Charismen sind Mode. Viele Diözesen nutzen das Wort „Charismenorientierung“, um die notwendige Neuausrichtung der Pastoral zu beschreiben. Charismen sind aber theologisch durchaus ein sperriges Thema. Beobachtungen aus der geistlichen Begleitung können helfen, den Begriff ein wenig weiter zu klären.

 

 

Was sagt, wer von „Charismenorientierung“ spricht?

Beitrag von Dr. Peter Hundertmark – Photo: Peter Hundertmark

 

Charisma – Anreicherungen eines Begriffs

Ein erster, sehr formaler Zugang geht auf eine Definition von Karl Rahner zurück: charismatisch ist die Kirche, wenn sie ein zum Geist Gottes hin offenes System ist. Damit ist keineswegs nur Banales über Kirche gesagt, denn diese Offenheit hat radikale Konsequenzen. Kirche kann sich nicht binnenlogisch organisieren. Sie ist abhängig von der unverfügbaren Macht des Heiligen Geistes, der aktiv und akut in ihr Leben eingreift. Ihre Entwicklungsprozesse sind deshalb ergebnisoffen, ihre Gestalt wandelbar, ihr Planen immer unter Vorbehalt. Ihr „Baustoff“ sind die Charismen, die der Geist gibt, wie er will. Ihr Leben deshalb flexibel, veränderbar, hörend, fließend, beweglich. Kirche ist ein System, das nicht über sich selbst verfügt und deshalb sich auch nicht selbst stabilisieren kann. Das ist Herausforderung und Befreiung in eins. Es gibt der Kirche die Möglichkeit und zwingt sie zugleich, sich selbst zu relativieren und zu überschreiten. Mit der Rede von der „Charismenorientierung der Pastoral“, versucht Kirche ihr eigenes Wesen für die Herausforderungen der späten Moderne auch praktisch einzuholen.

Das Wort Charisma wird im kirchlichen Kontext vielfältig verwendet. Die unterschiedlichen Bezüge geben dem Begriff eine erstaunliche Bedeutungstiefe. Ein Kontext ist die Rede von „charismatischen Gestalten“ -Ordensgründer/innen, theologische Lehrer/innen, große Beter/innen. Hier betont das Wort Charisma den Modellcharakter der Persönlichkeit, ihre Fähigkeit andere zu begeistern und exemplarisch Glaube zu leben und in effizientes Handeln umzusetzen. Ähnlich ist die Verwendung in der säkularen Managementliteratur. Auch hier ist ein komplexe Gestalt von Eigenschaften und Fähigkeiten gemeint, die mehr als Kompetenzen, Wissen und Können direkt in der Selbstleitung und Persönlichkeitsentwicklung der Führungskraft wurzelt. Dieser Aspekt der Bindung an die Persönlichkeit ist wesentlich für eine moderne Bestimmung des Wortes „Charisma“. Er ergänzt die klassische, in 1 Kor 12 und Röm 12 grundgelegte theologische Definition: Gnadengaben des Heiligen Geistes, die den Glaubenden zum Aufbau des Gottesvolkes gegeben werden. Betonen die biblischen Referenzstellen die freie Gabe Gottes, die in keiner Weise hergestellt werden kann, so akzentuiert der moderne Gebrauch des Wortes die Aneignung durch die Person. Charisma ist eine Wirklichkeit gereifter Persönlichkeiten – und ein uneinholbares Plus, das durch das freie Handeln Gottes hinzukommt.

Einen anderen Aspekt trägt die Rede von der Charismatischen Erneuerung, von charismatischen Kirchen und von charismatischen Zugängen zu Glaube und Kirche bei. Gemeint sind nun kirchliche Wirklichkeiten, die durch flache, weiche Strukturen, freies Gebet und eine hohe Wertschätzung der besonderen Gaben des Geistes Gottes geprägt sind. Dies verbindet sich mit einem Akzent auf die Gleichheit aller Getauften, die alle, unabhängig von Geschlecht, Alter, Stand, Bildung… Geistträger/innen sind oder sein können. Für den charismatischen Blick auf Kirche sind die persönliche Jüngerschaft in der Nachfolge Jesu und eine besondere Hinwendung zum Heiligen Geist entscheidend, die als Voraussetzung gesehen werden, Christ im eigentlichen Sinn des Wortes, jenseits und über die reine Sakramentalisierung hinaus zu sein. In diesem Kontext wird deshalb charismatisch oft den Worten „hierarchisch“, „petrinisch“, „offiziell“ oder „institutionell“ entgegengesetzt , um den spontanen, geistlichen, religiös unmittelbaren, improvisiert-improvisierenden, je neu entstehenden Charakter von Kirche und ihre Bindung an das immer wieder überraschende Handeln Gottes zu unterstreichen. Der Begriff Charisma gewinnt von dieser Wortverwendung die Dimension des geistlichen Lebens, des Gebetes, der Ausrichtung auf das freie Wirken Gottes hinzu.

Vom Charisma eines Ordens oder einer Gemeinschaft spricht man, wenn die spezifische Ausrichtung und Sendung, der Stil und die Spiritualität gemeint sind. Charisma meint hier Prägung, Profil, Gestalt. Charisma verbindet als Wort dann die besondere Berufung, das spezifische Apostolat, eine eigenständige Vorgehensweise zu einem in allen Teilen und Mitgliedern wiedererkennbaren Ganzen. Damit  steuert dieser Gebrauch des Wortes die Einsicht bei, dass eine Gemeinschaft, die sich von dem Charisma ihres Anfangs und von den Charismen in ihren eigenen Reihen formen lässt, ein individuelles „Gesicht“ entwickelt. Sie wird eine eigenständige und eigenlogische Weise, Glaube zu leben. Sie ist nicht einfach eine Funktion und Ausdruck einer „allgemeinen“ Kirche, sondern ein lebendiger Organismus innerhalb von Kirche, eine „kommunitäre Persönlichkeit“, die im Dialog mit anderen Gestalten von Kirche ihren Ort und Beitrag definiert.

Seit einigen Jahren wird auch von Amtscharisma gesprochen, um ein Spezifikum kirchlichen Amtes auszudrücken. Der Begriff ist eigentlich in sich widersprüchlich, da er eine institutionell-hierarchische Gestalt (Amt) mit ihrem Gegenbegriff des frei gegebenen Charismas zusammenfügt. Das Wort Amtscharisma drückt damit die theologische Überzeugung oder oft mehr die Hoffnung aus, dass einem Amtsinhaber vom Geist Gottes auch die nötigen Fähigkeiten gegeben werden, um seine Aufgabe im Sinne der Kirche zu erfüllen. In der Bedeutungsvielfalt von „Charisma“ stärkt diese Wortschöpfung den Aspekt der Kompetenzen und des Handelns. Sind die Charismen doch schon von der biblischen Definition her immer außen- und tätigkeitorientiert und unterscheiden sich darin von den Tugenden. Charismen sind handlungsorientierte Begabungen. Sie aktualisieren die Sendung der Kirche in die Gesellschaft, zu den Einzelnen, für die Schöpfung.

 

Erfahrungen aus der Geistlichen Begleitung/den Exerzitien

Um das Phänomen der Charismen klarer zu fassen, macht es viel Sinn auf die Erfahrungen in der Geistlichen Begleitung und Exerzitienbegleitung zurück zu greifen, denn diese Dienste sind seit vielen Jahren mit Menschen in Kontakt, die sich ihrer Charismen bewusster werden. Der erste und vielleicht wichtigste Beitrag dieser Dienste zu einer Theorie der Charismen ist die Einsicht, dass die Charismen in der Regel sich erst im Kontext längerer Reifungswege eines übenden geistlichen Lebens einstellen und zu Tage treten. Dieser bei der Begleitung eher heuristisch gewonnene Eindruck wird von den Forschungen des Catherine-of-Siena-Institute in Colorado Springs, USA gestützt, das vielfältig zum Thema Charismen publiziert.

Die Beobachtungen in der Geistlichen Begleitung zeigen, dass sich Charismen meist aus den Talenten und Begabungen entwickeln, die der/die Übende schon in den geistlichen Weg mitgebracht hat; manchmal aber  tauchen auch ganz überraschende, neue Fähigkeiten auf. Aus einer spirituellen Perspektive ist deshalb die erste Notwendigkeit, Talente und Charismen sorgsam zu unterscheiden.

Talente, Fähigkeiten und Kompetenzen gehören theologisch zur Schöpfungsordnung. Sie entfalten sich aus den natürlichen Anlagen eines Menschen und werden durch Lernen, Training und Reflexion gestärkt. Alle Menschen, unabhängig von persönlichem Glauben, haben von Gott Talente bekommen, die sie kultivieren können und sollen. Charismen – besondere Gaben des Heiligen Geistes zur Auferbauung des Gottesvolkes – gehören zur hingegen zum Geschehen des Evangeliums. Charismen setzen Talente und natürliche Anlagen (meist) voraus, fühlen sich aber anders an, greifen weiter und tiefer, ziehen ihre Kraft nicht nur aus der Persönlichkeit, sondern auch aus dem personalisierten Handeln Gottes. Manchmal sind Charismen deshalb auffällig und ungewöhnlich, aber das ist keine notwendige Eigenschaft. Viele Charismen sind unscheinbar und beinahe alltäglich. Ihr Rahmen aber ist anders. Sie verbinden mit der Sendung, die Gott sich in Jesus Christus selbst gegeben hat: sein Reich des Friedens, der Gerechtigkeit und Freiheit heraufzuführen. Charismen befähigen und verpflichten ihre/n Träger/in auf Christus und seinen zeitlichen Leib, das pilgernde Gottesvolk.

Charismen, in diesem theologisch-spirituellen Sinn des Wortes, sind immer und aus innerer Notwendigkeit heraus ein Glaubensgeschehen unter dem Drängen des Evangeliums. Sie setzen persönlichen Glauben, Erfahren, Beten, Üben, Reifen… voraus. Selten werden sie unabhängig von einem längeren, achtsamen und reflektierten persönlichen Glaubensweg gegeben. In der Praxis der Exerzitien und der Geistlichen Begleitung hat sich dazu ein Erfahrungswissen herausgebildet, das eine idealtypische, individuell natürlich immer variierte Abfolge geistlicher Aneignung zu beschreiben weiß.

Es beginnt, immer auf der Erfahrungsebene, mit dem Glauben: Glauben, dass es Gott gibt, dass er sich zeigt und erfahrbar macht, dass er auch jetzt zugunsten der Menschen und seiner Schöpfung handelt, dass er gut und sein Handeln gut ist. Dem entspricht als Antwort die Annahme der eigenen Geschöpflichkeit: ich bin geschaffen und als begrenztes  Wesen von Gott unbegrenzt gewollt und geliebt. Gott will mich als freie, mündige, lebendige, mit sich in Einklang stehende Person – und ich gewinne für mich, mein Leben, meine Gestalt und Identität, wenn ich mich auf Gott ausrichte. Eine solche antwortende Ausrichtung auf Gott hin greift dann in einer weiteren Etappe auf immer mehr Lebensbereiche über, stößt aber zugleich auf innere Widerstände, Ungeordnetes, Gewohnheiten und Anhänglichkeiten, Unfreiheit und Bindung. Die Antwort auf Gottes Handeln zeigt sich schwieriger, als gedacht. Der Übende wird sich so der Notwendigkeit der Erlösung bewusst. Er selbst kann sich aus den Unfreiheiten seiner Biographie und Persönlichkeit nicht befreien. Nur Gott kann ihm eine freie und umfassende Antwort auf das Leben möglich machen. Und diese Erlösung ist in Menschwerdung, Leben, Sterben und Auferstehen Jesu Wirklichkeit – auch für mich, existentiell für mich – geworden.

Die so gewonnene Freiheit ermöglicht es, den Ruf Jesu in die Nachfolge zu hören, ernst zu nehmen, abzuwägen. Die Nachfolge ist ein Mehr, ein Angebot, das angenommen oder abgelehnt werden kann, ohne dass die Lebenszusage Gottes deshalb zurückgenommen wird. Nachfolge – jenseits aller Fragen einer Berufsentscheidung oder der Perspektive eines geweihten Lebens im engeren Sinne – ist jede freie Bindung an Jesus Christus. Jesus tritt an den/die schon geistlich erfahrene/n, innerlich ein wenig freier gewordene/n Glaubende/n heran, ruft auf einen die ganze Existenz umgreifenden Weg mit ihm und bietet eine geistliche (für die meisten Menschen nicht in Konkurrenz mit zwischenmenschlichen Bindungen) Partnerschaft an. Die Partnerschaft, die Christus anbietet, umfasst beide Aspekte, die das deutsche Wort transportiert: als emotionale Nähe und Verbindlichkeit und als Zusammenwirken in einem, seinem Projekt „zur Rettung des Menschengeschlechtes“ (Ignatius v. Loyola). Der dann entstehende Weg mit Jesus ist einerseits neu, denn er formt sich aus dem alltäglichen Leben des/der Glaubenden und dem Weg Jesu, andererseits auch normiert eben durch das Leben Jesu und seine Treue zu einem absteigenden Weg der Erlösung – vom Himmel, über die Krippe bis ans Kreuz (Philipperhymnus). In, und quasi auf der Rückseite, der dann wachsenden Vertrautheit mit Jesus Christus, werden dann oft die persönlichen Charismen sichtbar und wirkmächtig. Sie geben dem Weg mit Jesus Richtung, ermöglichen einen profilierten Beitrag zu seiner Sendung noch einmal in einer neuen Weise, formen die spezifische Gestalt der Sendung und tragen so dazu bei, dass das Leben entschieden aus der Christusbeziehung heraus gestaltet wird.

Charismen treten also idealtypisch – individuell kann es sehr anders sein – an einer spezifischen, relativ „späten“  Stelle des geistlichen Weges auf. Sie sind Ausdruck der Jüngerschaft, der persönlichen Bindung an Jesus Christus. Dabei fühlt es sich meist keineswegs als Durchbruch an. Echte Charismen erzeugen keine Hochstimmung und locken die Glaubenden auch nicht in ein übersteigertes Selbstbild. Menschen, die ein Charisma bekommen haben, erleben es vielmehr oft sehr ambivalent: es ist eine Gabe und zugleich eine Last. Charismen werden nicht angestrebt. Sie stellen sich ein, werden entdeckt und nehmen in Dienst. Dem Erleben entspricht oft die Formulierung: Ein Charisma wird auf einen Menschen gelegt. Demut ist ein Wort mit schwieriger Geschichte, wurden darüber doch oft Demütigungen transportiert, aber hier trifft es die Haltung derer, die sich mit einem eigenen Charisma konfrontiert sehen. Sie bleiben demütig und werden oft noch demütiger, heißt sie wissen darum, dass Gott wirkt, was durch sie geschieht. Sie wissen, dass sie Werkzeuge und nicht Werkmeister sind.

 

Charismen in der Kirche

Charismen werden auf individuellen Glaubenswegen sichtbar und wirksam. Zugleich aber sind sie, schon durch ihre Außenorientierung und ihre Bindung an die Sendung Jesu, immer auch eine kirchliche Wirklichkeit. Charismen sind deshalb näher hin als ein unabdingbar dialogisches Geschehen zu bestimmen. Jedes Charisma wurzelt in der persönlichen Christusbeziehung, es wird dem Einzelnen vom Heiligen Geist gegeben, aber es zielt auf das Ganze des Gottesvolkes. Die Kirche als Ausdruck des Gottesvolkes wiederum ist auf Charismen angewiesen, kann aber nicht über die Charismen verfügen, sie weder herstellen, noch ungeschehen machen. Ob aber eine Gabe wirklich dem Aufbau des Gottesvolkes dient, ist manchmal eine Frage, die sich nur in sorgsamer gemeinsamer Abwägung klären lässt. Ein Charisma als individuelle Gabe entwickelt seine volle Wirksamkeit, wenn es von denen angenommen und bestätigt wird, denen es dienen soll. Niemand kann sich ein Charisma selbst monologisch zuschreiben. In gleicher Weise kann Kirche auch niemals aus eigener Macht Charismen definieren, einfordern oder bestimmen. Charismen sind eine kommunitäre, zugleich personale und kollektive Wirklichkeit im Gottesvolk.

Dabei gibt es keine Knappheit. Das Neue Testament und auch die Geschichte der Kirche kennen bei den Charismen nur die Fülle. Gottes Geist ist immer aktiv. Nie versiegt diese Quelle. Gott überschüttet die Kirche zu jeder Zeit, besonders aber in Zeiten der Krise und Neuausrichtung, mit Charismen. Nicht immer aber scheint es rasch und unkompliziert zu einer Passung zwischen Charismen und Kirche zu kommen. Zwei Bewegungen sind dann nötig: Zuerst eine kritische Selbstreflexion der Kirche, ob sie auf dem Weg ist, den Gott ihr durch die schon offenbaren Charismen vorzeichnet, im Zweifelsfall echte Umkehr, Veränderung ihrer Lebensformen und ihrer Pastoral und ein grundlegender Neuanfang. Dann aber ein aktives Zugehen der Kirche auf die Glaubenden, indem sie Charismen, die für ihr Leben unverzichtbar sind, aus dem Glaubensleben der Einzelnen ruft und von Gott erbittet. Eine solche Pastoral des Rufens verlangt aber zugleich eine Pastoral, die das persönliche geistliche Leben der Glaubenden fördert und begleitet. Denn auch Charismen, nach denen die Kirche ruft, wachsen aus der Christusbeziehung der Einzelnen, und diese Beziehung muss sich entfalten  und reifen. Rufen und Unverfügbarkeit, kirchlicher Bedarf und Gottes freies Handeln, bleiben dauerhaft in unauflöslicher Spannung.

Aus der Einsicht, dass sich Charismen in der Regel erst auf längeren personalen geistlichen Reifungswegen zeigen, ergibt sich eine weitreichende Konsequenz. Kirche kann mit ihrem Ruf nicht verantwortlich einfach an alle Christ/innen herantreten, die zwar durch die Sakramente von Taufe und Firmung in die  Mit-Verantwortung gestellt sind, diese aber nicht ohne weiteres wahrnehmen können (und wollen). Die Logik der Sakramente und die Logik der glaubenden Aneigung dürfen nicht verwechselt werden. Andernfalls kommt es zu Übergriffen, Ausbeutung und Missbrauch. Zwar ist in Taufe und Firmung ist alles grundgelegt und kein Üben, kein Beten, keine Entwicklung oder Aneignung fügt dem Geschehen der Sakramente etwas hinzu. Aber so wie die Sakramente die Umsetzung in personales Geschehen und individuelle, glaubende Lebensgestalt erfordern, um ihre Wirkung schon in dieser Zeit voll entfalten zu können, so entwickeln sich Charismen in der Regel erst auf dem Weg der individuellen Aneignung des Glaubens. Taufe und Firmung sind eben kein „opus operatum“, das alleine aus dem sakramentalen Vollzug heraus wirkt. Dies muss bei aller kirchlich gewollten und pastoral notwendigen Aufwertung der Taufwürde bewusst bleiben.

Allen ist die Gnade gegeben, alle aber müssen ihre Wirkung aktiv annehmen und kultivieren, damit sie fruchtbar wird. In diesem Sinn kann auch nicht angemessen davon gesprochen werden, dass alle Getauften automatisch Charismenträger/innen sind. In alle Christ/innen ist durch die Sakramente das Potential für Charismen angelegt, nicht alle aber wollen und können dieses Potential entfalten. So führt der theologische Kurzschluss, der in der Taufe bereits Berufung, Charismen, Verantwortung gegeben sieht, in eine potemkinsche Irrealität. Theologisches Ideal und kirchliche Wirklichkeit werden verwechselt. Ein pastoralplanerischer Sprung von den Sakramenten direkt zu den Charismen und damit zu praktischen Aufgaben verfehlt die Realität, schafft hybride Erwartungshorizonte und führt im schlechtesten Fall zur Ausbeutung ehrenamtlichen Engagements. Zur Sakramentalisierung der Christ/innen muss erst die Evangelisierung – das Leben durch das Evangelium formen – hinzutreten.

 

Charismen fördern

Charismen zu fördern, ist eine eigenständige Tätigkeit und Kompetenz in Kirche. Sie unterscheidet sich von dem allgemeinen pastoralen Grundsatz, Menschen nach ihren Talenten für eine Mitarbeit anzusprechen. Dahinter steht in der Regel ein Bild von Kirche als ausdifferenziertes Ganzes mit festen Strukturen und Bedarfen, die durch Engagement auszufüllen sind. Talente eignen dann für Mitarbeit. Ihr Einsatz ist aufgabennormiert und systemstablisierend. Sie sind nicht in gleicher Weise wie die Charismen eine eigenlogische geistliche Wirklichkeit.

Charismen zu fördern hingegen, ist ein pastoraler Paradigmenwechsel, da mit den Charismen eigenständige geistliche „Activa“ entstehen, die mit intrinsischem Recht und aus eigener Kraft die Gestalt von Kirche neu formieren und andere Ausdrucksformen des Glaubens hervorbringen: Neu und anders, denn der Geist Gottes wirkt immer zeitgenössisch. Der Einsatz von Talenten ist in gewissem Umfang planbar, die Wirkung von Charismen führt immer in ergebnisoffene Entwicklungsprozesse.

Die Charismen zu fördern, ist Teil und Ausdruck der „Cura personalis“. Dieser Begriff der ignatianischen Spiritualität meint im spezifischen Kontext, einen Menschen in all seinen Bezügen, wohlwollend, fördernd und schützend im Blick zu behalten. Wenn es sich dabei um eine/n (künftige/n) Mitarbeiter/in handelt, umfasst die „Cura personalis“ auch die Verantwortung für eine Aufgabe, die ihm/ihr entspricht, die ihm/ihr eine positive Resonanz ermöglicht und die deshalb ein fruchtbares Wirken der Person wahrscheinlicher macht. Sie unterscheidet sich von der „Cura generalis“, die den Rahmen und die Struktur schafft, damit das Gottesvolk seiner Berufung folgen kann, und von der „Cura particularis“, der Einzelseelsorge und geistlichen Begleitung.

Um in der Weise der „Cura personalis“ Charismen zu fördern, braucht es seitens desr Verantwortlichen eine spezifisch kultivierte Intuition, die umfassend informiert ist und dabei achtsam unterscheidet, die vernetzt ist und geistlich spürsam. Diese Intuition gründet im Idealfall wiederum in Charismen – Charismen, die nicht automatisch (ex opere operatum) mit einem Amt gegeben sind, gar an die Weihe gebunden wären. Das Charisma der Intuition für die Cura personalis wird auch unabhängig von aller amtlichen Einsetzung gegeben und wird von ganz verschiedenen Menschen im Gottesvolk fruchtbar ausgeübt.

Charismen zu fördern ist zuerst und zuinnerst ein Gebetsweg, der nicht abgekürzt werden kann. Dabei ist der Zeitfaktor entscheidend. Charismen entstehen auf einem längeren, betend-übenden geistlichen Weg (Saatgleichnisse der Evangelien!). Diese geistlichen Wege erfordern in der Regel eine sorgsame, zeitintensive geistliche Begleitung. Diese ist methodisch und unbedingt auch personell von der Cura personalis verschieden, kommt also als Arbeitsaufwand und Zeitbedarf hinzu. Aber auch die Befähigung die Cura personalis auszuüben, entsteht auf längeren, begleiteten geistlichen Reifungswegen – die wiederum meist eine Begleitung im Sinne der Cura particularis erfordern.

Die konkrete Tätigkeit, Charismen zu fördern, gliedert sich dann in mehrere Schritte auf. Zuerst muss der/diejenige, der/die die Cura personalis ausübt, die Menschen in ihrem/seinem Umfeld gut kennen. Er/sie muss in langfristige Beziehungen investieren, sich für die Lebensbedingungen, die Talente und Optionen seiner/ihrer Mitchrist/innen interessieren, ein Gefühl für deren menschliche und geistliche Reife und Mündigkeit entwickeln. Der damit angedeutete Arbeitsaufwand macht schon klar, dass diese Aufgabe in jedem pastoralen Feld immer von mehreren Personen wahrgenommen werden muss.

Der zweite Schritt, der, um Täuschungen zu minimieren, unbedingt den ersten voraussetzt, ist das Auffinden, Unterscheiden und Entgegennehmen der Charismen. Erfordert der erste Schritt eine gute Menschkenntnis, ein gerüttelt Maß positiver Neugier und die Fähigkeit langfristige Beziehungen einzugehen und zu gestalten, treten nun die Charismen der Unterscheidung der Geister und der geistlichen Indifferenz in den Vordergrund. Nur so kann es gelingen, die Anderen nicht nach dem eigenen Bild (von Kirche) zu leiten, nicht an dem spezifischen Wirken Gottes vorbei zu agieren, und so letztlich die gutwillige Bereitschaft zum Engagement für scheinbar notwendige Aufgaben zuzurichten. Dabei wirken wiederum sinnvoll mehrere Personen zusammen, die sich über ihre Eindrücke austauschen und in gemeinsamer Unterscheidung zu einer Einschätzung kommen. Eventuell wird dieser Schritt durch einen formellen „Ruf“ abgeschlossen und besiegelt.

Charisma und Dienst hängen direkt zusammen. Es gibt kein echtes Charisma, das nicht fruchtbar wird. Zur Cura personalis gehört deshalb nicht nur die Entgegennahme des Charismas, sondern als dritter Schritt auch, den/die Charismenträger/in zu senden, ihm/ihr eine Mission zu geben. Mission oder Sendung in dieser Wortbedeutung ist das geistliche Geschehen, das den/die Gesendete/n rückbindet und sichtbar eingliedert in die Sendung Jesu für das Reich Gottes und die Erlösung der Menschen. Eine solche geistliche Sendung ist dabei immer umfassender als ein einzelner konkreter Dienst. Der Sendung können gleichzeitig oder nacheinander unterschiedliche Aufgaben entsprechen. Eventuell wird die Sendung in einer formalen Beauftragung öffentlich bestätigt und gefeiert.

Die Erfahrungen aus der geistlichen Begleitung widersprechen dabei Befürchtungen, die im Blick auf diese Konzeption unwillkürlich entstehen. Durch Charisma und Sendung steigt normalerweise die Verfügbarkeit der Menschen für das Reich Gottes und das Gottesvolk – und darin für eine Vielfalt von Aufgaben und Zugängen, die jedoch alle aus dem spezifischen Charisma heraus angegangen werden. Charismenträger/innen agieren aus einer anderen Haltung heraus und unterscheiden sich in ihrem Verhalten von den ungemein wertvollen Mitarbeiter/innen mit einem eindeutig konturierten Berufsprofil, die oft nur (noch) für bestimmte, als passend empfundene Tätigkeiten zu Verfügung stehen.

Bei all diesen Schritten, wie immer in geistlichen Dingen, gibt es jedoch keine letzte Sicherheit. Charismen sind immer gefährdet, denn eine Verwechslung von Ego und Gabe kann nie ganz ausgeschlossen werden. Dankbarkeit und bleibende Demut sind deutliche Hinweise auf die Echtheit eines Charismas. Die entscheidende Probe ist aber die Realität des praktischen Handelns. Bringt diese Gabe gute Früchte hervor, hilft sie den Betroffenen, wird sie akzeptiert, bleibt sie in dem, „was die Kirche tut“, nutzt sie dem pilgernden Gottesvolk für seinen nächsten Schritt in die Zukunft? So gehört als vierter Schritt die kritische Reflexion, Überprüfung und notfalls Korrektur integral zu jeder Förderung der Charismen.

Mittelfristig „rentiert“ die eingesetzte Zeit für das Leben der Kirche, denn Charismen schließen an die Wirkmacht des Geistes Gottes an. Die Wirkung und die Reichweite von Charismen überrascht oft (biblisch: „alle waren voller Verwunderung, über das was geschah“). Selbst wenn ihre Wirksamkeit durch Umstände, Widerstände und Gegenkräfte eingeschränkt ist, bleibt die überschießende Kraft der Charismen immer spürbar. Aber niemand soll glauben, dass Charismen zusätzlich zu oder neben den bisherigen Aufgaben her gefördert werden können.

 

Charismenorientierung

Denn Charismenorientierung der Pastoral bedeutet einen Paradigmenwechsel. Es geht nicht um ein paar pastoralpraktische Veränderungen, ein wenig mehr ehrenamtliche Verantwortung oder eine Bereinigung des kirchlichen Aufgabenportfolios. Charismenorientierung führt ein anderes Bild von Kirche ein, eine abhängige Kirche, eine weiche, fließende, verletzliche Kirche, eine Kirche, die sich selbst nicht formen und stabilisieren kann. Damit fasst das Wort jedoch zusammen, was für Kirche jetzt in der späten Moderne dran ist.

Setzt die Kirche auf Charismenorientierung, werden die Charismen die Gestalt von Kirche sehr verändern. Es entsteht unter dem Wehen des Geistes Gottes und in der Spur Jesu Christi eine Gestalt, um die noch niemand weiß und die niemand voraussagen kann. „Sende aus deinen Geist, und das Angesicht der Erde wird neu“ – betet, hofft und ahnt die Kirche schon immer. Da die Charismen aus der Christusbeziehung der Glaubenden wachsen und teilnehmen an der Sendung Jesu Christi, kann als einzige Sicherheit angesetzt werden, dass auf diese Weise ein Potential entsteht, damit mehr Reich Gottes im Jetzt sicht- und spürbar wird.

Da der Geist Gottes, indem er Charismen gibt, sich immer mit den konkreten Talenten, Persönlichkeiten, örtlichen und zeitlichen Umständen der Menschen verbindet, die sich ihm öffnen, entsteht notwendig eine hoch differenzierte Situation mit einer großen Zahl in sich geistlich profilierter, aber unterschiedlicher, eventuell auf den ersten Blick sogar widersprüchlicher Gestalten von Kirche. Es bildet sich eine Komplexität heraus, die der Komplexität der Gesellschaft in der späten Moderne folgt und eher entspricht, als jedes planerische Vorgehen. Diese Vielfalt ist eine Chance für das Zeugnis für Christus, aber eine Herausforderung für den Zusammenhalt in einer einzigen Kirche.

Wer Charismenorientierung will, sagt damit wegen den Bedingungen der Cura personalis zugleich zumindest für eine Übergangszeit, exemplarische Konzentration der Arbeitskraft auf einige wenige Felder und Beziehungen. Ohne die Hoffnung aufzugeben, alle Getauften erreichen und „bedienen“ zu können, ist Charismenorientierung nicht möglich. Charismenorientierung, im Sinne einer pastoralen Option, wird auf diejenigen fokussieren müssen, die sich seit längerem um ein geistliches Leben bemühen. Kurzfristig ist das unvermeidlich elitär und ungerecht, mittelfristig dürfte sich die Selbstbescheidung und Konzentration auch für das Ganze des Gottesvolkes lohnen, vervielfältigen die wirksamen Charismen und die wachsende Zahl von Charismenträger/innen doch die Reichweite kirchlichen Handelns.

Gefährlich wird Charismenorientierung, wenn sie pastoralplanerisch eingesetzt wird, um durch eine geistliche, unverfügbare Realität des Evangeliums die zeitliche Gestalt der Kirche in ihrer historisch gewordenen Form zu stabilisieren. Soll ein Geistgeschehen ein System retten, steht die Gefahr geistlichen Missbrauchs unmittelbar im Raum. Im schlechtesten Fall kippt Charismenorientierung unter dem Andrang einer in die Krise gekommenen Cura generalis in Ausbeutung von gutem Willen und Engagement von Freiwilligen und Hauptamtlichen.

Eine besondere Aufmerksamkeit braucht Charismenorientierung im Blick auf den Einsatz von Hauptamtlichen in der Kirche. Amt und Charisma gehen nicht automatisch überein. Weihe und Anteil an der Ausübung des Weiheamtes durch Beauftragung sind von persönlicher Glaubensaneignung, Berufung, Charisma und Sendung zu unterscheiden. Jedes Amt, jede Arbeitsstelle wird deshalb immer weiter gespannt sein als die persönlichen Charismen des/der Stelleninhaber/in und auch Aufgaben umgreifen, die nicht den spezifischen Charismen entsprechen. Fruchtbarer jedoch wird die pastorale Tätigkeit, je mehr sie dem persönlichen Charisma Raum geben kann. Der konkrete Einsatz muss deshalb die persönlichen Charismen ebenso bedenken, wie das Zusammenspiel und die wechselseitige Ergänzung und Korrektur der Charismen vor Ort – wobei im Sinne der gemeinsamen Priestertums aller Getauften natürlich auch die Charismen der Ehrenamtlichen in die Betrachtung einzubeziehen ist. Zusammen mit der Ausdifferenzierung der kirchlichen Wirklichkeiten durch die Charismen vor Ort erfordert dies eine komplexe Personalarbeit im Sinne einer umfassenden, geistlich gegründeten Cura personalis.

 

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