Geistliche Begleitung und geistliche Leitung arbeiten mit biblischen Texten. Im Mittelpunkt aber steht die Arbeit, die das Wort Gottes mittels des Textes im Menschen vollbringen will. Das Wort Gottes will zum nährenden Evangelium, zur guten Nachricht für das Leben werden.

Das Wort Gottes ist kein Text

Text: Peter Hundertmark – Photo: alfcermed/picabay.com

Wer eine Bibel kauft erwirbt damit über tausend engbedruckte Seiten. Text in Hülle und Fülle: Gedichte, Erzählungen, Geschichtsschreibung, Gesetzestexte, Briefe, Gleichnisse und noch viel mehr. Manches ist spannend zu lesen, manches eher ermüdend. Und selbstverständlich kann man an diese Texte herangehen, wie an jeden anderen literarischen Text, nach dem Autor und seiner Aussageabsicht fragen, nach den Überarbeitungen und dem historischen Kontext, nach internen Querverweisen und der Rezeptionsgeschichte. In der Theologie gibt es dafür die große Fachrichtung der Exegese. Ihre Arbeit ist unerlässlich, damit die Leser/innen heute nicht ihrem modernen Vor-Verstehen aufsitzen und am eigentlichen Text und seiner Bedeutung vorbei gehen.

Geistliches Arbeiten mit der Bibel – in der persönlichen Auseinandersetzung und Aneignung genauso wie in gemeinschaftlichen Vollzügen – setzt die Arbeit der Exegese einerseits voraus, nutzt die Texte dann aber für die eigenen Ziele. Das Geschriebene wird zum Ausgangspunkt. Durch den Text wird in den Hörer/innen eine innere Wirkung erzielt. Und auf diese Wirkung in „Regungen und Bewegungen der Seele“ kommt es jetzt an. Denn durch sie wird – im günstigen Fall – der Mensch heute zu Gott hin bewegt. Die Auseinandersetzung mit dem Text dient der Vertiefung und Verlebendigung der Beziehung dieses Menschen mit Gott.

Im Mittelpunkt geistlichen Arbeitens steht also nicht ein Text, sondern das im Text anwesende Wort Gottes. Denn für die Glaubenden hat die Bibel besondere Bedeutung. Sie ist nicht nur eine Sammlung antiker Texte. Sie berichtet von Erfahrungen mit dem lebendigen Gott, wie sie Israelit/innen und wie sie Jesus und seinen Jünger/innen zu teil wurden. Für die Glaubenden ist die Bibel Gottes Wort in menschlichem Wort. Sie ist nicht von Gott direkt diktiert. Die Texte sind zeitbedingt, spiegeln die Welt und den persönlichen Zugang des Schreibers, müssen exegetisch bearbeitet werden… und doch kommt darin, so die Überzeugung, authentisch Gott zu Wort.

Verwirrend ist dabei auf den ersten Blick, dass die aufgeschriebenen Erfahrungen sehr vielfältig, sehr unterschiedlich und in einer ganzen Reihe von Fällen auch widersprüchlich sind. Von Gott werden ganz verschiedene Bilder „gezeichnet“. Er zeigt sich immer wieder Menschen je neu und je anders. Das Wort Gottes, Gottes Selbstaussage über sich selbst, ist alles andere als nach modernen Vorstellungen in sich konsistent. Ein Buchtitel von H.U. von Balthasar bringt es auf den Punkt: „Die Wahrheit ist symphonisch.“ 

Verschiedene Stimmen klingen zusammen, verfolgen unterschiedliche Motive, bringen vielfältige Klangfarben ins Ganze ein, schaffen spannende Dissonanzen und immer wieder neue Resonanzen. Indem Einzelne oder Gruppen sich heute mit diesem Wort Gottes, wie es aufgeschrieben wurde, auseinander setzen, kommen unweigerlich weitere Resonanzen hinzu. Das Wort Gottes schafft heute neue Erfahrungen, die die Erfahrungen der Menschen zu biblischen Zeiten weiterführen, verheutigen und ergänzen.

Wer Gott ist, das ist nicht auszuschöpfen. Wer meint, ihn auf einen Begriff bringen, in ein System pressen zu können, verfehlt ihn sicher. Jeder Situation zeigt er sich neu, jedem Menschen ist er auf dessen Weise nahe – und bleibt sich dabei dennoch treu. Das Wort Gottes, mit dem er sich aussagt, ist immer konkret und aktuell und individuell. Denn das tonlose, buchstabenlose Wort Gottes verbindet sich mit der Sprache, mit dem Erleben, mit den Prägungen und der Situation dessen/deren, die/der Gott sucht. Kein einzelnes Wort ist deshalb alleine richtig. Aber alle sind wichtig. Jedes Menschen-Gottes-Wort ist wesentlich.

Nutzt eine Gruppe einen biblischen Text, um mit dem Wort Gottes in Kontakt zu kommen, entsteht in einem ersten Schritt eine weitere oft verwirrende Vielfalt. Jede und jeder versteht es in seiner Weise. In jeder und jedem verbindet sich das Wort Gottes mit seiner/ihrer Wirklichkeit, Gewordensein und Prägung, seinen/ihren Ansichten, Erfahungen und Hoffnungen. Gott zeigt sich als „Gott dieser Person“, so wie er sich in früheren Zeiten als Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, als Gott Moses‘, Jesu, der Apostel… gezeigt hat. Die menschliche Persönlichkeit prägt das Bild Gottes mit. Das ist wesentlich, wirkt das Wort Gottes doch immer inkarniert, von innen heraus. Es fällt nicht fertig vom Himmel, sondern äußert sich immer neu als Gotteswort im Menschenwort. Erst in einem zweiten Schritt wird das Verbindende des Glaubens wieder mehr sichtbar – ist es doch das gleiche Wort Gottes das zu so vielen verschiedenen Menschenworten wurde.

Denn die Bibel ist zwar abgeschossen, die Selbstoffenbarung Gottes aber geht natürlich weiter. Die Bibel ist vollständig, nichts fehlt. Sie gibt den Rahmen und das Kriterium für alle weiteren Worte ab. Jedes Menschenwort, das danach sich selbst als Gotteswort versteht, muss sich an ihr messen lassen: Lässt sich diese neue Erfahrung an die biblische Vielfalt anschließen? Lässt sich zeigen, wie Gott sich selbst in seinem neuen Wort treu ist? Die Bibel ist von der Kirche sicher verbürgtes Gotteswort im Menschenwort. In ihrer symphonischen Spannung und Vielfalt ist sie für alles Folgende normativ.

Es gibt jedoch keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen den Menschen biblischer Zeiten und heute. Gott ist jeder und jedem nahe, sucht jede und jeden Einzelnen und lässt sich von allen finden. Er spricht sich in jedes Leben und horcht auf die Antwort hin, die sein Wort im Menschen hervorruft. Das Wort Gottes ist eine Kraft, die bewegt. Diese Bewegung kann übersehen, unterdrückt oder umgedeutet werden, aber davon geht sie nicht weg. Sie ist die Kraft die stets das Gute will und stets das Gute schafft. Gott ist Liebe, Güte, Treue, Gerechtigkeit, Leben, Friede… und wo immer etwas davon im Leben eines Menschen oder zwischen Menschen geschieht, dürfen Glaubende Gottes Kraft in seinem Wort am Werk sehen.

Geistlichem Arbeiten in der Kirche geht es genau um diese Antwort der Glaubenden heute. Aus diesen Antworten wächst Kirche je neu: Menschen antworten auf dieses Wort der Zuwendung in ihnen, indem sie Zuwendung schenken. Sie leben und bestätigen damit das Wort zum Leben, das in sie gesprochen ist. Sie lieben und schätzen nichts höher als die Liebe und ehren damit Gott, der sich als Liebe sagt. Die menschliche Antwort, die tatsächlich gesprochenes oder gar geschriebenes Wort wird, ist dabei kaum mehr als das Fähnchen auf der Spitze des Eisbergs. Mystikerinnen und Mystiker wie Martin Luther: „Gott ist im geringsten Baumblatt gegenwärtig“, Hildegard von Bingen: Gott ist in der Grünkraft der Schöpfung, oder Alfred Delp: Die Welt ist Gottes so voll. Aus allen Poren quillt er hervor… gehen sogar noch weiter. Die Schönheit der Schöpfung und die Güte der Menschen sind für sie Gottes Wort, noch bevor die Antwort Wort wird.

Gottes Wort tönt und schwingt in jedem Leben. Dabei kommt es nie von außen, ist es nie übergriffig, zwingt nicht. Es ist innerliche Bewegung, es wird Körper und Leben. Christinnen und Christen glauben, dass das auf die umfassendste Weise in Jesus von Nazareth geschehen ist, so sehr dass er ganz Gott ist, indem er ganz und wahrhaft Mensch ist. Sie glauben, dass Gott sich ohne Abstriche im Leben und Sprechen Jesu offenbaren konnte. Jesus ist das lebendige, Körper und Leben gewordene Wort Gottes. Aber natürlich nicht abstrakt, sondern in einem konkreten Menschen in einer konkreten historischen Situation, mit den Ausdrucksmöglichkeiten und Grenzen seiner Zeit. Jesus lebte und sprach das Wort Gottes in seinem Leben und mit seinen Worten.

Geistliche Prozesse zielen immer darauf hin, sich selbst, die Gemeinschaft der Glaubenden, die Kirche mehr von Jesus Christus prägen zu lassen und die Beziehung zu ihm zu vertiefen. Er ist das Wort Gottes, das heute für unsere Zeit klingen will. Die Texte, die von ihm erzählen, wirken stellvertretend für sein gesprochenes Wort. So wie er damals mündlich Menschen rief, ihm zu folgen, so ruft er heute durch sein aufgeschriebenes Wort in die Nachfolge und dazu sein Wirken fortzusetzen.

In Jesus ist volle und vollkommene Frucht. In ihm ist Vollendung, was ins Leben aller Menschen als kleiner Same gepflanzt ist – und manchmal auch ein kleiner Same bleibt. Die Bibel nennt es: „Er ist der Erstgeborene der Toten“, er ist ganz die neue Schöpfung, in der das Wort Gottes rein und ohne Misstöne erklingt und die jetzt mitten in der alten, vom Tod geprägten Welt heranwächst. Und: „Wenn eine, wenn einer in Christus ist, dann ist er neue Schöpfung.“ (2 Kor 5,17) Die Bibel ist Zeugnis und Verheißung zugleich für dieses ungestört tönende, unverbrüchlich lebengebende Wort Gottes, das einmal aus der ganzen Schöpfung und aus allen Menschenleben und Menschenworten zusammenklingen soll. Alles Lebendige, alles Geschaffene ist Wort Gottes und wird Wort Gottes.

Und diese Bewegung geschieht wiederum durch das Wort Gottes, das Kraft ist und zum Guten drängt, zu Heiligkeit und zu Vollkommenheit. Das Neue Testament spricht in seinem griechischen Original von der „Dynamis“ des Wortes Gottes und beschreibt damit diese Kraft, die eben dynamisch ist, die bewegt, verändert, nach vorne drängt, immer wieder überrascht und in jedem Moment neu und jung und frisch ist. Christinnen und Christen aller Zeiten haben Erfahrungen mit dieser Kraft gemacht. Und auch heute ist die Kraft des Wortes Gottes entscheidend für ihr Leben aus dem Glauben und ihr Kirche sein. Die Dynamis des Wortes Gottes ist der Kern jeder Kirchenentwicklung. Geistliche Leitung und Begleitung suchen die Prozesse deshalb ausdrücklich für diese Dynamik zu öffnen.

Diese Dynamis des Wortes Gottes kann auf den ersten Blick mit einer abstrakten Energie des Universums verwechselt werden, die in vielen esoterischen Strömungen erfahren und ins Wort gebracht wird. Dort wo diese Energie zum Guten für alle wirkt, ist es vielleicht nur ein anderes Wort für die gleiche Wirklichkeit. Aber das Wort Gottes ist das Wort Jesu und deshalb drängt und bewegt es immer in die Richtung, die er gewiesen hat. Das Wort Gottes ist Evangelium. Es ist die Kraft, die gute Neuigkeiten schafft. Und Jesus ist da eindeutig: Das Evangelium wird den Armen gebracht. Die Dynamis des Wortes Gottes ist nicht eine zwischen den Sternen wabernde kosmische Energie, sondern eine eindeutig ausgerichtete Kraft, die gute Neuigkeiten für arme Leute schafft, die Ungerechtigkeiten angeht, Frieden schenkt, Heilung und Heiligkeit hervorbringt. Ein brasilianischer Bischof sagte einmal: „Wenn Du in das Wort Gottes, die Bibel, hineinsteigst, dann nimm die Armen mit. Sonst wirst Du Dich darin verirren.“ An seinen Früchten ist das Wirken des Wortes Gottes zu erkennen.

Diese Früchte sind auch in jedem individuellen Leben und geistlichen Suchen das entscheidende Kriterium. Das Wort Gottes wirkt in jeder und jedem zum Guten, öffnet einen Weg zum Leben, befreit und gibt Ansehen. Es ist Evangelium. Kann ich etwas nicht als solches empfinden, entschlüsseln, erleben, ist es für mich jetzt, in diesem Moment, so wie ich es verstehen kann, nicht Wort Gottes – selbst dann nicht, wenn es in der Bibel steht. Für mich jetzt: das schließt nicht aus, dass das gleiche Gotteswort im Menschenwort für meinen Nachbarn jetzt oder für mich zu einem anderen Zeitpunkt ganz und gar Evangelium und damit wirksames, heilendes und befreiendes Wort Gottes ist. In Gruppen, die gemeinsam nach dem Wort Gottes und seinem Wirken fragen, kann es also geschehen, dass der gleiche Text für manche Evangelium und für manche Teilnehmer/innen etwas ganz anderes ist. Da braucht es eine große Vorsicht, Demut und viel Respekt. Erst nach und nach kommt dann an die Oberfläche, welchen Impuls Gott heute damit für uns, die Kirche, die Menschen und die Erde zum Guten setzen will.

Die Bibel kennt aber für die Kraft des Wortes Gottes noch ein weiteres Wort: Exousia im Griechischen. Exousia bedeutet Vollmacht. Jesus, das menschgewordene Wort Gottes, legt sein Wort als Vollmacht in die Herzen und in den Mund derer, die ihm folgen. Sie sind dadurch ermächtigt, Gottes Wort zu sagen und es zuzusagen. Mit diesem Wort können sie einander und andere heilen, trösten, zum Guten rufen, können sie Leben, Liebe und Treue aussagen, Versöhnung bewirken, Gerechtigkeit und Frieden Bahn brechen. In dieser Vollmacht können die Glaubenden Kirche gestalten, ihr junge, frische Gestalt geben, damit die Menschen von heute gute Nachricht hören. Das Menschenwort der Glaubenden, wenn es im Leben und in den Worten Jesu sich gründet, hat die Macht, die Arbeit des Wortes Gottes weiter zu tun. Es kann und soll Evangelium sein.

Das Menschenwort der Glaubenden ist jedoch immer gefährdet. Es ist gemischt, immer ambivalent. Es ist eben nicht mit dem Wort Gottes identisch – und wer das behauptet, in dem ist das Wort Gottes sicher nicht. Ihr Menschwort kann zum Tönen des Gotteswortes werden. Es kann aber mit den gleichen Worten das Wort Gottes auch ganz verfehlen.

Geistliches Arbeiten in Leitung und Begleitung hat deshalb eine große Verantwortung. Immer muss unterschieden werden. Nicht alles, was in Menschen bewegt wird, ist Folge des Wortes Gottes. Es sind noch ganze andere Kräfte gleichzeitig auch am Werk. Wieder sind es die Früchte, die einen Hinweis geben. Wird das Wort, das ich sage, im anderen zum Evangelium? Ist es gute Neuigkeit, gibt es ihm oder ihr Ansehen und Würde, stärkt es Lebendigkeit und Mündigkeit, setzt es frei, schafft es Gerechtigkeit? Wehrt es der Gewalt, prangert es Missbrauch und Ausbeutung an, kämpft es gegen inneren und äußeren Unfrieden an, setzt es die Liebe gegen den Tod? Geschieht dies nicht, ist das, was für mich vielleicht vielfach erprobtes Wort Gottes ist, für den oder die andere jetzt nicht Wort Gottes.  

Hier kommt auch die Exegese wieder ins Spiel. Oft kann sie durch ihre Forschungen das Wort Gottes  hinter dem antiken Text erst wieder frei legen. Sie schafft damit die Voraussetzungen, damit das, was ich lese, in mir zur Kraft des Evangeliums werden kann. Ihre Arbeit ist unverzichtbar. Sonst würde manches Geschriebene toxisch, würde Verurteilung, Unterdrückung und Tod statt Leben, Gerechtigkeit und Frieden bringen. Die Exegese lehrt den Text kritisch zu lesen. Damit ist einer von zwei Schritten getan. Dann muss ich kritisch auch die Wirkung des Gelesenen in mir und im Anderen im Blick behalten. Beides zusammen bringt das Evangelium, das Wort Gottes im Menschenwort zum Leuchten.

Dann wird das Wort Gottes zur verändernden, heilenden und befreienden Kraft, Dynamik und Vollmacht in meinem Leben, im Leben der Kirche und im Leben der Menschen. Und jede und jeder, der und die glaubt, darf und kann unmittelbar mit diesem Wort Gottes innerlich, geistlich in Resonanz gehen, es in sich klingen und wirken lassen, sich dieser Kraft anvertrauen, sich das Evangelium anverwandeln. In Christus kann er, kann sie mit seinem, ihrem Leben zum Menschenwort werden, in dem das Wort Gottes gegenwärtig ist und tönt und wirkt zum Leben für sie, für ihn und für die Anderen.

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