Wann ist Caritas, wann ist Seelsorge eigentlich katholisch – im Sinne des Vaticanum II? Die Frage ist in einer pluralen, von Migration mit geprägten Gesellschaft, in der Christ*innen künftig der Minderheit sein werden, schwerer zu beantworten, als zuerst zu vermuten.
Religionssensibilität – eine erste Sichtung
Text: Walter Schmolly – Photo: EvgeniT/pixabay.com
Zwei Szenen, die am Anfang des Nachdenkens stehen
Szene 1. Die Caritas der Diözese Feldkirch hat 2016 einige Wohngemeinschaften für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge geführt. Größtenteils lebten dort Jugendliche aus Afghanistan. Wir haben beobachtet, dass mehrere von ihnen nach der ersten Ankommensphase nach Möglichkeiten und Wegen gesucht haben, ein religiöses Leben als Muslim in Vorarlberg zu führen. Das hat bei uns die Frage geweckt, ob diese religiöse Suche unserer (muslimischen) Klienten für die Caritas als (katholisch-kirchliche) Betreuungseinrichtung einen Auftrag signalisiert. Diese Reflexion, in der wir bemüht waren, uns an theologischen Grundsätzen ebenso auszurichten wie an Prinzipien professioneller Sozialarbeit, und in der uns auch ein islamischer Religionswissenschaftler und ein islamischer Religionspädagoge begleitet haben, hat uns zu folgendem Grundverständnis der Rolle der Caritas in dieser Situation geführt:
Die Caritas begleitet die Jugendlichen in ihrer Entwicklung einer „gesunden“ religiösen Identität als Muslime in Vorarlberg. Diese Entwicklung ist für viele von ihnen ein Weg der Transformation von einer Identität, die sie als Kinder beispielsweise in Afghanistan übernommen haben, hin zu einer religiösen Existenz in einer weltanschaulich pluralen Gesellschaft in einem säkularen Staat.
Szene 2. Jährlich im Advent lädt die Caritas alle Mitarbeitenden zu einer Adventfeier ein. Über viele Jahre hinweg stand am Anfang des Abends eine Eucharistiefeier in einem Kirchenraum. Obwohl die Zahl der Mitarbeitenden stetig stieg, ist die Zahl derer, die die Eucharistie mitfeierten, jährlich unverkennbar gesunken. Diese Erfahrung wurde zum Nährboden für ein Unbehagen und die Frage: Wie können wir als kirchliche Organisation dem Religiösen eine Ausdrucksform und Gestalt in der Caritas geben, sodass das Religiöse die Mitarbeitenden nicht in Gruppen spaltet, sondern von möglichst allen als eine verbindende Kraft erfahren wird? Dieses Nachdenken hat aufs Neue die Wahrnehmung, die Sensibilität und den Respekt für die unterschiedlichen Religiositäten unserer Mitarbeitenden ins Zentrum gerückt.
Die beiden anlassbezogenen Reflexionen und die inspirierenden Entdeckungen haben uns ermutigt, uns einmal mehr und (im Rahmen des Möglichen) systematisch und strukturiert der Frage zu stellen, wie wir als Caritas unsere kirchliche Identität verstehen und gestalten wollen.
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Der Begriff „Religionssensibilität“ und seine Bezüge
In unserem Reflektieren hat der Begriff der Religionssensibilität für uns zunehmend konzeptionell an Bedeutung gewonnen.
Er schlägt zum einen eine Brücke hin zum Konzept der „Kultursensibilität“. Diese ist ein konstitutiver und konzeptionell entfalteter Aspekt im professionellen Verständnis sozialer Arbeit, insofern diese gefordert ist, mit kultureller Diversität der Klient*innen umzugehen.
Zum andern dockt der Begriff der Religionssensibilität an Grundhaltungen und an der Theologie des interreligiösen Dialogs und Miteinanders an.
Wir sehen in einer ersten Annäherung zwei wesentliche und einander gegenseitig bedingende Aspekte einer Kultur und Praxis der „Religionssensibilität“ in der Caritas:
- den grundsätzlichen Respekt und die Wertschätzung für das konkrete Religiöse, das und insofern es die/der Andere (Klient*in, Mitarbeiter*in, Freiwillige*r ua.) in die Begegnung einbringt, und
- die Ermutigung und die im Rahmen der Arbeit der Caritas mögliche Unterstützung der/des sich religiös artikulierenden Anderen, „sein“ Religiöses als Quelle von Lebenskraft, von Resilienz, von Respekt und Verbundenheit und von weltgestaltendem Engagement in einer religiös pluralen Gesellschaft zu ergreifen und vertieft zu erschließen.
In einem nächsten Schritt steht an, diesen Ansatz der Religionssensibilität theologisch-konzeptionell zu verorten und die Grundhaltungen und -vollzüge so weit zu beschreiben, dass diese von der Organisation und über personalentwicklerische Maßnahmen und Angebote von den Mitarbeitenden angeeignet und weiterentwickelt werden können.
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Darüber hinaus gehendes Potenzial des Konzepts
Hat das Konzept der Religionssensibilität ein über obigen Primärbezug zum Umgang mit dem explizit Religiösen in der Caritasarbeit hinausgehendes Potenzial?
Zunächst einmal möchte man diese Frage bejahen. Denn muss Religionssensibilität, die sich als bestimmendes Moment des explizit Religiösen in der Caritas zeigt, nicht eine konstitutive Prägung eines jeden Selbstvollzugs der Kirche als „Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit“ (LG 1) sein? Ist diese Religionssensibilität nicht eine wichtige Brücke hin zu einem kirchlichen Selbstvollzug und einer Gestalt der Kirchenentwicklung, die dem theologischen Ansatz und dem spirituellen Anliegen des Zweiten Vatikanischen Konzils gerecht werden? Insofern scheint es lohnend, auch dieser Perspektive in der weiteren Reflexion Raum zu geben.