„Es erreichte mich eine Botschaft der Liebe.“ Dieses Zitat des Künstlers fasst den geistlichen Weg zusammen, der sich in Krankheit auftun kann. Geistliche Begleitung kann dabei eine Hilfe sein, achtsam auf den eigenen Körper und die Stimme Gottes zu lauschen.

Krankheit und Heilung als Weg der Seele

Text: Beate Bosse – Photo: Beate Bosse /mit freundlicher Genehmigung des Künstlers: Friedhelm Apollinar Kurtenbach

Mai 1521: Der stolze Soldat Ignatius von Loyola wird von einer Sekunde auf die andere zum Krüppel. Im jungen Alter von 30 Jahren zertrümmert eine Kanonenkugel sein Bein und zerschmettert dadurch nicht nur seine Gesundheit, sondern auch seine Karriere, seine Schönheit und seine Lebens-träume. Gezeichnet durch Verwundung und Krankheit unterzieht er sich mehreren Operationen; dazu kommen seelische Verletzungen, innere Zweifel, tiefste Verzweiflung und Suizidgedanken. Für Monate ist Ignatius ans Krankenbett gefesselt. Er beginnt über sein bisheriges Leben nachzudenken und erkennt, wie notwendig es für ihn ist, umzukehren, Buße zu tun, sich wandeln zu lassen. Nach langer Genesungszeit sucht er die Stille in Manresa und auf dem Montserrat. Immer deutlicher wird ihm seine tiefste Sehnsucht: Er will sein Leben mit Gott leben. Immer besser versteht er die Botschaft der Liebe Gottes, die ihn durch seine Verletzung erreichte: Nicht mehr weltliche Taten sollen sein Leben bestimmen, sondern nur noch Taten für Gott.

November 2008: Innerhalb von Sekunden ändert sich das Leben von Friedhelm Apollinar Kurtenbach. Die Wucht, mit der den 56-jährigen Architekten die Diagnose „Krebs“ trifft, gleicht der einer Kanonenkugel, zerschmettert seine beruflichen Pläne und seine Lebensträume. Seine Erkrankung fordert einige Operationen und Therapien; er erlebt Verzweiflung und Ohnmacht, ringt um sein Leben. Schließlich findet er zur Kontemplation und zum Malen und erlebt, wie „seine oft weinende Seele Freude, Friede, Licht und Erleichterung erfährt“. Das Gebet der Stille und die Farben seiner Bilder öffnen seine Seele für den Reichtum wirklichen Lebens. So entsteht sein Projekt „Kunst und Kontemplation“ und sein Buch „Eine Hand voll Gesundheit“. Heute sagt Friedhelm ganz bewusst und provokant: „Durch die Krankheit erreicht mich eine Botschaft der Liebe“.

Als Titelbild habe ich sein Kunstwerk „LosLassen“ gewählt. Hier drückt er aus, dass er seine Krebserkrankung mit dem Besteigen einer Lebensleiter vergleicht: Die Sprossen sind für ihn Lebens- und Leidensstufen zugleich, auf denen er ein Stück Vergangenes hinter sich lässt und neuen, wenn auch ungewissen Zielen entgegen geht. Durch die dargestellte Tür geht seine Seele dem inneren Licht entgegen, um für ein paar Momente in einer heilen Welt zu verweilen.

Knapp 500 Jahre liegen zwischen diesen beiden Lebensgeschichten, die stellvertretend für viele Schicksale stehen. Krankheit, Verletzung, Operationen und langwierige Genesungsprozesse bedeuten zunächst Schmerz und Leid und führen oft zu einem seelischen Zusammenbruch und zu einer Glaubenskrise. Immer wieder frage ich mich: Wie gehen wir als Christen mit unserer Erkrankung um? Stellt sie uns vor eine geistliche Aufgabe? Führt sie uns zu einem MEHR an Leben, das wir noch nicht kennen? Was möchte Gott uns durch die Krankheit sagen? Wie erkennen wir den Weg, den unsere Seele gehen möchte? Kann es uns wirklich gelingen, die Zumutung von Schmerz und Leid als eine Botschaft der Liebe zu entdecken?

Fragen, deren Antworten viel Zeit in Anspruch nehmen. Nur wenn ich als Begleitende geduldig bin und ausstrahle, dass nichts eilig ist oder drängt, kann ich meinem Gegenüber den Freiraum schenken, in dem seine momentanen Themen, Zweifel und Ängste einen Platz finden.

Angsteinflößende Krankheitsprognosen und unerträgliche Schmerzen ließen mich vor einigen Jahren selbst in den Abgrund eines inneren Chaos stürzen. Mit Tabletten versuchte ich alles auszublenden, bis ich einem Arzt begegnete, der mir sagte: „Ich glaube, Sie sind offen für eine etwas andere Art der Heilung“. Lange Zeit habe ich nicht verstanden, was er damit meint, aber seine Worte gingen mir nicht mehr aus dem Kopf.

Heute weiß ich, dass „die etwas andere Art der Heilung“ „Ganzwerdung“ meint. Unsere Seele hat den Drang zur Ganzheit, weil sie dem Ganzen entspringt. Unser Lebensweg ist letztendlich der Weg in unsere göttliche Mitte, die ein Symbol dieser Ganzheit ist. Diese Ganzheit ist von Anfang an in uns und doch benötigen wir Zeit, sie zu finden. Heilung in diesem Sinne ist somit nur möglich, wenn sich alle kranken, verdrängten und verletzten Anteile in uns wieder zu einem Ganzen zusammenfügen. Weder Ignatius von Loyola noch Friedhelm Kurtenbach, ich selbst oder tausend andere haben es in der Hand, körperlich gesund zu werden; wohl aber darf jeder von uns auf seine ganz individuelle Weise in und trotz der Krankheit einen Sinn finden.

Ob vorübergehend, wiederkehrend oder für immer krank, ob als unheilbar entlassen oder als austherapiert abgestempelt – unser Leben geht nicht einfach wie gewohnt weiter. Was uns in diesen Situationen herausfordert, wollen wir zunächst nicht sehen: Es geht nicht darum, unsere Vergangenheit oder Zukunft zu überdenken, sondern unsere Identität zu hinterfragen, und das ist immer damit verbunden, in den Abgrund unserer eigenen Seele zu schauen.

Wenn uns also unsere gesundheitlichen Probleme zu einer spirituellen Wende, zu geistlichem Wachstum, zu einem sinnerfüllten Leben führen, dürfen wir wahrlich von Heilung sprechen; dann entdecken wir, dass uns durch die Krankheit eine Botschaft der Liebe erreicht und jede „Leidensgeschichte“ eine in diesem Sinne verstandene „Liebesgeschichte“ werden kann.

Ausgangspunkt einer solchen Wandlung ist meistens eine ausweglos scheinende Situation und die damit verbundene Erfahrung von Schwäche, Schmerz, Angst, Ohnmacht oder körperlicher Hilflosigkeit und Erschöpfung. So muss meine Begleitung zunächst immer verstehende Liebe sein, die Wärme und liebevolles Mitgefühl schenkt, die das Leid mit aushält und durch alle Hoffnungslosigkeit mitgeht. Es geht nie um ein „Hauptsache gesund!“, sondern darum heil zu werden, ausgesöhnt mit Gott, mit uns, mit unserem Nächsten und mit dem Gegebenen. Jesus will uns ganz heil machen, mit Ewigkeitswert.

Geistliche Begleitung heilt freilich keine Krankheiten, vielmehr sucht sie einen Weg, die Seele des Begleiteten zu berühren. Bei Mk. 5, 21-43 lesen wir, dass Jesus als Arzt auf den Weg zu einem Hausbesuch ist. Unterwegs berührt ihn eine seit Jahren erkrankte, austherapierte Frau. Sie ist sich ganz sicher: Wenn sie IHN berührt, wird sie gesund. Diese Schriftstelle zeigt mir, wie wichtig es ist, mich als Begleiterin von dem, der Hilfe sucht, berühren zu lassen und für seinen körperlichen und seelischen Schmerz offen zu sein, ohne diesen zu meinem eigenen zu machen.

Krankheit war zu keiner Zeit Ausnahmefall, sondern ist schon immer Regelfall des Lebens. Wie oft fällt gerade in den ersten Begleitgesprächen der Satz: „Ich möchte so gerne wieder gesund werden!“ Das erinnert mich an den Gelähmten am Teich Betesda, den Jesus ganz direkt fragt: „Willst du gesund werden?“ ER fragt nicht: „Willst du gesund sein?“ Und genau vor diesem „werden“ scheuen wir uns oft. Jesu Frage ist gar nicht so abwegig, denn wie gerne halten wir an unserer Krankheit fest. Das kann verschiedene Gründe haben: Angst vor Veränderung, Bequemlichkeit, ein Krankheitsgewinn, den wir nicht loslassen wollen. Vielleicht möchte unsere Seele auch eine ganz bestimmte Erfahrung mit der Erkrankung machen oder sie stellt sich damit unbewusst denen zu Verfügung, die an uns Mitgefühl, Hilfsbereitschaft, Güte und Liebe üben. Heilung ist erst dann möglich, wenn unsere Seele eine neue Wahl trifft: die Wahl gesund zu werden. Zu diesem „Werden“ gehört eine große Portion Mut, denn es gilt Altes, Ungutes und Festgefahrenes aufzugeben und Neues, Gutes, Heilendes zu wollen und zu begrüßen.

Jesus selbst stellt uns diese provokante Frage; ER selbst mutet uns damit die Entscheidung zu, uns von IHM heilen zu lassen. Überfordert uns diese Entscheidungsfreiheit? Es ist eine nicht zu unterschätzende Aufgabe, uns der Frage „Willst du gesund werden?“ zu stellen. IHM aus ganzem Herzen mit einem Ja zu antworten, drückt unsere Sehnsucht und unsere Entschiedenheit für einen Neubeginn aus, für eine komplette äußere und innere Umstrukturierung.

Doch welche Konsequenz hat unser Ja? Christ sein heißt immer auch Leidträger sein und gefühlt ist unser Leidenskelch oft bis zum Überfließen gefüllt, eine allzu verständliche Reaktion, dass wir unsere Krankheit nicht (wahr-)haben wollen. Damit der von mir Begleitete alle Gefühle, die diese Situation mit sich bringt, zur Sprache bringen kann, darf ich mich als „Resonanzraum“ zur Verfügung stellen. Neben Angst und Hoffnungslosigkeit spüre ich hier oft Verbitterung oder auch eine Anklage gegen Gott: „Warum lässt ER das zu?“ „Warum trifft es gerade mich?“

In dieser Phase kann mein Schweigen sehr wichtig sein, denn zu glatte oder gar zu religiöse Antworten führen dazu, dass sich die Seele meines Gegenübers wieder verschließt. Nur wenn der Begleitete meine Wertschätzung, Wärme und ehrliche Liebe spürt, kann er sich öffnen und sich seinen Gefühlen stellen. Durch mein aktives Zuhören kann ich ihm helfen, all seine inneren Regungen und Widerstände wahrzunehmen, zu würdigen und neugierig darauf zu werden, welche Botschaft ihn durch die Krankheit erreichen möchte.

Die Idee, dass jede Krankheit im Kontext mit dem Weg unserer Seele steht, ist uralt. Ihrem Wesen nach finden wir sie auch in der Heiligen Schrift und in den Biographien vieler Heiliger. Ich denke an Hildegard von Bingen, von der wir wissen, wie eng ihre Visionen mit ihrer Migräne zusammenhingen; ich denke an Theresa von Avila, die betonte, dass unser Körper das Haus unserer Seele ist. So definiere ich „Rehabilitation“ von Krankheit gerne als „Wiederbehausung“. Unser Körperhaus wieder in Besitz zu nehmen und es mit Bewusstheit zu beleben, ist oft ein mühsamer Entwicklungsweg, der Körper und Seele wieder ins Gleichgewicht bringt. Bereits vor über 2400 Jahren drückte Plato dies ähnlich aus: „Der größte Irrtum besteht darin, den Körper heilen zu wollen, ohne an den Geist und die Seele zu denken, denn Körper, Geist und Seele sind eins und sollen nicht getrennt behandelt werden“.

Wir wissen nur zu gut, dass unser Körper unsere Gedanken und Überzeugungen spiegelt; oft zeigt er sogar sehr viel ehrlicher unseren inneren Zustand als unser Gewissen. So kann es hilfreich sein, uns mit der Symbolsprache der Krankheit auszukennen.

Bei dieser besonderen Art von Körpersprache geht es nicht um eine kausale Deutung der  jeweiligen Krankheit, die schnell schuldzuweisend und moralisierend wird; es geht um eine finale Deutung, die fragt: „Was möchte Gott mir damit sagen?“ Ob und wie wir als Betroffene auf diese Frage antworten, hängt ausschließlich von uns selbst ab.

Auch die Bibel benutzt diese Symbolsprache. Mit Adjektiven wie gelähmt, taub, stumm, blind, blutleer, gekrümmt, aussätzig, besessen oder sogar tot beschreibt sie zwar den Zustand unseres Körpers, drückt aber überdeutlich aus, was unsere Seele nicht verarbeiten kann. Diese Auflistung können wir heute nahezu unbegrenzt fortsetzen; sie ist ein Spiegel unserer Seele.

Indem wir im geistlichen Begleitprozess gemeinsam schauen, was unseren Gegenüber bewegt, wird erkennbar, wo und wie sich seine Seele in der Krankheit zeigen möchte. Diese Gespräche erfordern Geduld, Feingefühl und die Gabe, körperliche Schwachstellen niemals negativ zu bewerten. Ich darf dem Begleiteten vielmehr vermitteln, dass alle Symptome Zukunfts-botschaften und wertvolle Wegweiser sind, je mehr er sich liebevoll mit ihnen verbündet.

Dieses Zusammenspiel von Körper und Seele zeigte sich deutlich bei einer von mir begleiteten  55-jährigen Frau. Sie erzählte mir die Geschichte ihres Lebens, erwähnte dabei ihre Band-scheibenvorfälle und die starken Schmerzen, die sie zwangen, ihre Lendenwirbel dauerhaft zu stabilisieren. In unseren Gesprächen bemerkte sie selbst, wie deutlich ihr Körper die Themen ihres Lebens widerspiegelt: jahrelange Überlastung, beruflicher Leistungsdruck, Eingequetscht-sein zwischen zwei Fronten, Mühe, die harten Stöße des Lebens abzufedern, belastet mit über-nommener Verantwortung, Halt suchen, Halt geben, mangelnde Aufrichtigkeit, Schuldgefühle, und die Sehnsucht nach Ruhe. Ganz langsam begann ein Wandlungsprozess, der ihrem Lebensmittelpunkt eine andere Ausrichtung gab, sie zur Meditation finden ließ, ihr berufliches und privates Leben mehr und mehr veränderte.

 Noch viel klarer entschlüsselte sich einer älteren Dame die Botschaft ihrer Krankheit. Ihr wurde bewusst, dass ihre Gichterkrankung nur der körperliche Ausdruck ihres „Abfallbeseitigungs-problems“ ist. Ungelöste Konflikte stießen „sauer“ in ihr Bewusstsein, in ihren Körper und ihre Seele. Es kostete sie viel Mut, sich mit den Unstimmigkeiten ihres Lebens auseinanderzusetzen, anstatt die Lösung weiterhin im abendlichen Glas Wein und einer Tafel Schokolade zu suchen.

Wenn wir die Botschaft unserer Krankheit verstehen und die sich uns zeigende Aufgabe einlösen, werden unsre körperlichen Symptome manchmal überflüssig und verschwinden. Ebenso ist es allerdings auch möglich, dass Schmerz und Beeinträchtigung als Herausforderung bestehen bleiben. Auch das ist Heilung! Denn Heilung ist nie gleichzusetzen mit körperlicher Gesundung; sie geschieht dort, wo wir unseren inneren Widerstand aufgeben und uns mit unserer Begrenztheit versöhnen. Ein erster Schritt ist es, Gott und uns selbst unsere Ohnmacht einzugestehen. Meistens sind wir erst dann dazu bereit, wenn wir ganz unten sind und unser Reservetank leer ist. In unserer existenziellen Not sind wir nicht mehr fähig, es selbst zu managen und dürfen uns so dem wahren Manager überlassen. ER selbst schenkt uns durch die Akzeptanz unserer Schwachheit eine bisher nicht erfahrene Kraft, die unsere Ohnmacht in Stärke wandelt. Dieser Schritt ist nicht nur schwer zu gehen, sondern auch schwer zu verstehen: Warum sind wir stark, wenn wir schwach sind? Warum ist SEINE Kraft in den Schwachen mächtig? Paulus hat es erfahren: Jesus heilt uns, wenn wir uns mit unseren wunden Punkten und unseren schwächsten Seiten auseinandersetzen; das bewahrt uns vor einer seelischen Totenstarre und lässt uns gerade in der Schwäche und Krankheit stark sein und wachsen.

Bei einer junge Frau mit einem Alkoholproblem habe ich diesen Schritt bisher am intensivsten miterlebt. Es war ein langer und harter Kampf, bis sie ihren inneren Widerstand aufgeben konnte und sich nicht nur der Abhängigkeit, sondern auch ihrer Schwäche, der Depression, Verzweiflung und Scham stellte. Das Eingeständnis, ohne fremde Hilfe und ohne Gottes Hilfe nicht heil werden zu können, und die Akzeptanz der eigenen Machtlosigkeit verliehen ihr eine innere Stärke auf dem neuen, wenn auch noch holprigen Weg.

Dem Kampf mit unserem inneren Widerstand folgt meistens unser verzweifelter Aufschrei: „Vater, nimm diesen Kelch von mir!“ Resignation, Verzweiflung und Trostlosigkeit begleiten diesen Schrei. Doch wir sind in unserer Not nicht allein. Gott wurde Mensch und hatte Angst wie wir. Niemand versteht besser als ER, wie schwer es ist, einen Leidensweg bis zum Ende zu gehen. IHM dürfen wir uns in unserer Verzweiflung ganz nahe fühlen. Diese gottgefüllte Nähe kann uns zu einem inneren Sonnenstrahl werden, der den therapeutischen und medizinischen Samen in unserem Körper wachsen lässt und unsere Selbstheilungskräfte aktiviert.

Welch unglaubliche Wirkung dieser „Sonnenstrahl“ haben kann, durfte ich im Gespräch mit einer krebskranken Frau erleben. Das Vertrauen, IHM ganz nahe zu sein und von Gott getragen zu werden, auch durch das Sterben hindurch, verbesserte ihren Gesundheitszustand entgegen aller Prognosen auf erstaunliche und unerklärliche Weise.

Doch Jesus befreit uns nicht von Leid und Krankheit und die Wunderheilung bleibt meistens aus; SEINE Nähe hilft uns vielmehr nicht auszuweichen, dran zu bleiben, nicht weg zu laufen sondern Krankheit und Schmerz auszuhalten. Wozu? Die Antwort lässt sich nur im Erleben finden. Wenn wir uns Gott überlassen und unsere Krankheit annehmen, verstehen wir den Sinn des Kreuzes. Erst dann werden wir nicht mehr leiden, auch wenn alle medizinischen und therapeutischen Möglichkeiten erfolglos sind und wir Schmerzen oder Einschränkungen dauerhaft zu tragen und zu ertragen haben.

IHM unsere Zustimmung zu schenken: „Nicht mein, sondern dein Wille geschehe“ empfinden wir manchmal als eine uns fast übersteigende Aufgabe; wir können sie angehen, indem wir diese Worte als Gebet und Geschenk SEINER Gnade verinnerlichen. Wie Jesus dürfen auch wir beten, wie ER dürfen auch wir um Hilfe bitten. Bei Mt. 6 und 7 lesen wir vom Vertrauen beim Beten und der Zusage, dass unser Gebet immer beantwortet wird, Bibelstellen, die in Krankheitsnot oft falsch verstanden werden. Gott antwortet auf unser Gebet, so wie es für uns gut ist: manchmal mit einem „Ja“, manchmal mit einem „Ja, aber anders“, manchmal mit einem „Ja, aber später“, manchmal auch mit einem „Nein“. Ab und an stehen wir da und verstehen IHN nicht mehr; dann ist es eine Herausforderung, SEINE Antwort auszuhalten. Es geht nicht darum, Gott mit unseren Wünschen zu bedrängen, es geht um unser Ja zu SEINER Liebe; dann ist unser Gebet immer schon beantwortet. Wenn wir unseren Geist mit dem Geist Christi verbinden, verstehen wir, dass nicht wir beten, sondern Gott in uns betet. Dieses Gebet dringt in unser Unterbewusstsein. Es berührt und heilt uns dort, wo unser ganzer Müll und Schmerz liegt, dort, wo wir krank sind und ER uns heilen möchte. Ich bin davon überzeugt, dass unsere Seele im Gebet ihren ganz persönlichen Weg findet, der uns früher oder später in die Stille, zur Kontemplation, zum Schweigen, zum Dank, zur Hingabe führt.

Unsere Krankheit verändert meist unser Gebet. In existenzieller Not ist es anfänglich oft geprägt von (An-)klage, Bitte und verzweifeltem Flehen. Im freien Gebet dürfen wir alles vor Gott bringen, was uns auf der Seele brennt; doch manchmal finden wir auch keine eigenen Worte mehr. Ich selbst liebe das Gebet der gegenstandslosen Kontemplation; doch gibt es auch (Krankheits-)phasen, in denen mir das vorgefertigte Gebet hilfreich ist. Der Rosenkranz und die Wiederholung der immer gleichen Worte werden mir dann zu einer inneren Melodie, durch die ich bei Maria, und durch sie bei Jesus selbst, Tröstung, Geborgenheit, Hilfe und Heil finde.

Immer wieder konfrontiert uns die Heilige Schrift mit dem Zusammenspiel von Krankheit und Schuld. Der Gedanke, dass Sünde die Ursache von Krankheit ist, mag wohl ab und zu berechtigt sein, birgt aber auch die Gefahr, dass damit jedem Kranken vermittelt wird, dass er seine Krankheit aufgrund eines falschen Verhaltens selbst zu verantworten hat. Schnell wird Krankheit dann als Strafe Gottes gesehen, was, wie ich meine, jegliche Heilung verhindert.

Es liegt in der Wirklichkeit unseres Menschseins, dass wir andere verletzen und auch von anderen verletzt werden. Diese unverarbeiteten Wunden können zu tiefsitzenden Emotionen wie Wut, Groll oder Hass führen und uns sogar körperlich krank werden lassen. Vielleicht versteht mein Gegenüber seine Krankheit als „Hinweis von oben“; vielleicht ist es an der Zeit zu erkennen und zu bekennen, was schmerzlich im Wege steht und ihn von Gott trennt. Vergebung kann in vielen Fällen eine Therapie zur Heilung sein, denn manchmal können wir nicht gesund werden, solange wir noch um eine Schuld kreisen, die wir uns selbst nicht vergeben können. Ebenso befreiend ist es, denen zu vergeben, von denen wir verletzt wurden; ein Freispruch, der uns selbst befreit – ein Schritt, der spiegelt, was Gott uns immer wieder neu anbietet.

Vergebung zu erfahren und Ganzheit zu spüren ist nie unser Verdienst; es bleibt immer SEIN Geschenk, SEIN Erbarmen, SEINE Gnade. Unser Kopf kann das zwar nicht begreifen, aber unsere Seele darf sich davon ergreifen lassen.

In meinen bisherigen Begleitungen war der Umgang mit Verletzung und Schuld immer Thema. Als Begleiterin brauche ich ein gutes Gespür, was dem einzelnen hier weiterhelfen kann. Zunächst ist es oft hilfreich, Bergriffe wie Sünde, Buße, Gewissenserforschung und Beichte zu klären und gegebenenfalls einen anderen Wortschatz zu nutzen. Manchmal ist die Arbeit mit einem Vergebungskonzept aus dem therapeutischen Bereich sinnvoll, manchmal hilft ein Beicht-gespräch, um Vergebung im Sakrament der Liebe Gottes zu erfahren. Dem einen fällt es leichter, Schuld, Last und Sorge zu Papier zu bringen und mit einem Ritual dem Himmel zu übergeben, dem andern ist es wichtig, sein Leben ins Gespräch zu bringen und sich die Last der eigenen Begrenztheit von der Seele zu reden. Besonders wichtig ist mir zu vermitteln, dass Sünde und Schuld weder absolutes Übel noch ein Hindernis auf dem Weg unserer Seele sind, sondern den fast unbegreiflichen Zweck haben, die Liebe Gottes zum Vorschein zu bringen. Meistens kommt dann das ganze Leben zur Sprache und es wird klar, dass die Beziehungen zu uns selbst, zu anderen und zu Gott zusammenhängen und im Vergebungsprozess nicht trennbar sind.

Doch nicht immer sind unsere körperlichen Baustellen ein Bild für unsere innere Unver-söhntheit; Krankheit ist nicht unbedingt eine Folge von Schuld. Bei Joh. 9 lesen wir über einen Blindgeborenen: Weder er noch seine Eltern haben gesündigt; das Wirken Gottes soll an ihm offenbar werden. Egal welche körperliche Baustelle wir zu bewältigen haben, wie der Blinde dürfen wir zum Sehenden werden, vom Sehenden zum Glaubenden. Wie deutlich zeigt sich gerade hier, dass uns in der Krankheit wirklich eine Botschaft der Liebe Gottes erreicht.

Mit der Vergebung beginnt der Weg des Loslassens, der uns zur Liebe befreit. Wir dürfen all das loslassen, was uns von Gott trennt. Vielleicht klingt es zunächst wie ein Paradoxon, wenn ich hierzu auch liebgewonnene Gewohnheiten, besondere Fähigkeiten, wichtige Körperfunktionen und sogar das Loslassen des Lebens zähle. Wirkliches Loslassen macht uns frei von Anhäng-lichkeiten und öffnet uns für ein Finden. Dieses Loslassen und Finden geschieht meist in der Stille. Es führt zur Konfrontation mit einem DU, zur Berührung mit Gott, ein Erleben das uns in der existenziellen Not unserer Krankheit kurzerhand aus der Bahn werfen kann, bis wir uns ganz und gar dem „Ich-bin-da“ vertraut wissen.

Des Öfteren finden wir Krankheit in der Heiligen Schrift auch als ein Zeichen von Besessenheit. Heute wissen wir, dass es sich hier um psychische Erkrankungen handelt, die eine tiefere Schicht im Betroffenen verletzt haben. Eine geistliche Begleitung ist hier nur eingeschränkt möglich und nur parallel zu einer fachmännische Behandlung ratsam.

Ich denke hier an eine Frau, die sich von mehreren bösen Geistern besessen fühlte. Wichtig war mir, ihre psychische Erkrankung gut im Blick zu haben. Bei dieser Begleitung fiel es mir schwer, in der Krankheit einen Weg der Seele zu entdecken und die extremen psychischen Auffälligkeiten sowie die daraus resultierenden körperlichen Besonderheiten als eine Botschaft der Liebe zu sehen. Dennoch gab es sie, diese klitzekleinen, kaum erkennbaren Botschaften. Hier blieb mir das Gebet, dass sich auch in dieser Krankheit ein Weg der Seele zeigt, der zur Versöhntheit führt.

„Besessen“ sind wir manchmal auch von fixen Ideen, Verzweiflung, Komplexen, verzerrten Wahrnehmungen, endlosen Grübelschleifen oder Verstrickungen unseres Lebens, die uns nicht mehr klar denken lassen. Heilung bedeutet hier Befreiung. Wir dürfen uns befreien (lassen) von Lebensmustern, die uns hindern, unser wahres Wesen und unser Potenzial zu verwirklichen, von den Verstrickungen unseres Denkens und von den Aber-Geistern, die uns hin und her zerren.

Von einer weiteren psychosomatischen Erkrankung lesen wir bei Mk. 1, 29-38. Welche Ängste und inneren Konflikte liegen wohl der Fiebererkrankung der Schwiegermutter des Petrus zu Grunde? Was macht diese Frau so schwach? Welche fixe Idee „erhitzt“ sie? Wofür brennt sie wirklich? Jesus richtet sie auf, wie er auch uns immer wieder aufrichtet, und durch das Aufgerichtetwerden von IHM verändert sich unsere Perspektive und unsere Seele erkennt ihren Weg.

Hier denke ich an eine Frau, deren Beziehungen zu ihren Kinder, Enkeln, Eltern, dem Exmann und zu Kollegen sich in vielen Jahren verstrickt, erhitzt und entzündet haben. Als sie im wahrsten Sinne des Wortes „danieder lag“ wurde diese Zwangsruhe für sie zu einer Begegnung mit Jesus. Nach jahrelangem „Fieberwahn“ gelang es ihr immer besser, sich von ihren Schemen und kranken Lebensmustern zu lösen. Im Gegenzug wuchs ihr neu entdeckter Glaube und sie begann ihre Talente und Fähigkeiten in ihrer Gemeinde einzusetzen.

Ein Paradebeispiel dafür, dass sowohl körperliche als auch seelische Krankheit die Wege unserer Seele führen, ist Hiob. Er ist uns ein Beispiel des Annehmens, des Loslassens, der Demut, des Vertrauens und des Durchhaltens. Bei Jak. 5, 11 lesen wir: „Von dem Ausharren Hiobs habt ihr gehört…“  Leid und Krankheit sind immer auch eine Erfahrung von Zumutung; wie schwer fällt es uns, einfach auszuharren. Weiter schreibt Jakobus: „…und das Ende des Herrn habt ihr gesehen, dass der Herr voll innigen Mitgefühls und barmherzig ist.“ Wir dürfen auf diese Zusage ganz und gar vertrauen. Gerade in Krankheitsnot lernen wir IHN in einer ganz anderen Tiefe kennen. Gott will sich groß erweisen und er tut es; wie vollkommen macht das unsere Not!

Nun komme ich in einen Bereich, der nicht mehr erklärbar ist: Krankheit und Heilung werden zum Weg unserer Seele, den wir nur noch im Gehen dieses Weges selbst verstehen können. Der gekreuzigte Jesus ist uns kein Fremder mehr. Wir wachsen in der Liebe zu IHM, vertrauen unser Leben SEINER Sorge an, lernen, alles IHM zu überlassen, unsere Vergangenheit, unsere  Zukunft, unsere Krankheit, unsere Heilung, unsere Fehler, unsere Unvollkommenheit: uns selbst. Eine Aufgabe? Ein Geschenk? Eine Herausforderung? Alle Argumente der Theologie und Theodizee helfen hier nicht weiter. Unsere Seele findet diesen Weg nur, wenn Gott uns berührt, ER, der unser Leid zu seinem eigenen Leid macht und der mit uns gekreuzigten Menschen geht.

Nun stehen Krankheit und Schmerz nicht mehr an erster Stelle; sie verlieren an Relevanz. Jetzt geht es um das „Nimm dein Kreuz auf dich und folge mir nach!“ Mitten im Leid wird SEIN Ruf zu unserer Berufung und wir erahnen den Sinn SEINES und unseres Kreuzes. Es ist kein Sinn, den wir mit rationalem Geist, logischem Denken und schon gar nicht mit einer Vorstellung von Gerechtigkeit und Fairness erfassen können, aber mit der Logik unserer Seele, die uns verstehen lässt: Leidende Menschen können einen leidenden Gott lieben und ihm vertrauen – und dieser leidende Gott rettet leidende Menschen – ER rettet uns.

Gerne möchte ich in dieser Unbegreiflichkeit noch einen Schritt weiter gehen: Christus lädt uns ein, den Kelch und somit das Leid mit IHM zu teilen; ER bietet uns SEINEN zerbrochenen Leib an. In der Eucharistie haben wir Anteil an SEINEM zerbrochenen Körper und willigen damit ein, Ähnliches zu erleben, uns zerbrechen und ausgießen zu lassen. Diesen spirituellen Sinn erahnen zu dürfen, IHM in dieser Weise nahe zu sein, wandelt unser eigenes Leid in Frieden und geistliche Freude.

Dabei dürfen wir sicher sein, dass unser Kreuz nie zu schwer für uns ist. In Mt. 11, 28-30 schlägt Christus uns quasi ein Tauschgeschäft vor: „Kommt alle zu mir, die ihr mühselig und beladen seid! Ich will euch erquicken. Nehmt mein Joch auf euch und lernt von mir.“ ER selbst trägt also unsere Last und wir dürfen, als ein Zeichen seiner Liebe zu uns, einen kleinen Teil seiner Last tragen. Auch Paulus hat diese Erfahrung gemacht. Im Brief an die Kolosser schreibt er: „Jetzt freue ich mich in den Leiden, die ich für euch ertrage. Ich ergänze in meinem irdischen Leben, was an den Bedrängnissen Christi noch fehlt.“ Wie wenig ist uns bewusst, dass wir mit Christus und durch IHN miteinander und mit der ganzen Welt verbunden sind. Unsere Krankheit bekommt einen heilbringenden Sinn, wenn wir durch sie dem Heil anderer dienen dürfen; so wird unser körperlicher und seelischer Schmerz unerklärbar zu einer Quelle der inneren Freude. Zugegeben, nicht immer erreicht diese tiefe Verbundenheit mit Gott und der ganzen Schöpfung unsere Seele. Vorbehalte tauchen in uns auf oder das berühmte „Alles, nur das nicht“. Doch dürfen wir auch unsere angstmachende Erwartungshaltung loslassen und selbst das befürchtete „Nur das nicht“ in unserem Herzen annehmen.

Wie Ignatius sind wir nun ganz sicher: Wir wünschen Gesundheit nicht mehr als Krankheit, denn wir finden Gott in allen Dingen, auch auf dem Weg, den unsere Seele für uns und für andere durch die Krankheit zur Heilung geht. Dies ist die Botschaft SEINER Liebe, mit der ER uns erreichen möchte….

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