen Überlegungen für Gestalt und Arbeit der Kirchen.
Nähern wir uns dem mit dem Begriff Anthropozän Gemeinten, werden wir rasch feststellen, dass der Gebrauch dieses in den letzten zehn Jahren in Mode gekommenen Begriffes, der längst öffentliche Diskurse, Medien und selbst die Kunst erreicht hat, schwankt. Geologen zählen ihn zu den geochronologischen oder chronostratigraphischen Begriffen, mit denen sie Epochen der Erdgeschichte geologisch voneinander abzugrenzen gewohnt sind. Für sie ist der Mensch zum geologischen Faktor geworden, und dies wollen sie in den Sedimenten nachweisen. Anderen geht es mehr um die anthro- pogenen Eingriffe in das Erdsystem, die mit dem Erdsystem auch die Bedingungen für Leben auf der Erde grundlegend verändert haben. Drittens kann Anthropozän ein eher diffuses Gefühl von der – in der Regel als gefährlich bewerteten – Dominanz des Menschen auf der Erde auf den Begriff zu bringen versuchen. Diese relative begriffliche Unbestimmtheit scheint mir den Verzug zu haben, dass sie die Verknüpfung unterschiedlicher Frageansätze erlaubt. Wie auch immer – der Begriff und seine in der Begriffsgeschichte einmalige Karriere verweisen auf ein weit verbreitetes Unbehagen mit dem Zustand der Erde.
Verletzung planetarischer Grenzen: Die Signatur des Anthropozän
In der Tat ist dieser Zustand bedrohlich. Denn die Signatur des Anthropozän ist die Verletzung planetarischer Grenzen. Der noch jungen Erdsystemforschung ist es gelungen, für vier Prozesse und Systeme, die für das gesamte Erdsystem von entscheidender Bedeutung sind, diese planetarischen Grenzen zu quantifizieren – eine unglaubliche wissenschaftliche Leistung, die zumindest in der bundesdeutschen Öffentlichkeit kaum gewürdigt wird. Ich deute den Befund an:
Der Klimawandel zerstört die klimatischen Rahmenbedingungen des Holozän, die die Entwicklung der menschlichen Zivilisation, wie wir sie kennen, erst möglich gemacht hatten. Besonders folgenreich sind die Veränderungen in den großräumigen Zirkulationsmustern von Atmosphäre und Ozeanen: So verschiebt zum Beispiel der polare Jetstream seine Ausbuchtungen nach Norden und Süden, wodurch je nach Region mehrwöchige Hitzeperioden oder langanhaltende Kaltlufteinbrüche entste- hen. Ein anderes Beispiel ist der Golfstrom, dessen Versiegen denkbar geworden ist.
Einen zweiten Prozess bilden die Veränderungen der Landnutzung, sie verletzen ökologische Habitate und Landschaften mit strukturellen Folgen für Flora und Fauna.
Drittens belasten und schädigen die Störungen biogeochemischer Kreisläufe, konkret die von Phosphor und Stickstoff, Natur und menschliche Gesundheit.
Schließlich ist der Verlust von Biodiversität weit fortgeschritten, manche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler halten das Artensterben für gefährlicher als den Klimawandel.
Die Folgen der anthropogenen Eingriffe in das Erdsystem sind von langer Dauer. So entscheiden zum Beispiel diese und die nächste Generation, wie hoch der Meeresspiegel in 1.000 bis 2.000 Jahren ansteigen wird. Unklar ist, in welchem Maße die Veränderungen des Erdsystems begrenzt oder gar wieder rückgängig gemacht werden können. Im Blick auf den Klimawandel und die Veränderung der Landnutzung scheint es hierfür noch ein kleines Zeitfenster von wenigen Jahrzehnten zu geben, hinsichtlich der biogeochemischen Kreisläufe und des Verlustes von Biodiversität aber ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass bereits Kipppunkte überschritten wurden, jenseits derer keine menschlichen Steuerungsmöglichkeiten mehr bestehen.
All dies hat dazu geführt, dass heute die Erde in einem Zustand ist, in dem sie noch nie war. Der australische Philosoph Clive Hamilton sieht „einen Bruch in der Funktion des Erdsystems“. Zugleich komme es jetzt darauf an, die Erde zu besänftigen, „und sich zu retten, vor sich selbst und vor der Natur, im Wissen darum, dass jede Störung des Erdsystems die Chancen verringert, dies tun zu können“. Und der französische Soziologe und Philosoph Bruno Latour meint: „Das wird nicht ‚vorübergehen‘, daran werden wir uns gewöhnen müssen. Das ist definitiv“.
Diese knappe Skizze der Herausforderungen im Anthropozän wäre unvollständig, würde sie nicht wenigstens benennen, dass das erdsystemische Anthropozän eine digitale Schwester bekommen hat. Der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen schreibt hierzu in seinem diesjährigen Hauptgutachten: „Im digitalen Anthropozän schafft sich der Mensch Werkzeuge, mit denen er nun auch sich selbst fundamental transformieren kann und zwar durch eine immer engere Mensch-Maschine-Kooperation mit digitalisierter Technik und das immer engere Zusammen- spiel mit KI bis hin zu technologischen Dystopien von ‚Human Enhancement‘ als einer technologisch gestützten Optimierung des Menschen“. Das garstige Gespenst eines Trans- oder Posthumanismus scheint näher zu kommen.
Diese Hinweise führen zu meiner ersten These:
These 1: Vom Neuen im Anthropozän
Art und Intensität der Verletzung planetarischer Grenzen durch den Menschen haben zu einem neuen Zustand der Erde geführt, der die Zukunft der menschlichen Zivilisation bedroht. Zugleich verlockt der technologische Fortschritt im Zeitalter der Digitalisierung zu einer weitgehenden Veränderung des Menschen im Sinne einer Selbstoptimierung: Die menschliche Zivilisation steht vor einem globalen Strukturbruch.
Vier alte Fragen neu und schärfer gestellt: Herausforderungen für den christlichen Glauben im Anthropozän
Die hier nur angedeuteten Herausforderungen im Anthropozän werfen eine Reihe von Fragen auf, die für den christlichen Glauben und die christliche Theologie von zentraler Bedeutung sind. Vier dieser Fragenkreise will ich wenigstens knapp skizzieren.
Erstens werden wir Menschen gerade im Augenblick unserer größten Macht über die Erde in scharfer und neuartiger Weise mit der Unsicherheit unserer Existenz, ja, mit ihrer Endlichkeit konfrontiert.
Denn es ist nicht ausgemacht, dass eine möglichst holozänartige Gestaltung des Anthropozän noch gelingt. Gelänge sie nicht, würde uns ein „Verwüstungs-Anthropozän“ drohen, so Wolfgang Lucht, einer der beiden Leiter der Abteilung Erdsystemforschung im Potsdam Institut für Klimafolgenforschung. Doch selbst die künftige Entwicklung des sehr gut erforschten Klimawandels liegt im Dunkeln. Einerseits bieten vielfältige Bemühungen zur Reduktion der Treibhausgasemissionen ebenso wie technologische Entwicklungen – das KIT experimentiert gerade damit, CO2 in Kraftstoff zu verwandeln – Anlass zur Hoffnung. Andererseits steigen die globalen Emissionen beständig, selbst in Deutschland sind sie seit 2009 kaum zurückgegangen und im Verkehr von 1990 bis 2017 gar um 2,8 Prozent gewachsen. So warnen mehrere neue wissenschaftliche Studien, der Menschheit drohe, wenn sie so weitermache wie bisher, bis zum Jahrhundertende eine durchschnittliche globale Erwärmung um 3°C über dem vorindustriellen Niveau. Schon jetzt scheint es ausgeschlossen, dass die Erwärmung in einigen Weltgegenden noch unter 2° begrenzt werden könnte, so in der Arktis, im Süden Spaniens und in großen Teilen Afrikas. Gewiss gibt es keine Veranlassung für irgendein Katastrophengerede, und gewiss wird die Menschheit auch bei einer durchschnittlichen globalen Erwärmung um 3°C nicht aussterben. Aber welche sozialen Folgen wird das haben und wie werden wir uns dann an die veränderten Rahmenbedingungen für menschliches Leben anpassen? Wie können wir uns schon jetzt darauf vorbereiten, dass eine solche Anpassung unumgänglich sein wird? Und lohnt sich dann unser Einsatz für eine Bewältigung der Herausforderungen im Anthropozän noch, wenn wir gar nicht wissen und nicht einmal wissen können, ob wir erfolgreich sein werden? Wie verkraften wir, dass es möglicher geworden ist, ein Ende zu denken? Hilft da, die menschlichen Urerfahrungen mit Unsicherheiten, mit der Unbehaustheit des Menschen, mit seiner, mit meiner Vergänglichkeit zu bedenken, von denen uns die Bibel erzählt?
Wie also gehen wir zweitens mit unserer Überforderung um? Denn natürlich ist beim Blick auf die Herausforderungen im Anthropozän ein Gefühl der Hilflosigkeit unvermeidbar, denn die Herausforderungen sprengen die Grenzen unserer individuellen Einflussmöglichkeiten. Sollte man daher nicht lieber das Ausmaß der Herausforderung verschweigen, wo doch die Angst vor Katastrophen weit eher paralysiert als zum Handeln ermutigt? Sollte man nicht lieber Bilder vom Guten Leben bemühen, wenn man Verhaltensänderungen anstoßen möchte? Ich bin da skeptisch. Jede erfolgreiche Therapie beginnt mit der Diagnose. Und mein Nachbar mit seinem SUV wird nicht deshalb auf das Fahrrad umsteigen, weil ich ihm sage, dass Radfahren so viel gesünder sei. Auch wer regelmäßig Urlaubsreisen in andere Kontinente unternimmt, wird kaum aufgrund des Hinweises, wie schön Wanderungen im Kraichgau seien, sein Verhalten ändern. Ich halte es jedenfalls nicht für hilfreich, aus Angst vor einem Gefühl der Überforderung den Blick vom Ernst der Lage der menschlichen Zivilisation zu wenden. Hinzu kommt und grundsätzlicher, dass das Problembewusstsein zu dem gehört, was unser Menschsein ausmacht. Ein solches Problembewusstsein zeichne den Menschen als homo quaerens aus, so Volker Gerhardt: „Zur Problemwahrnehmung gehört das Bewusstsein der eigenen Gefährdung, die mit dem Risiko eines möglichen Scheiterns als Bedrohung erlebt werden kann“. Es wird also darum gehen, sich dem Gefühl der Hilflosigkeit und den strukturellen Überforderungen für die Einzelne und den Einzelnen zu stellen und neue Wege im Umgang mit Hilflosigkeit und Überforderung zu finden. Dazu gehört unter anderem der Versuch, die Menschheit als ethisches Subjekt zu begreifen. So sei nach Volker Gerhardt die Menschheit die „Instanz des kollektiven wie des individuellen Handelns“. Ähnlich Clive Hamilton, der meint: „Der Akteur, von dem wir sprechen, ist ein kollektiver“. Damit aber gerät die Frage nach einer Strukturenethik erneut in das Zentrum ethischen Interesses. Diese Frage entlastet die und den Einzelnen, weil ihr und ihm nicht aufgebürdet wird, was nur durch Strukturveränderungen zu erreichen sein könnte.
Drittens stellt sich im Anthropozän die alte Frage neu, was der Mensch darf und wo Grenzen für das technologisch Machbare liegen müssen. Schon denkt er darüber nach, wie er mit neuen Großtechnologien das Erdsystem überlisten kann, um die globale Erwärmung zu begrenzen. In den USA wird diese Debatte über Geoengineering prominent geführt, auch in den Kirchen. Wäre ein Strahlungsma- nagement ein angemessener Ansatz – etwa das Ausbringen von Schwefelaerosolen in die Atmosphäre oder die Verspiegelung des Erdballes? Wäre es sinnvoll, CO2 aus der Atmosphäre zu entfernen und zum Beispiel in die Erde zu pressen? Es gibt sehr ernsten Anlass für die Sorge, dass solche Technolo- gien mit katastrophalen Kollateralschäden einhergingen. Und wer wollte im digitalen Anthropozän transhumanistischen Experimenten Einhalt gebieten, mit welcher Berechtigung, mit welchen Kriterien? Was also darf der Mensch, wo sind seine Grenzen, wer setzt sie ihm? Wie schließlich verhält sich der „Mensch als Tier“, so der emeritierte Berliner Philosoph Volker Gerhardt, zu anderen Tieren, wie zu der ihn umgebenden Natur? Wo sind hier seine Grenzen?
Viertens schließlich muss der notwendigen Rede von „dem Menschen“ und „der Menschheit“ die Rede von den gewaltigen strukturellen Unterschieden in den Lebensverhältnissen der Menschen beigegeben werden. Nicht zuletzt menschengemachte ökonomische und technologische Pfadabhängigkeiten haben die tiefe (und nicht neue) Kluft zwischen arm und reich, zwischen armen und reichen Ländern zementiert. Man denke nur an die Folgen der Finanzialisierung und der damit einhergehenden wachsenden Abhängigkeit wirtschaftlicher Akteure von Finanzinstitutionen und Strukturen der globalen Finanzarchitektur. Es geht also im Anthropozän nicht nur um die Spezies Mensch, sondern auch um den je konkreten Menschen und seine sozialen, ökonomischen und kulturellen Lebensbedingungen und damit nicht zuletzt um die Gestaltung der Ökonomie. Dass hierbei die Verletzung plane- tarischer Grenzen die soziale Kluft verschärft, zeigt, wie sehr die Herausforderungen im Anthropozän auch zu Fragen der sozialen Gerechtigkeit geworden sind.
Diese Skizze von vier Fragenkreisen führt mich zu meiner zweiten These:
These 2: Von alten neuen Fragen im Anthropozän
Im Anthropozän stellen sich alte Fragen nach dem Menschen neu und in neuer Schärfe, auf die der christliche Glaube und mit ihm Theologie und Kirchen Antworten finden müssen. Diese Fragenkreise beziehen sich unter anderem auf die Vergänglichkeit und Endlichkeit des Menschen, auf seine Hilflosigkeit und Überforderung, auf seine Grenzen und auf die sozial gerechte Gestaltung der menschlichen Zivilisation unter den veränderten Rahmenbedingungen menschlicher Existenz.
Nachhaltigkeit ist nicht Umweltschutz: Zur Notwendigkeit einer Kultur der Nachhaltigkeit
Schon der generelle Blick auf die Herausforderungen im Anthropozän zeigt, dass es um eine umfassende Neugestaltung der in den reichen Ländern vorherrschenden Lebens- und Wirtschaftsweisen und der von mächtigen wirtschaftlichen und politischen Akteuren durchgesetzten globalen Struktu- ren gehen muss. In diesem Sinne ist Nachhaltigkeit weit mehr als Umweltschutz. Auch das im gesellschaftlichen Diskurs noch immer dominierende Säulenmodell der Nachhaltigkeit ist nicht angemessen, da es unterstellt, die einzelnen Dimensionen menschlichen Handelns könnten unabhängig voneinander betrachtet werden. Doch Nachhaltigkeit setzt die unaufgebbare Verknüpfung des Sozialen, Politischen, Ökonomischen und Kulturellen zur Erreichung von Nachhaltigkeitszielen voraus. Eine „wirtschaftliche Nachhaltigkeit“ aber, die ökologische und soziale Ziele ökonomischen Zielen unterordnen würde, kann es nicht geben – um nur ein Beispiel zu nennen.
Daher kann die Rede von einer „Kultur der Nachhaltigkeit“ helfen, Engführungen zu vermeiden. Kultur meint hierbei die Gesamtheit menschlicher Lebensvollzüge – von individuellen Wahrnehmungs- und Deutungsmustern über gesellschaftlich dominierende Narrative bis hin zu wirtschaftlichen Ordnungen. Eine Kultur der Nachhaltigkeit verknüpft also individuelles und kollektives Deuten und Verhalten und damit Immaterielles und Materielles in unauflösbarer Weise miteinander und setzt die möglichst umfassende Beachtung planetarischer Grenzen ebenso voraus wie eine sozial gerechte und auf Kohärenz zielende Gestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft oder einen Wertewandel.
Einer solchen Kultur der Nachhaltigkeit widersprechen daher zum Beispiel wirtschaftliche Ordnungen, die sich mit Vorrang an Wirtschaftswachstum und Renditeerzielung ausrichten.
In der Perspektive einer Kultur der Nachhaltigkeit ist Kultur nicht von Natur geschieden: „Es gibt keine andere Definition der Natur als diese Definition der Kultur und keine andere Definition der Kultur als diese Definition der Natur“, so Bruno Latour. Ähnlich auch Volker Gerhardt, für den Kultur „eine Form der Natur“ ist.
Diese Kultur der Nachhaltigkeit ist Ziel einer sozialökologischen Transformation, die auch als kultureller Wandel begriffen werden kann. In seiner Enzyklika Laudato Si‘ spricht Papst Franziskus von der „Dringlichkeit, in einer mutigen kulturellen Revolution voranzuschreiten“. Zu einem solchen radikalen kulturellen Wandel könnten Theologie und Kirchen maßgeblich beitragen, so die Erwartung, die in den Reihen der Wissenschaft laut geworden ist.
Meine dritte These fasst die wenigen Bemerkungen zur Kultur der Nachhaltigkeit zusammen:
These 3: Von der Kultur der Nachhaltigkeit
Eine möglichst holozänartige Gestaltung des Anthropozäns setzt eine Kultur der Nachhaltigkeit voraus, die ohne einen radikalen kulturellen Wandel nicht zu haben sein wird. Zu diesem kulturellen Wandel gehört die umfassende Neugestaltung der global herrschenden wirtschaftlichen Ordnungen.
Gottes Gegenwart in der Schöpfung: Die Kirche vor einer neuen Bekenntnisfrage?
In der Tat sind Theologie und Kirchen, wie auch jede Christin und jeder Christ gut gerüstet, um „in einer mutigen kulturellen Revolution voranzuschreiten“. Seit Jahrzehnten und in vielfältiger Weise setzen sie sich für Gerechtigkeit, Frieden und Achtung der Schöpfung ein. Als theologische Begründung für dieses Engagement wird häufig jene Formel verwendet, die nach der sechsten Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen 1983 in Vancouver zumindest im protestantischen Teil Deutschlands heimisch geworden ist: „Bewahrung der Schöpfung“. Sie verweist auf Genesis 2, 15, dort erhält der Mensch im Garten in Eden und somit noch vor dem Sündenfall den Auftrag, den Gar- ten zu bebauen und zu hüten. Doch hieraus einen Auftrag zur Bewahrung der Schöpfung abzuleiten, ist exegetisch problematisch. Hierauf hat Gerhard Liedke bereits 2006 hingewiesen. Nicht einsichtig ist die Gleichsetzung des Gartens in Eden mit der gesamten Schöpfung, auch der Zustand nach dem Sündenfall unterscheidet sich deutlich von dem zuvor. Denn Genesis 3 erzählt, wie Adam und Eva aus dem Garten in Eden vertrieben wurden, der Mensch von da an „unter Mühsal“ den Ackerboden bearbeiten musste, und als Wächter des Baumes des Lebens im Garten in Eden wurden Cherubim und nicht Menschen eingesetzt. Und wie sollte der Mensch die Schöpfung angesichts ihrer unermesslichen Größe, von der bereits ein Blick in den abendlichen Sternenhimmel eine Ahnung verleiht, be- wahren können? Nein, nicht er, nur Gott allein kann seine Schöpfung erhalten. Nicht zuletzt spricht gegen die Rede von Bewahrung, dass die gesamte Schöpfung beständigen und immer auch gewaltförmigen Wandlungsprozessen unterzogen ist, und dies gilt für die Geschichte der Erde ebenso wie für den ganzen Kosmos, in dem unablässig aus Energie Materie und aus Materie Energie wird.
Angesichts der Problematik der Rede von der „Bewahrung der Schöpfung“ hilft weiter, zunächst nicht nach dem Menschen und seinem Auftrag, sondern nach Gott und seinem Verhältnis zu seiner Schöpfung zu fragen, wobei ich mich weitgehend auf das göttliche Verhältnis zur Erde beschränken möchte. Viel zitiert wird in diesem Zusammenhang Psalm 24, 1 :„Die Erde ist des HERRN und was darinnen ist, der Erdkreis und die darauf wohnen.“ Die Erde wird hier als Gottes Eigentum vorgestellt und der Verfügung des Menschen entzogen. In dieser Erde ist Gott gegenwärtig, auch wenn er nicht in ihr aufgeht. Davon jedenfalls ging Martin Luther in einer Schrift von 1527 aus, in der er sein Abendmahlsverständnis gegen das von Huldrych Zwingli abgegrenzt hatte. Im Anschluss an Jesaja 66 meint Luther, „das Gott sey wesentlich gegenwertig an allen enden und durch alle Creatur, ynn alle yhren stucken und orten das also die welt Gottes vol ist und er sie alle füllet“. Die göttliche Gewalt müsse an allen orten wesentlich und gegenwertig seyn, auch ynn dem geringsten baumblatt“. Ähnliche Vorstellungen finden sich in der Theologiegeschichte immer wieder, für Jürgen Moltmann zum Beispiel ist „Gott in seinem Geist in der Schöpfung gegenwärtig“. Und der dänische lutherische Theologe Nils Hendrik Gregersen meint: „Es ist Gott, der in seiner göttlichen Fülle auf Erden gegenwärtig ist“.
Nicht nur hat Gott eine Schöpfungsbeziehung, auch die Schöpfung hat eine Gottesbeziehung, die sich freilich von der Beziehung Mensch – Gott unterscheidet, so Ruth Gütter. Immerhin berichten die Psalmen in immer neuen poetischen Worten, dass die ganze Schöpfung Gott lobe. Zudem verweist die Schöpfung auf Gott und hat Anteil an seiner Schönheit: „Denn es wird an der Größe und Schönheit der Geschöpfe ihr Schöpfer wie in einem Bild erkannt“, so das Buch der Weisheit im 13. Kapitel (Vers 5). Und in Psalm 19, 2 heißt es: „Die Himmel erzählen die Ehre Gottes, und die Feste [Firma- ment, so die Zürcher Bibel, Weltall, so die BasisBibel] verkündigt seiner Hände Werk“.
Die Gegenwart Gottes in seiner Schöpfung hat durch die Menschwerdung Christi eine neue Qualität erfahren, denn Gott ist jetzt im auferstandenen Christus in der Schöpfung gegenwärtig. In der Enzyklika Laudato Si‘ lesen wir, der Auferstandene sei „mit seiner allumfassenden Herrschaft in der gesam- ten Schöpfung gegenwärtig […]. Auf diese Weise erscheinen uns die Geschöpfe dieser Welt nicht mehr als eine bloß natürliche Wirklichkeit, denn geheimnisvoll umschließt sie der Auferstandene und richtet sie auf eine Bestimmung der Fülle aus. Die gleichen Blumen des Feldes und die Vögel, die er mit seinen menschlichen Augen voll Bewunderung betrachtete, sind jetzt erfüllt von seiner strahlen- den Gegenwart“.
Solche katholischen Glaubensaussagen, die panentheistisch anmuten könnten, korrespondieren mit Aussagen der zeitgenössischen protestantischen Theologie. Prominent ist hier Nils Hendrik Gregersen, der die Idee einer „tiefen Inkarnation“ entfaltet hat. Ausgehend vom Prolog des Johannesevangeliums, der „ein Stück Schöpfungstheologie“ sei“, verweist er darauf, dass der Logos als das die Schöpfung prägende Prinzip zwar in Jesus Mensch geworden sei, doch dass sich die Inkarnation nicht auf den Menschen beschränke. Denn wenn es im 1. Kapitel des Johannesevangelium in Vers 14 heiße: „das Wort ist Fleisch geworden“, so meine das griechische Wort für Fleisch, nämlich sarx, nicht nur den Menschen, sondern alle sterblichen Wesen: „Der göttliche Logos wurde Mensch, aber als Folge betrat er auch die körperliche Welt, die ausgefüllt ist mit Feldern, Füchsen und Spatzen“. Für den katholischen Theologen Markus Vogt gilt es, „im Aufschrei der Kreatur den leidenden Christus zu erkennen und Naturerfahrungen als möglichen Ort der Gotteserfahrung in den Blick zu nehmen, ohne dabei die Natur unmittelbar zu divinisieren“.
Eine Gestaltung der Schöpfungsbeziehung des Menschen als Gottesbeziehung verändert den Menschen. So heißt es in Laudato Si‘: „Die menschliche Person wächst, reift und heiligt sich zunehmend in dem Maß, in dem sie in Beziehung tritt, wenn sie aus sich selbst herausgeht, um in Gemeinschaft mit Gott, mit den anderen und mit allen Geschöpfen zu leben. So übernimmt sie in ihr eigenes Dasein jene trinitarische Dynamik, die Gott dem Menschen seit seiner Erschaffung eingeprägt hat. Alles ist miteinander verbunden, und das lädt uns ein, eine Spiritualität der globalen Solidarität heranreifen zu lassen, die aus dem Geheimnis der Dreifaltigkeit entspringt“.
Auch wenn sich die Vorstellungen von der Gegenwart Gottes in seiner Schöpfung im Einzelnen durchaus unterscheiden, legen sie also dennoch übereinstimmend den Schluss nahe, dass es im Anthropozän bei der Neubestimmung des Verhältnisses des Menschen zur Schöpfung um das Ver- hältnis des Menschen zu dem in seiner Schöpfung präsenten Gott geht. Damit aber wird die Auseinandersetzung mit den Herausforderungen im Anthropozän für Theologie und Kirche zur Kernfrage, an deren Bearbeitung es sich zeigt, ob Theologie recht getrieben wird und Kirchen Kirche Jesu Christi sind. Stehen also Theologie und Kirchen so wie zu den Zeiten des Nationalsozialismus und der Apartheid wieder vor einer Bekenntnisfrage?
Hierbei ist zu bedenken, dass das Doppelgebot der Liebe, das den Menschen in gleicher Weise an Gott und an den Nächsten verweist, und die Rede Jesu von der Endzeit, in der Jesus nach Matthäus 25 das Verhalten des Menschen zu seinem Nächsten auf das Verhalten des Menschen zu sich, zu Christus bezieht, im Anthropozän eine neue Dimension bekommen. Denn wenn unsere Lebens- und Wirtschaftsweisen durch die Verletzung planetarischer Grenzen andere Menschen in Not und Elend stürzen, ist davon Gott unmittelbar betroffen.
Schließlich sei wenigstens noch angemerkt, dass es zum Wesen der Kirche gehört, in einer todbedrohten Welt von der Liebe Gottes Zeugnis abzulegen. So heißt es in einem Dokument des Ökumenischen Rates der Kirchen aus dem Jahre 2012: „Die Kirche ist eine Gabe Gottes an die Welt, um die Welt zu verwandeln und dem Reich Gottes näherzubringen. Ihre Mission ist es, neues Leben zu brin- gen und die Gegenwart des Gottes der Liebe in unserer Welt zu verkünden“.
Diesen Teil meiner Überlegungen beschließe ich mit meiner vierten These:
These 4: Von Gottes Gegenwart in der Schöpfung und unserem Bekenntnis
Nicht eine Rede von der „Bewahrung der Schöpfung“, sondern der Glaube an die Gegenwart Gottes in seiner gesamten Schöpfung und die Entdeckung des leidenden Christus im Aufschrei der Kreatur bieten dem christlichen Handeln im Anthropozän lebensdienliche Orientierung. Weil es in den Beziehungen des Menschen zum Nächsten und zur Schöpfung um seine Gottesbeziehung geht, geht es um grundlegende Dimensionen christlichen Glaubens, und es wird zum Kerngeschäft von Theologie und Kirchen im Anthropozän, sich den lebensbedrohenden Herausforderungen zu stellen. Dabei ist sorgsam zu prüfen, ob Christinnen und Christen und mit ihnen Kirchen und Theologie vor einer neuen Bekenntnisfrage stehen und was Inhalt eines möglichen Bekenntnisses sein könnte.
Die Zeichen der Zeit deuten: Vom prophetischen Amt der Kirche
Wenn es also Kirche und Theologie und mit ihnen allen Christenmenschen um Gott im Anthropozän geht – und wir können hier die Frage Dietrich Bonhoeffers aus dem Jahre 1944 mit hören, wer Christus heute für uns sei –, dann geht es um die prophetische Frage nach Gott in der Gegenwart, es geht um die „Zeichen der Zeit“. Und damit bin ich mitten in meinem vierten Teil.
Im Anthropozän gehört es zu den vornehmsten Aufgaben von Theologie, Kirche und allen Christenmenschen, die Zeichen der Zeit „als Anruf Gottes“ deuten, so Markus Vogt. Es geht um unsere Erfahrung mit der Erfahrung und um die Welt hinter der Welt. In einer Zeit, in der die Menschheit am Scheidewege steht, wären daher Propheten hilfreich. Die hebräische Bibel erzählt uns, wie Propheten in Zeiten der Krisen – seien es soziale, politische oder auch militärische Krisen gewesen – die Krisen als Zeichen der Zeit und damit als Anruf Gottes interpretierten. Prophetisch war also zum Beispiel nicht der bloße Aufruf zu sozialer Gerechtigkeit, so wenig die bloße Wiederholung von Erkenntnissen der Erdsystemforschung prophetisch wäre, prophetisch war die Rede, weil sie Gott und das Verhält- nis des Menschen zu ihm und damit das Verhältnis des Menschen zu seiner Nächsten ins Spiel brach- te. Hierbei verbanden die Propheten des Alten Bundes mehrheitlich eine Anklage Gottes gegen Volk und Mächtige mit der Zusage von Heil im Falle der Umkehr. „Bekehrt euch, so werdet ihr leben“, heißt es bei Ezechiel 18, 32.
Nun aber gibt es, zumindest nach meiner Kenntnis, in unserer Zeit keine Prophetinnen und Propheten mehr, und vielleicht ist das gut so. Denn Geschichte und Gegenwart sind voll von Beispielen verhängnisvoller Propheten, die großes Leid über Menschen brachten und bringen. Da hilft auch die Unterscheidung von rechten und falschen Propheten nicht, denn sie alle berufen sich auf den Auftrag eines Gottes, ohne dass die Behauptung einer solchen Beauftragung einer Überprüfung zugänglich wäre. Müssen wir also heute auf Prophetie verzichten, wo wir sie doch nötiger denn je hätten, um die „prophetische Chance“ unserer Krise zu entdecken, einer Krise, „in der die Wahrheit des Evangeliums auf dem Spiel steht“, so der südafrikanische Theologe Ernst Conradie?
Ich denke nicht und plädiere mit Nachdruck für ein prophetisches Amt der Kirche, das gemeinsam von allen Christinnen und Christen ausgeübt wird. Es ist Aufgabe der christlichen Gemeinschaft, gemeinsam und deliberativ die Zeichen der Zeit zu deuten und dabei unterschiedliche Sichtweisen und Interpretationen aufeinander zu beziehen. Gewiss geschieht dies schon ab und an und hier und dort, aber die Kirchen sind in ihrer Verfasstheit noch weit davon entfernt, Orte der gemeinsamen Interpretation der Zeichen der Zeit zu sein und dies als eines ihrer Kerngeschäfte zu begreifen. Diesem Man- gel muss erstens mit einer Weiterentwicklung kirchlicher Ordnungen Abhilfe geschaffen werden – und dies auf allen Ebenen und in allen funktionalen Gliederungen kirchlichen Lebens. Zweitens und im Zusammenhange damit sind Orte und Formen der gemeinsamen Selbstbefähigung von Christinnen und Christen zu finden und zu entwickeln, um in der Gemeinschaft der Glaubenden gemeinsam die Zeichen der Zeit in lebenspraktischer Absicht zu lesen.
In der Perspektive einer solchen gemeinsamen prophetischen Schau können wir entdecken, in welcher Form, in welchem Maße und mit welchen Konsequenzen die gegenwärtige Krise der Menschheit auch – wenngleich nicht nur, diese Einschränkung ist mir wichtig – eine Folge der spirituellen Krise des Menschen, eine Folge seiner Existenz- und Sinnkrise im Beziehungsgeflecht Gott – Schöpfung – Mensch ist. In diesem Sinne meint Spiritualität, den Weltbezug als Gottesbezug zu deuten und in der spirituellen Beziehung zu Gott die Welt zu gestalten. Eine solche Spiritualität ist also „transformativ“, so der Ökumenische Rat der Kirchen, und „ökologisch“, so Papst Franziskus. Spiritualität wird sich dann „politisch artikulieren und bewähren“, und „Ethik wird vor allem eine Ethik der Strukturen“, wie der katholische Theologe Michael Rosenberger betont.
Hierbei hat die prophetische Rede wie schon in den Zeiten, von denen uns die hebräische Bibel berichtet, mit Widerständen zu rechnen, denn sie wird widerständig gegen Machtstrukturen und jene Lebensgewohnheiten sein, die sich nur zu Lasten von Menschen und Schöpfung aufrechterhalten lassen. Zu dieser Widerständigkeit gehört die Einsicht, dass es ein „Zu spät“ gibt, so der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland. Im Anschluss an die entsprechende Mahnung des Propheten Jesaja heißt es im Wort des Rates aus dem Jahre 2009 zur globalen Finanz- und Wirtschaftskrise: „Es gibt ein ‚Zu Spät‘. Auch wenn wir deutlich machen wollen, dass es Wege aus der Krise gibt – diese Gefahr dürfen wir nicht verschweigen“. Vor diesem Hintergrund kommt dann der Suche nach einer zeitgemäßen Form christlicher Apokalyptik als Widerstandstheologie beträchtliche Bedeutung zu, und dies gilt auch für die Aktualisierung einer Eschatologie, die die verheißene Neuschöpfung von Himmel und Erde auf die gegenwärtige Welt bezieht. Nicht zuletzt wird sich die gemeinsame Deutung der Zeichen der Zeit nicht vor der Frage drücken dürfen, wie Gott all das gegenwärtige und drohende Unheil im Anthropozän zulassen kann, die Theodizee steht also wieder mit Macht auf der Tagesord- nung theologischen Denkens.
Mein Plädoyer für eine Stärkung des prophetischen Amtes der Kirche führt mich zu einer fünften These:
These 5: Vom prophetischen Amt christlicher Gemeinschaft
Im Anthropozän kommt dem prophetischen Amt der Kirche als gemeinsamem Amt aller Christinnen und Christen besondere Bedeutung zu. Kirchliche Ordnungen müssen so weiterentwickelt und Orte und Formen der Selbstbefähigung der Glieder der Kirche gefunden und gestaltet werden, dass dieser Bedeutung Rechnung getragen und Folgen der Widerständigkeit prophetischen Redens und Handelns ausgehalten werden können.
Gottes Versöhnungshandeln für die Schöpfung: Trost und Ermutigung im Anthropozän
Dem prophetischen Amt der Kirche geht es nur deshalb um die Deutung der Krise der Menschheit als Krise der Gottes- und Schöpfungsbeziehung des Menschen, weil es ihm um das verheißene Heil für die Schöpfung und damit auch für den Menschen geht. Daher ist das prophetische Amt der Kirche vor allem ein Trostamt, das zu einer Umkehr zum Leben ermutigt und befähigt. Eine solche Zuschreibung mag zunächst erstaunen, denn in den Prophetenbüchern des Alten Testamentes überwiegen Mahn- und Gerichtsworte. Doch Propheten verknüpften nicht nur mahnende Worte mit einer Heilszusage für den Fall einer Umkehr, eine entsprechende Stelle aus Ezechiel 18 habe ich bereits zitiert und weitere Beispiele lassen sich leicht finden, mitunter sprachen sie auch dem Volk in einer Notsituation Trost zu. So entstand nach der Zerstörung Jerusalems im Jahre 587 v. Chr. mit dem Buch des zweiten Jesaja ein ausgesprochenes Trostbuch, das die Heimkehr aus dem babylonischen Exil verhieß: „Tröstet, tröstet mein Volk, spricht euer Gott“, lautet zu Beginn des Buches (Jesaja 40, 1) der Auftrag an den Propheten.
Hier geht es um einen Trost, der ins Leben führt, um einen „ganzheitlichen Vorgang“, der den Einzelnen und die Gesamtheit des Volkes einbezieht, so der badische Theologe Peter Riede. Zugleich wird deutlich, dass es eines Trösters bedarf. „Wo kein Tröster da ist […], wird der Sinn des Lebens grundsätzlich in Frage gestellt“, um noch einmal Peter Riede zu zitieren. Und so soll christliche Gemeinschaft Trostgemeinschaft werden, wie Paulus betont: Der „Gott allen Trostes“ tröstet uns „in aller unserer Bedrängnis, damit wir auch trösten können, die in allerlei Bedrängnis sind, mit dem Trost, mit dem wir selber getröstet werden von Gott“ (2. Kor. 1, 4). Da wir gerade angesichts der Heraus- forderungen im Anthropozän das Tröstliche nur als Wirklichkeit hinter der Wirklichkeit erkennen können und sich die Vorstellung von der Gegenwart des verheißenen künftigen Heils an unseren Alltagserfahrungen stößt, brauchen wir die Gemeinschaft der Christinnen und Christen als Lebens- Glaubens- und Erfahrungsgemeinschaft, in der wir immer wieder neu auf die Trostworte Gottes hören und sie uns einander zusagen als Ermutigung zu christlicher Praxis.
Denn dass dieser Trost alles andere als Vertröstung ist, zeigt sich wiederholt in der hebräischen Bibel, wenn Gott denjenigen Menschen seinen Beistand zusagt, die er mit einem Auftrag versieht. Als der junge Jeremia seiner Berufung zum Propheten mit Hinweis auf seine Jugend ausweichen wollte, sag- te Gott zu ihm: „Sage nicht: ‚Ich bin zu jung‘, sondern du sollst gehen, wohin ich dich sende, und predigen alles, was ich dir gebiete. Fürchte dich nicht vor ihnen; denn ich bin bei dir und will dich erretten, spricht der HERR“ (Jeremia 1, 7+8). Gott verheißt dem ängstlichen Jeremia keinen Erfolg, son- dern seinen Beistand, wenn er die Berufung annimmt. Und im Neuen Testament tröstet Jesus in seinen Abschiedsreden die Jünger mit den Worten: „Liebt ihr mich, so werdet ihr meine Gebote halten. Und ich will den Vater bitten und er wird euch einen andern Tröster geben, dass er bei euch sei in Ewigkeit: den Geist der Wahrheit“ (Joh. 14, 15-17a). Auch Jesus verspricht seinen Jüngern keinen Erfolg, sondern den Beistand des Geistes der Wahrheit.
Beide Textstellen sind gerade angesichts der existentiellen Unsicherheiten im Anthropozän von Belang: Denn ein konsequentes und radikales Eintreten für eine Kultur der Nachhaltigkeit muss sich nicht auf Erfolgsaussichten gründen. Ob eine hinlänglich holozänartige Gestaltung des Anthropozän noch gelingt, ist für unser Handeln unerheblich und liegt ja auch überhaupt nicht in unserer Macht. Denn unser Trost ist nicht eine Erfolgsverheißung, sondern Gottes Zusage, bei uns zu sein, wenn wir zum Leben umkehren. Erfolg, so scheint mir, ist keine christliche Kategorie. In diesem Sinne möchte ich an das berühmte Wort von Václav Havel erinnern, Hoffnung sei „nicht die Überzeugung, dass etwas klappen wird, sondern die Gewissheit, dass etwas seinen guten Sinn hat – egal, wie es am Ende ausgehen wird“.
Wie die Geschichte der Menschheit im Anthropozän ausgehen wird, wissen wir nicht. Christinnen und Christen glauben aber, dass Gottes Versöhnungshandeln wie dem Menschen auch der gesamten Schöpfung gilt. So schreibt Paulus: „Auch die Schöpfung wird frei werden von der Knechtschaft der Vergänglichkeit zu der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes“ (Römer 8, 21). Eine ähnliche Hoffnung drückt die Erklärung zur Einheit aus, die von der zehnten Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen 2013 in Busan verabschiedet worden war: „Es ist Gottes Wille, dass die ganze Schöpfung durch die verwandelnde Macht des Heiligen Geistes versöhnt in der Liebe Christi in Einheit und Frieden zusammenlebt (Eph 1)“. Hier fällt ein Schlüsselwort für das prophetische Trostamt der Kirche im Anthropozän: Versöhnung. So heißt es im Christushymnus im ersten Kapitel des Kolosserbriefes, Gott wollte in Christus „alles“ versöhnen. Und im zweiten Brief des Paulus an die Korinther lesen wir im fünften Kapitel, Gott habe „in Christus die Welt mit sich versöhnt“ (V. 19). Diese kosmische Versöhnung ist zugleich Befreiung der Schöpfung, an der wir Menschen mitwirken können.
Wenn wir das Leiden der Geschöpfe auf der Erde verringern und wenn wir nicht mehr als nötig in das Erdsystem eingreifen, dann „erwacht die Hoffnung der Schöpfung zu neuem Leben. In dieser Weise würdigt uns Gott, an der Befreiung der Schöpfung aktiv teilzuhaben“, so Gerhard Liedke. Wenn wir dies tun, lassen wir uns auf das kosmische Versöhnungshandeln Gottes ein, das Verheißung und Gegenwart ist. Sollten wir da in den Kirchen nicht eher von einer Kultur der Versöhnung als von Nachhaltigkeit sprechen, um deutlich zu machen, dass es uns immer in unseren Beziehungen zur Schöp- fung und zu unseren Mitmenschen um Gottesbeziehungen geht, wie umgekehrt unsere Gottesbeziehungen ihren Niederschlag finden in unseren Beziehungen zur Schöpfung und zu unseren Mitmenschen, und dass diesen Beziehungen Versöhnung verheißen ist?
Der Glaube an die Versöhnung, die von Gott her geschieht, befreit uns von dem Gefühl der Überforderung im Anthropozän. Denn erstens ist Umkehr keine „moralische Leistung“, sondern „etwas, das dem Menschen als Gnade geschenkt wird“, wie Markus Vogt meint. Und zweitens müssen wir uns nicht stärker machen, als wir sind. Im zweiten Brief an die Korinther lässt Paulus Gott sagen: „Meine Kraft vollendet sich in der Schwachheit“ (2. Korinther 12, 9). Drittens müssen wir nicht die Welt ret- ten, denn die Rettung der Welt ist das Geschäft Gottes und wir müssen nicht mehr tun, als wir zu tun vermögen.
Nicht zuletzt können wir die Botschaft von Kreuz und Auferstehung als Zeichen dafür lesen, dass der Tod nicht das letzte Wort hat und es eine Alternative zu den tödlichen Strukturen der Welt gibt. Als Versöhnte können wir diese Alternativen leben und entdecken, „dass Gottes Liebe durch die Ver- wundbarkeit des Kreuzes arbeitet“, wie der südafrikanische Theologe Ernst Conradie meint. Das dann wäre das wirkliche prophetische Trostamt der Kirche, dass wir inmitten aller Bedrohungen im Anthropozän Keimzellen versöhnten Lebens bilden, in denen Menschen ihre Ressourcen miteinander teilen, in denen sie sich zu einem sorgsamen Umgang mit den Mitgeschöpfen ermutigen und in denen sie einen doppelten Perspektivwechsel wagen. Denn, so noch einmal Conradie, „Dinge unterschiedlich sehen schafft eine andere Welt“. Dann entdecken wir im Nächsten Spuren Christi, und in der Schöpfung begegnet uns Gott. Auf der Suche nach seinen Spuren werden wir Gottes Schönheit entdecken, und im staunenden Lobpreis der Schönheit der Schöpfung unsere Freiheit finden. Eine Freiheit, die uns die menschengemachten Pfadabhängigkeiten beiseite wischen lässt, die uns löst vom Konsumzwang, die uns ermächtigt, mutig todbringenden Strukturen entgegenzutreten und denjenigen Akteuren zu wehren, die solche Strukturen schaffen. Dann also werden wir wirklich politisch werden und streitbar der Stadt Bestes im Anthropozän suchen, ganz im Sinne des Propheten Jeremia, der dem verschleppten Volk Israel im fremden Babel zumutet, inmitten der garstigen Umwelt für das Beste zu wirken.
Die Überlegungen dieses Abschnitts fasse ich in meiner sechsten These zusammen:
These 6: Vom Versöhnungshandeln Gottes und von gelebten Alternativen
Kirchen, ihre Gemeinden, Gruppen, Werke und Dienste können als christliche Trostgemeinschaften immer wieder Zeugnis vom kosmischen Versöhnungshandeln Gottes ablegen und dieses Zeugnis durch die Entwicklung gelebter Alternativen zu den tödlichen Strukturen der Welt bekräftigen. Entfal- ten sie eine Kultur der Versöhnung, ermutigen und ermächtigen sie zu mutigem und widerständigem Handeln auch gegen mächtige Strukturen und Akteure.
Die Entfaltung des prophetischen Trostamtes der Kirche: Unterwegs zu einer ökumenischen ökologischen Reformation?
Wie aber kann das prophetische Trostamt der Kirche im Anthropozän entfaltet, wie kann es gelebt werden, welcher kirchlichen Strukturen und Strukturreformen bedarf es? Was folgt aus dem prophetischen Trostamt für Gruppen und Gemeinden vor Ort, was für kirchliche Werke und Dienste, was für die kirchliche Wohlfahrtspflege, was für kirchliche Hochschulen und theologische Fakultäten? Das alles weiß ich (fast) noch nicht. Aber ich weiß, dass wir uns gemeinsam auf die Suche begeben und gemeinsam Neues erproben können – und dass wir uns nicht mit den Antworten von gestern zufrieden geben müssen.
Wenigstens einige Stichworte möchte ich nennen als Hilfsfragen für die gemeinsame Suche. Einige Anregungen finden sich auch im Impulspapier „Auf dem Weg zu einer Kultur der Nachhaltigkeit. Plädoyer für ökumenische Such- und Konsultationsprozesse“, das 2017 im Rahmen des Ökumenischen Prozesses „Umkehr zum Leben – den Wandel gestalten“ veröffentlicht wurde.
Eine Voraussetzung für die Deutung der Zeichen der Zeit ist der wache und scharfe Blick auf den Zustand der Erde im Anthropozän und auf mögliche Perspektiven für die menschliche Zivilisation. Hierfür ist eine Intensivierung des Austausches von Theologie und Kirchen mit der Erdsystemforschung ebenso erforderlich wie die Weitergabe wichtiger Ergebnisse der Erdsystemforschung an kirchliche Gliederungen, Gemeinden und Gruppen, zum Beispiel mit Hilfe der kirchlichen Bildungsarbeit. Gerade in unserer Zeit mit ihrer Vorliebe für Postfaktisches ist die Wahrnehmung wissenschaftlicher Erkenntnis unabdingbar, auch wenn sie Anlass zu Beunruhigungen bietet.
Zweitens ist zu fragen, wie die gemeinsame prophetische Deutung der Zeichen der Zeit gelingen und wie sie zu einem zentralen Anliegen der Kirchen in all ihren funktionalen und regionalen Gliederungen werden kann. Dies erfordert, fragmentierte Sichtweisen zu überwinden, die Vertretung von Par- tikularinteressen zugunsten gemeinsamer Suchen aufzugeben und versäulte kirchliche Strukturen, die jeweils nur den Blick auf einen Arbeitsbereich oder gar nur auf Teile desselben erlauben, so zu entwickeln, dass die reichen Erfahrungen in den unterschiedlichsten Arbeitsbereichen und Gliede- rungen miteinander ins Gespräch gebracht werden können. Nicht zuletzt ist grundlegende Voraussetzung für die Deutung der Zeichen der Zeit, dass in den Kirchen, in ihren Werken, Gliederungen, Gemeinden und Gruppen neue Lust am theologischen Fragen und Denken entsteht.
Drittens aber wächst die Fähigkeit zur Deutung der Zeichen der Zeit niemals allein aus theologischer Reflektion, sondern ist Frucht gemeinsamen spirituellen Lebens, einer gelebten transformativen und ökologischen Spiritualität. Denn die Zeichen der Zeit erschließen sich nur aus der Gottesbeziehung des Menschen, die von seiner Schöpfungsbeziehung nicht zu trennen ist, und sie werden nur in konkreten Lebenskontexten der Nachfolge Christi lesbar. Zu einer solchen lebenspraktischen Spiritualität gehört die Entdeckung des Heiligen als Gegenentwurf zu einer angeblich alternativlosen Welt, in der die Ökonomie alle Lebensbereiche unterwirft und sich verfügbar macht. In diesem Sinne heißt es in Laudato Si‘: „Es wird nicht möglich sein, sich für große Dinge zu engagieren allein mit Lehren, ohne eine ‚Mystik‘, die uns beseelt, ohne ‚innere Beweggründe‘, die das persönliche und gemeinschaftliche Handeln anspornen, motivieren, ermutigen und ihm Sinn verleihen“. Nicht zuletzt ist Ausdruck dieser spirituellen Ausrichtung der christlichen Gemeinschaft die beständige und gemeinsame Bitte um den Geist der Wahrheit, denn, so Jesus zu seinen Jüngern, „der wird euch alles lehren“.
Viertens können Kirchen, ihre Werke, Dienste, Gemeinden und Gruppen zu einem lebendigen Zeugnis für die Möglichkeit einer Kultur der Versöhnung als Alternative zu herrschenden lebensfeindlichen Strukturen werden, indem sie neue Formen christlicher Gemeinschaften finden und leben, die sich durch gemeinsames spirituelles Leben, durch theologische Arbeit, durch das Teilen von Ressourcen und durch die beständige Ermutigung sowohl zu Genügsamkeit als auch zu mutigem politischen Tun unter Einschluss prophetischer Zeichenhandlungen auszeichnen. Solche Gemeinschaften im Geiste einer Kultur der Versöhnung werden zugleich Trostgemeinschaften sein, die in Zeiten struktureller Überforderung der und des Einzelnen und unvermeidbarer Gefühle der Hilflosigkeit Mut zum Handeln machen. Solche christlichen Gemeinschaften sind unverzichtbar, Aufbrüche im Anthropozän sind auf sie angewiesen. Denn es ist „zur Lösung einer so komplexen Situation wie der, mit der sich die Welt von heute auseinandersetzen muss, nicht genug, dass jeder Einzelne sich bessert. Die isolierten Einzelpersonen können ihre Fähigkeit und ihre Freiheit verlieren, die Logik der instrumentel- len Vernunft zu überwinden, und sind schließlich einem Konsumismus ohne Ethik und ohne soziales und umweltbezogenes Empfinden ausgeliefert. Auf soziale Probleme muss mit Netzen der Gemeinschaft reagiert werden, nicht mit der bloßen Summe individueller positiver Beiträge“, so Papst Franziskus.
Fünftens gehört es zum prophetischen Amt der Kirche, dass Kirchen, ihre Gliederungen, Werke, Gemeinden und Gruppen den Mut zur Widerständigkeit gegen lebensfeindliche Strukturen und Verhaltensweisen und zur entschiedenen Parteiergreifung für den leidenden Nächsten und die leidende Kreatur auch dann haben, wenn sie sich dadurch gesellschaftliche und politische Konflikte einhalten.
Sechstens können Kirchen die erforderlichen Suchprozesse und Neuansätze als Keimzellen einer neuen ökumenischen Reformation im Anthropozän werten und gestalten. Denn der alten Einsicht: ecclesia semper reformanda wächst jetzt neue Dringlichkeit zu. Ich finde es überaus ermutigend, dass inzwischen der Ruf nach einer neuen Reformation an vielen kirchlichen Orten immer lauter wird. So sieht Rasmussen einen „gemeinsame[n] Aufschrei für eine ökologische Reformation“, die stattfinden müsse. Ernst Conradie vernimmt ein „Rufen nach einer andauernden Reformation der Christenheit“. Bereits im März 2016 hatte eine Konsultation des Ökumenischen Rates der Kirchen in Volos von der „Notwendigkeit einer ökologischen Reformation aller christlichen Traditionen“ gesprochen und festgestellt: „Eine ökologische Reformation der Christenheit ist eine Angelegenheit der Buße, der Bekehrung und der Erneuerung aller christlichen Traditionen“.
Bereits diese wenigen Hilfsfragen für die Suche nach einer Entfaltung des prophetischen Trostamtes der Kirche zeigen, dass diese Suche ohne den Einsatz der notwendigen kirchlichen Ressourcen nicht gelingen kann. Daher schlage ich vor, dass die Kirchen mindestens zehn Prozent ihrer Haushaltsmittel und zehn Prozent ihrer persönlichen Ressourcen für diese Aufgabe einsetzen. Als jahrzehntelanges Mitglied kirchlicher Leitungsorgane weiß ich, dass der kirchliche Ressourceneinsatz kirchliche Prioritäten spiegelt. Im Anthropozän aber muss die Entfaltung des prophetischen Trostamtes Kirche die Priorität der Kirchen sein.
Ich schließe mit meiner siebten These:
These 7: Die Entfaltung des prophetischen Trostamtes der Kirche als Reformation
In vielfacher Weise berührt das prophetische Trostamt der Kirche die Gestalt der Kirchen. Es verknüpft wissenschaftliche Analysen über den Zustand der Erde, theologisches Denken, spirituelles Leben, christliche Gemeinschaft, die Suche nach gelebten Alternativen zu den herrschenden tödlichen Struk- turen und prophetisches Reden und Handeln unauflösbar miteinander. Diese Verknüpfung weist den Weg hin zu einer ökumenischen ökologischen Reformation. Zugleich ist die Entfaltung des prophetischen Trostamtes der Kirche auf einen ausreichenden Einsatz kirchlicher Ressourcen angewiesen.
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