Wenn eine Stimme fehlt, ist der Leib Christi nicht vollständig. Straßenexerzitien sind eine Möglichkeit, der Stimme der Armen im Leben Raum zu geben. Geistliche Begleitung in und nach den Exerzitien unterstützt beim Hören und Zulassen, bei Umkehr und veränderter Praxis.

„La voz de los sin voz“ – in Straßenexerzitien die Stimme der Ärmsten hören

Text: Christian Heß – Photo: josemdelaa/pixabay.com

„La voz de los sin voz“ – übersetzt: die Stimme derjenigen, die keine Stimme haben. Diese Inschrift über dem Eingang zur Theologischen Fakultät in San Salvador hat mich seit meinem Besuch dort vor einigen Jahren nie mehr losgelassen. Sie bezieht sich auf Oscar Romero (1917-1980), den inzwischen heiliggesprochenen Bischof und engagierten Kämpfer für eine Kirche, die an der Seite der Armen steht und sich für deren Rechte einsetzt. Romero wurde zwar ermordet, aber seine Stimme wirkt bis heute fort. Menschen wie er fordern mich dazu heraus, mein „hörendes Herz“ (vgl. 1 Kön 3,9) für die Menschen zu bilden, deren Stimme auch in unserer Gesellschaft zu oft nicht gehört wird. In den Straßenexerzitien habe ich ein geistliches Instrumentarium entdeckt, das ich mit seinen Elementen sowie mit seinen Chancen für die geistliche Begleitung in dieser Arbeit vorstellen möchte. Ich beziehe mich dabei neben der verwendeten Literatur auf meine Erfahrungen in der geistlichen Begleitung und insbesondere auf die Straßenexerzitien, die ich im November 2022 in Berlin-Kreuzberg machen durfte und für die ich sehr dankbar bin.

  1. Straßenexerzitien – kurze Beschreibung eines Phänomens

Exerzitien in klösterlicher Abgeschiedenheit und Ruhe sind wertvoll. Die Straßenexerzitien fügen diesen seit Jahrhunderten bewährten Formen geistlicher Übungen eine wichtige neue Perspektive hinzu. Auch in die tiefste Abgeschiedenheit und Stille nehme ich die Resonanzen meiner Erfahrungen und Fragen mit, die sich im eigenen Inneren sehr laut zu Wort melden können. Und wie steht es mit den oft lärmenden Orten menschlicher Existenz? Wer die Botschaft der Menschwerdung Gottes betrachtet, die für den christlichen Glauben konstitutiv ist, kann zu dem Schluss kommen: Jeder Ort ist potenziell ein Ort der Begegnung mit dem lebendigen Gott. Somit kann ich Gottes Gegenwart auch auf der Straße erfahren. Und wenn ich daran glaube, dass Gott in mir lebt, trage ich in gewisser Weise ständig einen heiligen Ort mit mir.

Christian Herwartz (1943-2022) SJ, der Begründer der Straßenexerzitien-Bewegung beschreibt die Zielsetzung der Exerzitien auf der Straße: „Mitten in unseren lauten Städten finden Menschen persönliche Orte der Einkehr unter Obdachlosen, Drogenabhängigen, vor Krankenhäusern, auf Kinderspielplätzen. An sonst von ihnen unbeachteten oder gemiedenen Orten werden sie von Engführungen in ihrem Leben befreit und erleben die Nähe Gottes für sich.“[1]

Herwartz verweist als für die Straßenexerzitien zentrale Schriftstelle auf das Jesus-Wort von Joh 14,6 („Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater außer durch mich“). Wenn Jesus also die Straße ist[2], sind Straßen nicht nur Begegnungsorte im Alltag der Menschen, sondern Orte, an denen wir Jesus nachfolgen können: „Bei Straßenexerzitien sind die Teilnehmenden auf der Straße unterwegs. Auf diesem Weg folgen sie den Bewegungen der eigenen Sehnsucht. Sie lassen sich ein auf ungewohnte Lebenswelten — oft auf Menschen am Rande der Gesellschaft. So üben sie, sich selbst, den anderen und darin Gott zu begegnen.“[3] Es geht dabei also nicht um ein bloßes Aufsuchen dieser Orte, sondern um eine bewusste geistliche Vor- und Nachbereitung des Erlebten, die vom Gebet getragen ist. Straßenexerzitien sind kein Besichtigen von Not und Elend, sondern eine Wahrnehmungsschule im Angesicht des lebendigen Gottes und der Menschen, mit denen ich mich über das Erlebte austausche.

Dabei kann als Ermutigung und Herausforderung dienen, was der belgische Jesuit und Arbeiterpriester Ägid van Broeckhoven (1933-1967) einmal als geistliche Erkenntnis in seinem Tagebuch festgehalten hat: „Das konkrete reale Leben ist der einzige Ort, wo wir Gott begegnen können, und deshalb ist es göttlich einzigartig, jung, frisch und reich, hoffnungsvoll und liebenswert.“[4]

Gestaltung und Elemente der Straßenexerzitien

Grundlegendes Charakteristikum der Straßenexerzitien[5] ist, dass sie nicht an Orten bürgerlicher Rundumversorgung, sondern unter möglichst einfachen Bedingungen stattfinden, die bereits eine Brücke zu Armut, aber auch Erfahrungsreichtum der Orte bauen, die bei den Exerzitien auf der Straße aufgesucht werden. In der Regel werden die Straßenexerzitien in einer Gruppe durchgeführt, die entsprechend begleitet wird. Untergebracht sind die Teilnehmenden in einfachen Unterkünften (z.B. im Schlafsaal einer Wohnungsloseneinrichtung oder in einer Wohngemeinschaft). Die Mahlzeiten sind schlicht gehalten und werden in der Gruppe selbst zubereitet. Der Tag beginnt mit dem gemeinsamen Frühstück und mit einem geistlichen Impuls. Im Anschluss brechen die Exerzitanten zu ihren je eigenen Wegen auf den Straßen auf und gestalten dort in Eigenverantwortung ihre Wahrnehmungs- und Gebetszeiten. Am Abend kehren die Teilnehmenden zum gemeinsamen Abendessen, Gottesdienst und Erfahrungsaustausch in die Gruppe zurück.

In meinen eigenen Straßenexerzitien habe ich mich insbesondere mit drei biblischen Impulsen beschäftigt, die in dieser Exerzitienform immer wieder mit auf den Weg gegeben werden. Zum einen habe ich im Ersten Testament die Perikope Ex 3,1-4,17 betrachtet, in der geschildert wird, wie sich Gott am brennenden Dornbusch Mose offenbart. Die Aussage, dass Mose seine Schafe „über die Steppe hinaus“ (Ex 3,1) trieb, kann dazu anregen, über das gewohnte Umfeld hinauszugehen und von Neuem Gott zu suchen. Der Weg führt dabei von der Außen- in die eigene Innenperspektive. Dabei können Dinge und Einzelheiten auffallen, die sonst außerhalb des persönlichen Sichtkreises sind.

Am brennenden Dornbusch zeigt sich Gott und offenbart seinen Namen. Die Dornen des Busches ermuntern dazu, die oft stacheligen und brenzligen Orte des Alltags aufzusuchen und ihnen die Chance zu geben, Orte der Begegnung mit Gott zu werden. Gottes Aufforderung an Mose, am heiligen Ort seiner Offenbarung die Schuhe auszuziehen, wird für die Straßenexerzitien zur Ermutigung, die eigenen Schuhe der vorschnellen Wertungen auszuziehen und sich den besuchten Orten möglichst ohne Vorurteile und mit Aufgeschlossenheit zu nähern:  „‘Straße‘ weist auf den offenen, nicht verplanten Bereich im Leben hin. Dort entdeckten wir Chancen der Begegnung. Auf den Plätzen und Straßen finden wir Orte, an denen wir einengende Grenzen bemerken, diese überschreiten, Heilung finden und neue Perspektiven im Leben finden können.“[6] Die eigenen Schuhe auszuziehen kann somit im übertragenen Sinn bedeuten, dass ich vom Be-Urteilen ablasse und ins unvoreingenommene Wahrnehmen hineinkomme. Statt Ergebnisdruck und dem Zwang zur Effektivität suche ich bewusst danach, in der schlichten Gegenwart zu bleiben.

Dass Gott am Horeb seinen Namen offenbart, führt zu einer weiteren Übung bei den Straßenexerzitien. Ich spüre bei meinen Wegen hin, ob sich im Erlebten ein Name zeigt, mit dem ich Gott benennen möchte. Ein solcher Name könnte nämlich eine Sehnsucht ausdrücken, die Gott mir ins Herz legt. Als Anregung, wie ich meinen Glaubensweg nach den Exerzitien auf meinen Alltagsstraßen fortführen kann, wurde mir von meiner Exerzitienbegleiterin die Auseinandersetzung mit der Emmaus-Erzählung (Lk 24,13-35) empfohlen. Der sich daran anschließende Vers 36 wird in den entsprechenden kirchlichen Leseordnungen ausgeklammert, ist aber relevant für die Straßenexerzitien, weil er verdeutlicht, wie Christus mitten in unser Wahrnehmen und Reden hinein seine Gegenwart offenbaren kann: „Während sie noch darüber redeten, trat er selbst in ihre Mitte und sagte zu ihnen: Friede sei mit euch!“  

Achtsamkeit für Menschen, die sich der Stimme der Armen aussetzen – Aspekte der geistlichen Begleitung bei Straßenexerzitien

Alle, die Straßenexerzitien begleiten, sollten zuvor eigene Erfahrungen mit dieser Exerzitienform gemacht haben. Wer selbst diesen Weg geistlicher Achtsamkeit eingeübt hat, kann sich besser in die Exerzitanten hineinversetzen, die sich auf die Straße begeben. Aus dieser Perspektive heraus versuche ich einige Aspekte der geistlichen Begleitung bei Straßenexerzitien zu formulieren, die sich mir bei meinen eigenen Exerzitien nahegelegt haben.

Sich bei den Exerzitien fokussieren und von schnellen Urteilen absehen

Straßenexerzitien bringen nicht die strukturierenden räumlichen Grenzen eines Exerzitienhauses oder Klosters mit sich. Deshalb ist es von besonderer Bedeutung, die Teilnehmerinnen und Teilnehmer dabei zu ermutigen, sich dem Ergebnisdruck zu widersetzen. Lebhaft habe ich dabei vor Augen, wie ich am ersten Tag meiner Straßenexerzitien kreuz und quer durch Berlin gezogen bin und dabei (viel zu) viele Kilometer zurückgelegt habe, um möglichst keine Eindrücke zu verpassen. Wie ein augenzwinkernder Hinweis schien es mir, dass ich auf dem Weg zum Reflexionsgespräch am Abend ein Plakat auf der Straße sah, das mir mitteilte: „Sehen heißt lernen“. Straßenexerzitien ermutigen zur Fokussierung.[7] Diese Fokussierung bezieht sich aber nicht nur auf die räumlichen Gegebenheiten, sondern auch auf die Einstellung der Exerzitanten. Das Absehen von schnellen Urteilen oder gar Verurteilungen kann viel Druck rausnehmen und befreiend wirken: „Wir dürfen aus dem Gefängnis der vielen Du-musst-Sätze heraus in die Freude am Leben treten. Unser Leben ist kein Handelsgut, das wir durch die Erfüllung von noch so gut gemeinten Verträgen mit Gott bewahren können. Als Geschenk haben wir es erhalten. Ihm nähern wir uns an unseren besonderen, heiligen Orten – schmerzhaft, wenn wir unsere Distanz bemerken, freudig, wenn wir es neu erhalten.“[8]

Gerade der Appell, die eigenen Schuhe im wörtlichen oder übertragenen Sinn auszuziehen, kann diese Fokussierung zusätzlich unterstützen: „Ein Paar Schuhe, das leicht übersehen wird, sind die Aber-Schuhe. Wir sehen viele herausfordernde Situationen, beginnen zu vergleichen und kommen zu dem Schluss: Aber meine Situation ist anders, aber mir wird das nicht passieren, aber ich bin kein Ausländer.“[9]

Sich dem Gewöhnlichen aussetzen und dabei Spuren des Göttlichen suchen

Eine weitere Chance in der Begleitung liegt darin, dass die Straßenexerzitien nicht auf geistliche Höhenflüge abzielen, sondern dazu ermutigen, sich dem Gewöhnlichen auszusetzen. Geistliche Begleiterinnen und Begleiter werden die im Alltag der Straße gemachten Erfahrungen würdigen, aber nicht werten. Vielmehr lebt die Begleitung von der Wertschätzung des Alltäglichen: „Jeder Ort, jeder Mensch, jede Situation hat das Potential, heute zum Ort der Gottesbegegnung zu werden. Die Chancen, das Angebot auch wahr- und annehmen zu können, steigen jedoch mit der physischen Nähe zu den Armen. Dort ist Christus auf jeden Fall zu finden. ‚…denn ihnen gehört das Himmelreich‘ (Mt 5,3).“[10]

In den Einzelgesprächen und in den Gesprächsgruppen kommt es also darauf an, Respekt vor der  Stimme der Armen zu zeigen und die Marginalisierten ins Zentrum des eigenen Nachdenkens zu rücken. Liebevoll ist darauf hinzuweisen, wie Sprache Distanz schaffen kann. Eine alltagsnahe Begleitungssprache kann dabei helfen. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass die liturgische Sprache sehr hohl klingen kann, wenn ich den ganzen Tag über im Alltag der Straße „gebadet“ habe und dann am Abend in das Sprachspiel einer klassischen Eucharistiefeier eintrete.  Es sollte also in der Begleitung dabei geholfen werden, die Aufforderung zum „Ausziehen der Schuhe“ in die je eigene Situation zu übersetzen.

Gottes-Erfahrungen können in der Begleitung nicht einfach „gemacht“ werden. Es ist Geschenk der Gnade Gottes, wenn sich bei den Straßenexerzitien Spuren des lebendigen Gottes zeigen: „Die Wahrscheinlichkeit, dass Gott Ihnen heiligen Boden seiner Gegenwart und Offenbarung bereitet, wächst übrigens, je näher Sie an Ihr eigenes Lebensumfeld herangehen. Gott umarmt Sie mit Ihrer Wirklichkeit.“[11]

Aber diese Wahrnehmung kann unterstützt werden, indem die Gottesfrage in den Begleitungsgesprächen dezent gestellt, aber nicht aufgedrängt wird. Das Formulieren eines persönlichen Namens für Gott hilft in diesem Kontext dabei, die gemachten Erfahrungen und die zugrundeliegende Sehnsucht zu verbalisieren.

Das Hässliche der Straße nicht verklären, aber die Schönheit der Gegenwart Christi würdigen

Es kann bei den Straßenexerzitien nicht darum gehen, die dabei wahrgenommenen Alltagssituationen zu verklären. Was auf der Straße geschieht, kann durchaus auch unangenehm, gar hässlich sein.[12] In den Begleitungsgesprächen ist darauf zu achten, dass das wahrgenommene Leid nicht beschönigt wird. Vielleicht kann eine geistliche Sichtweise helfen: „Die Begegnung mit Jesus ist auch Begegnung mit seinem Leiden, mit seiner Dornenkrone, die dann auch mir wehtut – weil sie mich berührt in meiner Nähe zum Dornengekrönten. Gott fügt mir in der Begegnung mit Jesus nicht aktiv Leiden zu. Aber es gibt keine Möglichkeit zu einer größeren Nähe mit Gott, ohne dass wir uns dem Kreuz so nähern, dass es auch mir wehtut.“[13] Dem Symbol der Dornenkrone eignet eine bildliche Nähe zum Symbol des Dornbusches, die ich den Exerzitanten als Anregung für das eigene Beten mit auf den Weg geben kann: „Auf der Straße gibt es Gut und Böse, Begegnung und Gewalt. Die Gewaltverhältnisse, die die Armen auf die Straße drücken, wiederholen sich auf der Straße. Doch mittendrin kann ein Dornbusch brennen, der nicht verbrennt, mittendrin auf der Straße, wo alles offen daliegt.“[14]

Eine solche Sichtweise beschönigt nichts, kann aber dazu verhelfen, die Gegebenheiten auf einer tieferen Ebene zu betrachten und meinen Mitmenschen auf der Straße mit Respekt zu begegnen: „Immer aber kann eine Christin der anderen, ein Mensch dem anderen, Respekt, Zuwendung, Ansehen, Mitgefühl, Zeit und Würde schenken. Und auf diese Weise geschieht vielleicht unter der Hand etwas von dem, was der/die mit offenen Augen Betende sucht: die Gegenwart Christi mitten im Leben, in säkularen Begebenheiten, an scheinbar widrigen Orten.“[15]

Die Gabe des hörenden Herzens fördern und zur Umkehr ermutigen

Straßenexerzitien können zur Herzenssache werden, wenn wir auf den Exerzitienwegen ein „hörendes Herz“ (vgl. 1 Kön 3,9) für die Menschen entwickeln, denen wir begegnen. Es ist nicht auszuschließen, vielmehr sogar ausdrücklich erwünscht, dass dabei ein Wechsel der Perspektiven geschieht: „Das ist das Zentrum der Straßenexerzitien: zu entdecken, dass ich nicht anders bin als der, auf den ich runtersehe; zu entdecken, dass ich das auch bin. In diese Gleichheit als Mensch eintreten und nicht den anderen zu versklaven und sich für größer zu halten, sondern in die Gleichheit zu kommen, ja, sogar in das Aufsehen zum anderen – darin liegt das Geheimnis. Das Beispiel der Fußwaschung macht es nochmals deutlich.“[16]

Der Austausch in der Gruppe kann dazu führen, dass ich nicht nur eine tiefere Verbundenheit mit den Menschen verspüre, denen ich auf der Straße begegnet bin, sondern auch innerhalb der Gruppe der Menschen, die sich wie ich auf den Weg gemacht haben:

„Am Abend jedoch, wenn die Erfahrungen des auf der Straße Erlebten geteilt werden, wenn ich in der kleinen Runde erzähle, erfahre ich Zugehör-igkeit – indem mir zugehört wird. An diesem Ort kann es geschehen, dass ich das Erlebte begreife, dass ich es würdigen kann und selbst Worte, neue Deutungsmöglichkeiten finde. Das ist ein Geheimnis – das Geheimnis der heilenden Gegenwart der Liebe. Es geschieht Heilung, neues Leben beginnt.“[17]

Gewiss würde es die Exerzitien überfrachten, wenn von allen Teilnehmenden erwartet würde, dass sie nach der Rückkehr in ihren Alltag ein völlig neues Leben beginnen. Aber es kann durchaus die Frage eingebracht werden, auf welchen Wegen ich umkehren darf, um mich in der Nachfolge Jesu neu zu orientieren. Welche Schritte der Solidarität sind mir nach diesen Exerzitientagen möglich? Haben mich die Tage auf der Straße verändert? Wo möchte ich zur Stimme derjenigen werden, deren Stimme in unserer Gesellschaft zu oft nicht gehört wird? Solche und ähnliche Fragen müssen am Ende der Straßenexerzitien nicht beantwortet sein, aber sie könnten in den Alltag hinein handlungsleitend werden.

Herzensschulung an der Wirklichkeit

Mit ihrer Orientierung am real existierenden Alltag können die Straßenexerzitien vor einer Frömmigkeit bewahren helfen, die fern der Alltagswirklichkeit nur der persönlichen geistlichen Wellness dient. Oft werden die Übenden dabei erleben, wie sie nicht nur  – frei nach Papst Franziskus  – an die Ränder der Gesellschaft gehen, sondern wie sie sich mit ihrer Selbstbezüglichkeit oft selbst marginalisieren. Wir erfassen einen nur sehr begrenzten Ausschnitt der Wirklichkeit, wenn wir nur unsere eigene Stimme hören und uns lediglich auf unseren persönlichen Nahbereich fokussieren. Das „Beten mit offenen Augen“ (P. Hundertmark) eröffnet dann neue Perspektiven und lässt zugleich beweglich bleiben: „Die Straße ist der Ort des auch ungewollten Anteilnehmens am Leben anderer. Können wir diese Lebenschance ergreifen und uns dafür öffnen? Sicher gelingt dies nicht immer. Oft ist die Begegnung mit dem Leben auf der Straße wie ein Versteckspiel mit Gott.“[18] Wer den Weg der Straßenexerzitien mitgeht, ist also dazu eingeladen, von einer bloßen Zuschauerin am „Spielfeldrand des Lebens“ zur Akteurin zu werden. Straßenexerzitien können somit zu einer „Herzensschulung“[19] beitragen, die den Blick und das eigene Herz für die vielen Facetten der Wirklichkeit weiten.

„Vom Ich zum Wir“ – hin zu einer Kirche der Solidarität und der Mitleidenschaft (Compassion) 

Es ist noch kein Wert an sich, möglichst viele Alltagseindrücke zu sammeln. Vielmehr kommt es darauf an, welche Lehren aus diesen Impulsen gezogen werden sollen. Und eine wichtige Lehre aus den Erfahrungen, die auf der Straße gemacht werden, könnte sein, dass nicht sofort belehrt wird. Geistliche Begleiterinnen und Begleiter, die von den Straßenexerzitien inspiriert sind, werden dazu ermutigen, von vorschnellen Bewertungen und Abwertungen wegzukommen und stattdessen den Mitmenschen in seiner Bedeutung für mich selbst und für andere in den Blick zu nehmen. Die Begleitung sollte in Kontakt bringen mit der „Sehnsucht nach einer Welt, in der Menschen nicht übersehen oder einfach abgestempelt werden, sondern ihre ganz besonderen Geben als wertvoll angenommen werden, so wie ich es mir auch für mich selbst wünsche.“[20]

Der betende Weg auf der Straße bringt also in Verbindung mit den Bedürfnissen anderer Menschen und klammert dabei die Frage nach der Bedürftigkeit nicht aus. Wer andere Menschen abwertet und abqualifiziert, übt über sie eine sehr direkte Art Herrschaft aus. Geistliche Begleitung bei Straßenexerzitien versucht, dies aufzudecken und hilft dabei, den Blick dafür zu schärfen, wie gerade die Armen, Macht- und Schutzlosen uns viel über uns selbst lehren und uns dabei dem Gott näherbringen, der sich in diese Lebenswirklichkeiten hinein inkarniert hat: „Wir sind den Entrechteten, Verwahrlosten und Herunter-Gekommenen nahe und damit Jesus selbst. Und wir geben in uns einen Herrschaftsbereich auf, lassen in uns Ohnmacht und Schutzlosigkeit zu  – und geben uns dadurch frei für Gottes Liebe. Das ist ein Geheimnis, in dem die Menschwerdung Gottes in uns geschehen kann.“[21]

Dieses „Wir“ ist vielleicht eine der wichtigsten geistlichen Früchte der Straßenexerzitien. Ich kann in diesen Tagen auf der Straße erkennen, wie ich zutiefst mit anderen Menschen verbunden bin, obwohl ich normalerweise mit deren Lebensalltag gar nicht in Berührung kommen würde. Bloßes Mitleid würde dabei zu kurz greifen. Denn Mitleid hat eine sehr begrenzte Haltbarkeitsdauer. Wie wäre es aber, wenn die geistlichen Erfahrungen der Exerzitien in uns die „Mitleidenschaft“ (wie Johann Baptist Metz den Begriff der „Compassion“ übersetzt) entfachen und verstärken würde?

Geistliche Erfahrungen wären somit dazu da, um Frucht für mich, aber auch für andere Menschen zu bringen. Oder wie es auf einem Graffito steht, das jemand an eine Berliner Hauswand gesprüht hat: „Nichts und niemanden aufgeben“. Führen die Straßenexerzitien also vom Ich zum Wir, bleibt die Frage, wie es nach den Exerzitien weitergehen kann und wie solidarische Schritte auch im Alltag gegangen werden können.

Den Ruf Christi zur Umkehr hören und in die Tat umsetzen

Hier sei gleich vor der Gefahr einer sofortigen Verzweckung der Exerzitien gewarnt:

„Die Straße ist ähnlich wie in der Emmausgeschichte auch in den Exerzitien kein Predigt-, sondern zuerst einmal ein Wahrnehmungsort. Wer dem Auferstandenen begegnet, gibt mit seiner Freude Zeugnis für die ungeplant empfangene Liebe Gottes.“[22]

Begegnungen mit den Menschen und dem Gott, der sie geschaffen hat, lassen sich somit nicht allein mit dem Terminkalender planen, sondern sind unverfügbare Geschenke der Gnade Gottes.

Dennoch dürfte es nicht verwundern, dass die „Herzensschulung“ auf der Straße hinführen kann zu der Frage, welche konkreten Schritte derjenige von uns möchte, der von sich gesagt hat, dass er „die Straße“ ist. Die Frage nach der Nachfolge Jesu kann konkret im Raum stehen und verweist somit auf Wege, die am letzten Tag der Straßenexerzitien nicht enden, sondern dort erst beginnen: „Beten mit offenen Augen ruft oft schnell und direkt in die Aktion. Was gesehen und was gebetet wird, will Antwort, will Engagement, verändert das Leben. Kaum eine andere Weise zu beten, stellt so rasch vor die Entscheidung, stellt so rasch in den Ruf zur Umkehr und auf den Weg der praktischen Nachfolge Jesu – für heute und in unserer Welt.“[23]

Ich höre somit nicht nur die Stimme derjenigen, die zu oft keine Stimme erhalten, sondern darin auch den Ruf Christi zur Umkehr. Geistliche Begleitung wird dabei helfen, eventuell aufkommende Selbsterlösungs- und Überforderungstendenzen einzuordnen in die Liebe Christi, der jede und jede nach den je eigenen Fähigkeiten und Grenzen zur Umkehr und somit in Wege der Nachfolge ruft.

Nach intensiven – vielleicht auch aufwühlenden –  Tagen der Straßenexerzitien kann die geistliche Begleitung dabei unterstützen, Brücken in den Alltag zu bauen. Für die Nachfolge Christi auf den Straßen des Alltags gilt dieselbe wesentliche Aufforderung, die Gott einst bereits am brennenden Dornbusch an Mose richtete: „Geh!“ Die Stimme der Ärmsten wird uns dabei zugleich herausfordern und führen.

Statt eines Resümees zitiere ich abschließend das Schlusswort von Franz Kardinal König (1905 – 2004) zum Ende des Zweiten Vatikanischen Konzils am 8. Dezember 1965. Seine Worte bringen für mich in prägnanter Weise zum Ausdruck, was ich mir von einer Kirche erhoffe, die auf die Straßen des Lebens geht und auch denjenigen Menschen eine Stimme verleiht, deren Stimme zu oft nicht gehört wird:

Die Kirche Christi sei:
Eine einladende Kirche.
Eine Kirche der offenen Türen.
Eine wärmende, mütterliche Kirche.
Eine Kirche des Verstehens und Mitfühlens,
des Mitdenkens, des Mitfreuens und Mitleidens.
Eine Kirche, die mit den Menschen lacht
und mit den Menschen weint.
Eine Kirche, der nichts fremd ist
und die nicht fremd tut.
Eine menschliche Kirche,
eine Kirche für uns.
Eine Kirche, die wie eine Mutter auf ihre Kinder warten kann.
Eine Kirche, die ihre Kinder sucht und ihnen nachgeht.
Eine Kirche, die die Menschen dort aufsucht, wo sie sind:
bei der Arbeit und beim Vergnügen,
beim Fabriktor und auf dem Fußballplatz,
in den vier Wänden des Hauses.
Eine Kirche der festlichen Tage
und eine Kirche des täglichen Kleinkrams.

Eine Kirche, die nicht verhandelt und feilscht,
die nicht Bedingungen stellt oder Vorleistungen verlangt.
Eine Kirche, die nicht politisiert.
Eine Kirche, die nicht moralisiert.
Eine Kirche, die nicht Wohlverhaltenszeugnisse verlangt oder ausstellt.
Eine Kirche der Kleinen,
der Armen und Erfolglosen,
der Mühseligen und Beladenen,
der Scheiternden und Gescheiterten
im Leben, im Beruf, in der Ehe.
Eine Kirche derer, die im Schatten stehen,
der Weinenden, der Trauernden.
Eine Kirche der Würdigen,
aber auch der Unwürdigen,
der Heiligen, aber auch der Sünder.
Eine Kirche – nicht der frommen Sprüche,
sondern der stillen, helfenden Tat.

Eine Kirche des Volkes.“


[1] Herwartz, Christian, Brennende Gegenwart. Exerzitien auf der Straße (Ignatianische Impulse 51), Würzburg 2011, 7.

[2] Vgl. Ebd., 29.

[3] www.strassenexerzitien.de [06.03.2023]. Diese Website bietet einen guten Überblick über das Phänomen der Straßenexerzitien mit aktuellen Erfahrungsberichten und Exerzitienangeboten.

[4] Broeckhoven, Ägid van, Freundschaft in Gott, dritte, erweiterte Auflage, Einsiedeln, Freiburg 2014, 64.

[5] Zum möglichen Ablauf von Straßenexerzitien vgl. Herwartz, Christian/Jans-Wenstrup, Maria/Prinz, Katharina/Tollkötter, Elisabeth/Freise, Josef (Hg.), Im Alltag der Strasse Gottes Spuren suchen. Persönliche Begegnungen in Straßenexerzitien, ²Neukirchen-Vluyn, 31-37.

[6] Herwartz, Christian, Auf nackten Sohlen. Exerzitien auf der Straße (Ignatianische Impulse 18), 2006 Würzburg, 51.

[7] Vgl. hierzu den berühmten Ausspruch des heiligen Ignatius von Loyola (1491-1556): „Nicht das Vielwissen sättigt die Seele und befriedigt sie, sondern das Verspüren und Verkosten der Dinge von innen her.“

[8] Herwartz, Brennende Gegenwart, 41.

[9] Ebd., 53.

[10] Hundertmark, Peter, Mit offenen Augen beten, München 2009, 13.

[11] Ebd., 29.

[12] Vgl. Herwartz u.a., Im Alltag der Strasse Gottes Spuren suchen, 112.

[13] Mertes, Wie ich durch die Exerzitien auf der Straße lernte, in: Herwartz u.a., Im Alltag der Strasse Gottes Spuren suchen, 155-170, 164.

[14] Mertes, Klaus, Wie ich durch die Exerzitien auf der Straße lernte, die ignatianischen Exerzitien besser zu verstehen, 162.

[15] Hundertmark, Peter, Mit offenen Augen beten, München 2009, 35f.

[16] Herwartz u.a., Im Alltag der Strasse Gottes Spuren suchen, 129.

[17] Ebd., 141.

[18] Herwartz, Brennende Gegenwart, 71.

[19] Vgl. Herwartz, Auf nackten Sohlen, 63

[20] Herwartz u.a., Im Alltag der Strasse Gottes Spuren suchen, 51.

[21] Ebd., 149.

[22] Herwartz, Brennende Gegenwart, 74.

[23] Hundertmark, Mit offenen Augen beten, 37.

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