Gott wirkt in, mit und für jeden Menschen. Geistliche Begleitung hilft, dieses Wirken wahrzunehmen und zu deuten. Dabei ist sorgsam zwischen verschiedenen Dimensionen innerer Verarbeitung zu unterscheiden, um eine Überformung der Erfahrungen des/der Begleiteten durch den/die Begleiter/in möglichst zu minimieren.
Regungen und Bewegungen der Seele – in der Geistlichen Begleitung
Text: Peter Hundertmark – Photo: 445693/pixabay.com
„Regungen und Bewegungen der Seele“ so nennt Ignatius von Loyola summarisch die inneren Verarbeitungsmechanismen des Menschen. Dazu zählen Gefühle, Erinnerungen, Gedanken, Stimmungen, innere Bilder, Träume, Körpersensationen, Somatisierungen, Sympathie und Antipathie, innere Einsichten, Ahnungen und Intuition. Ignatius ist überzeugt, dass Gottes Wirken mit einem Menschen immer in dessen innerer Verarbeitungsarbeit Spuren hinterlässt. Diese Spuren können in aller Vorsicht und kritischer Distanz doch gelesen und gedeutet werden, so dass die Regungen und Bewegungen der Seele als das „Sinnesorgan“ des Menschen für das Wirken Gottes anzusehen sind.
Allerdings hinterlassen natürlich auch sehr viele andere Kräfte und Impulse Spuren in diesem inneren „Sinnesorgan“: äußere Begebenheiten, Begegnungen, biographische Prägungen, Lesestoff, Musik und Filme… Auf dieses „Sinnesorgan“ wirken darüber hinaus auch eigene und fremde Kräfte, die den Menschen gegen seine eigenen Interessen wenden. Jede beliebige innere Regung kann dabei aus unterschiedlicher Richtung und mit unterschiedlichem Ziel entstehen. Die Regungen müssen deshalb, um Auskunft über das Wirken Gottes geben zu können, sorgsam unterschieden werden. Dazu dienen die Regeln zur Unterscheidung der Geister und das Gespür und die Erfahrung des/der Geistlichen Begleiter/in.
Regungen und Bewegungen der Seele sind damit die eigentliche Arbeitsgrundlage der Geistlichen Begleitung. Sie werden einerseits rückblickend von dem/der Begleiteten berichtet, entstehen aber auch ständig während des Gesprächs – sowohl in dem/der Begleiteten, als auch in dem/der Begleiter/in. Der Geist Gottes – und auch die anderen Kräfte – sind beständig am Werk. Ihr Wirken wird in der Geistlichen Begleitung also nicht nur berichtet, sondern geschieht auch akut im Gesprächsverlauf.
Sowohl die Regungen und Bewegungen der Seele des/der Begleiteten, wie auch des/der Begleiters/in werden für eine verantwortliche Unterscheidung der Geister benötigt. Dabei sind jedoch spezifische Unterschiede und Gewichtungen zu beachten. Grundsätzlich ist dabei zwischen primären Regungen – die ein eigenes Erleben begleiten, sekundären Regungen – die sich beim Hören fremder Erlebnisse einstellen, und „tertiären“ Regungen – einer Ahnung oder Intuition, die noch nicht aus den Ereignissen selbst zu begründen ist, zu unterscheiden.
Diese Unterscheidung soll am Beispiel von Filmen erläutert werden: Filme zeigen Emotionen von Menschen. In der hier gewählten Definition handelt es sich um primäre Gefühle der Filmpersönlichkeiten. Durch das Betrachten des Filmes entstehen im Zuschauer jedoch ebenfalls Emotionen, die die Emotionen der Filmpersönlichkeiten spiegeln. Der Zuschauer „geht“ emotional mit – er erlebt sekundäre Emotionen, die sich auf Ereignisse beziehen, die er nicht selbst erlebt. Der Zuschauer empfindet jedoch auch selbst wieder primäre Emotionen, da er immer auch in einer gewissen Distanz zum Film bleibt. So kann er sich über die gelungene Kameraführung freuen, oder über die banale Handlung ärgern. Eine tertiäre Regungen beim Betrachten eines Filmes ist beispielsweise die Ahnung, wie eine Handlung ausgehen wird. Filme stimulieren diese tertiären Wirkungen unter anderem durch Musik. Dass diese verschiedenen Dimensionen des inneren Erlebens schwierig zu unterscheiden sind und sich gegenseitig beeinflussen, macht den Reiz von Filmen aus. Der Betrachter „erlebt“ tatsächlich eine Geschichte und die dazugehörenden Emotionen, auch wenn ihm klar ist, dass es „nur“ ein Film ist.
Begleitete/r
Der/diejenige, die Begleitung empfängt, spricht in der Begleitung über seine/ihre Erfahrungen, erzählt Begebenheiten, reflektiert und deutet. Er/sie erschafft dabei ein Narrativ, eine schlüssige Erzählung seiner/ihrer Erlebnisse, letztlich seines/ihres Lebens. Teil dieses Narrativs sind auch die „Regungen und Bewegungen der Seele“, die die Erlebnisse begleitet haben. Diese werden je nach Begleitetem und Situation mehr oder weniger ausdrücklich angesprochen. Sie werden aber aus der Rückschau berichtet, sind also Vergangenheit. Ihre Wiedergabe entspricht dabei mehr oder weniger dem damals wirklich Gefühlten. Meist sind bereits mehrere Deutungs- und (Selbst-)Erzählungsschritte erfolgt, die die Erlebnisse in eine konsistentes Narrativ bündeln und harmonisieren. Zu unterscheiden ist deshalb zwischen primären Regungen des Begleiteten damals und den berichteten primären Regungen des Begleiteten jetzt. Zwischen beiden kann eine erhebliche Differenz bestehen, wobei den ursprünglichen primären Gefühlen für die Unterscheidung der Geister eine höhere Bedeutung zukommt.
Im Erzählvorgang, indem er/sie sich selbst sprechen hört, während also das Narrativ entsteht, indem der Begleiter Interventionen setzt…, entstehen in dem/der Begleiteten erneut Regungen und Bewegungen der Seele. Dabei können sekundäre Regungen, die sich auf die eigenen erlebten Regungen und Bewegungen beziehen, von neuen primären Gefühlen, die aus der Gesprächssituation selbst entstehen und mit dem Kommunikationsgeschehen zu tun haben, unterschieden werden. Die sekundären Gefühle sind dabei in die Unterscheidung der Geister direkt einzubeziehen. Es sind Regungen und Bewegungen der Seele, die zu einem späteren Zeitpunkt – während des Gesprächs – zu den gleichen Begebenheiten entstehen und deshalb eine vergleichbare Bedeutung für die Unterscheidung der Geister haben. Der/die Begleiter/in wird versuchen, dem/der Begleiteten zu helfen, auch diese sekundären Regungen und Bewegungen zu heben und in die Bewertung der Erlebnisse einzubeziehen.
Die neuen primären Regungen und Bewegungen hingegen erfordern zuerst die Integration in ein zweites Narrativ, das sich auf das Gesprächsgeschehen bezieht. Eine nachfolgende Unterscheidung der Geister würde dann eine Bewertung des Gesprächsgeschehens und darin der Gegenwart des Geistes Gottes oder der Wirkmächtigkeit anderer Kräfte ergeben. Beide Prozesse sind zu differenzieren. Die primären Regungen und Bewegungen der Seele wahrzunehmen, die sich direkt auf das Gesprächsgeschehen beziehen, kann Teil des Begleitungsgeschehens sein. Gefragt wird dann nach der aktuellen Präsenz und Wirkung des Geistes Gottes im Jetzt des Gesprächs. Spätestens aber bei den regelmäßigen Zwischenauswertungen des Begleitungsgeschehens werden sie ausdrücklich Thema.
Darüber hinaus gibt es in den Begleiteten „tertiäre“ Regungen und Bewegungen, die sich auf die Person, die Fähigkeiten und Grenzen der/des Begleiter/in beziehen. Es handelt sich dabei um Ahnungen, welche Themen mit dem Begleiter angesprochen werden können, welche Zugänge, welche Narrative von ihm/ihr aufgenommen und wertgeschätzt werden, welche Details, Erfahrungen, Fragestellungen aber auch nicht in dieser Begleitungsbeziehung bearbeitet werden können. Diese tertiären Regungen und Bewegungen werden in aller Regel nicht ausgesprochen, verbleiben meist sogar für den Begleiteten selbst unterhalb der Wahrnehmungsschwelle, sind aber deswegen nicht weniger wirkmächtig.
Thema werden tertiäre Regungen und Bewegungen des/der Begleiteten auf seine/n Begleiter/in hin, erst in anderen Begleitungskontexten – in Exerzitien bei einem anderen Begleiter, nach einem Begleiterwechsel, in therapeutischen Kontexten. Begleiter/innen, denen solche tertiären Regungen und Bewegungen auf frühere oder andere Begleiter/innen hin mitgeteilt werden, können diese nach den gleichen Regeln für die Unterscheidung der Geister einschätzen und entsprechende Interventionen setzen.
Begleiter/in
Während des Gesprächs entstehen in dem/der Begleiter/in sekundäre Gefühle, die sich auf das Narrativ des/der Begleiteten beziehen. Diese sekundären Gefühle sind eine wichtige Hilfe, um die Regungen und Bewegungen des/der Begleiteten wahrzunehmen und einschätzen zu können. Sie leiten zu einem erheblichen Teil die Interventionen des/der Begleiters/in. Der/die Begleiter/in fungiert durch seine/ihre sekundären Regungen als „Echoraum“ und Verstärker der Regungen des/der Begleiteten. In ihm/ihr können auch – quasi stellvertretend – Regungen und Bewegungen des/der Begleiteten wahrnehmbar werden, die der/die Betroffene selbst nicht wahrgenommen oder nicht in das Narrativ aufgenommen hat. Die sekundären Regungen des/der Begleiters/in stellen deshalb eine wertvolle Ergänzung, Polarität oder Korrektur der primären und sekundären Regungen des/der Begleiteten dar. Als sekundäre Regungen gehören sie zu den berichteten Erlebnissen und sind in die Unterscheidung der Geister einzubeziehen. Der/die Begleiter/in bringt seine eigenen sekundären Regungen deshalb in das Gespräch ein und stellt sie dem/der Begleiteten zu Verfügung.
In dem/der Begleiter/in sind jedoch immer auch primäre Regungen und Bewegungen präsent, die sich direkt auf die Person des/der Begleiteten und auf das Begleitungsgeschehen beziehen. Die primären Regungen und Bewegungen sagen etwas über den/die Begleiter/in und seine/ihre Wahrnehmung des Begleiteten und der Beziehung, nichts aber über den/die Begleiteten und seine/ihre Erfahrungen. Diese primären Regungen des/der Begleiter/in sind deshalb nicht Teil des regulären Begleitungsgesprächs, können aber zumindest teilweise in die regelmäßigen Zwischenauswertungen einfließen. Es ist jedoch unerlässlich, dass sich der/die Begleiter/in auch während des Begleitgesprächs innerlich immer wieder Rechenschaft über seine/ihre primären Gefühle gibt, da diese sonst unkontrolliert handlungsleitend werden. Im schlechten Fall verdrängter oder nicht reflektierter primärer Gefühle begleitet der/die Begleiter/in nicht den/die Begleiteten, sondern nur das affektiv eingefärbte Bild, das er/sie sich von ihm/ihr macht. Die Begleiterproduktionen übernehmen dann die Leitung des Gesprächs und der/die Begleitete wird wider alle Begleitkunst und Ethik „nach dem eigenen Bild“ des/der Begleiter/in „geführt“.
Wie in dem/der Begleiteten gibt es auch in dem/der Begleiter/in tertiäre Regungen und Bewegungen der Seele, die sich nicht auf aktuelle Narrative, auf die beobachtbare Präsenz des Begleiteten, oder das heutige Begleitungsgeschehen beziehen, sondern eine Ahnung von Zusammenhängen, Belastungen, Perspektiven… transportieren, die in dem/der Begleiteten „schlummern“. Diese tertiären Regungen können und sollen wahrgenommen und innerlich festgehalten werden. Sie werden aber nie Thema im Gespräch, bis irgendwann vielleicht der/die Begleitete Erlebnisse, Regungen und Deutungen anspricht, die die tertiären Regungen in sekundäre Reaktionen überführen. Dies kann noch im selben Gespräch, in einem späteren Gespräch oder auch nie innerhalb dieser Begleitungsbeziehung geschehen. Der/die Begleiter/in bewahrt diese tertiären Regungen und Bewegungen deshalb in sich sorgsam und geduldig auf, ohne sich davon in seinen/ihren Interventionen bestimmen zu lassen.