Papst Franziskus und die letzte Weltsynode versuchen, eine neue Etappe der Umsetzung des Zweiten Vatikanischen Konzils anzustoßen. Texte alleine aber verändern die Kultur und die Abläufe der Kirche nicht. Es braucht beharrliches, gezieltes Einüben. Lange Geübtes wird durch Üben verändert.
Synodalität üben
Text: Peter Hundertmark – Photo: hamiltonpaviana/pixabay.com
Wer schon versucht hat, mittels Körperübungen eigene Bewegungsmuster zu verbessern, wer verhaltenstherapeutische Unterstützung genutzt hat, um erlerntes Verhalten und Empfinden zu verändern, wer ein kompliziertes Musikstück oder einen sportlichen Bewegungsablauf trainiert hat… weiß wie langwierig solche Veränderungen sind und wie viel straffe Konsequenz sie erfordern. Durch Sozialisation unbewusst aufgenommene und nicht hinterfragte Regeln, das eigene Körperschema und die lang vertrauten motorische Prozesse, eingespielte, systemische verstärkte Verhaltensmuster, Gewohnheiten der Selbst-, Welt- und Fremdwahrnehmungen, emotionale Reaktionen, Übertragungen… sie alle reagieren nicht oder nur sehr verzögert auf kognitive Prozesse.
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Geübtes wird durch Üben verändert
Verstandesmäßige Einsichten und bewusst gesetzte Willensentscheidungen starten den Veränderungsprozess – oder versuchen es zumindest. Die vorbewussten inneren (Teil-)Systeme jedoch setzen den kognitiven Impulsen meist massive Widerstände entgegen und versuchen, die eigene überkommene Funktionsweise möglichst rasch wieder zu stabilisieren. Spätestens wenn Menschen in Gefahr, unter Stress und emotionalem Druck kommen, re-etablieren die vorbewussten inneren Systeme ihre Abläufe gegen die neu gewonnenen und bewusst entschiedenen Veränderungen. Menschen kehren dann zu früheren Mustern, Einstellungen, Verhaltensweisen zurück, die sie eigentlich überwunden glaubten und die nicht mehr zu ihren Werten und ihrer aktuellen Situation passen.
Natürlich sind dennoch Veränderungen präkognitiver Systeme möglich, aber sie gelingen weniger durch Einsicht, denn durch konsequentes Einüben. Verhaltensmuster, emotionale Reaktionen, inneres Körperschema, … stabilisieren sich zirkulär: immer wieder werden über Jahre hin repetitiv die gleichen Abläufe wiederholt, die sich dadurch als (scheinbar) unhintergehbare Normalität festsetzen. Linear-strategische Impulse des Verstandes haben durchaus das Potential solche repetitiven Systeme zu irritieren und Veränderungen anzustoßen. Ihr Impuls durch die bewusst gesetzte Irritation wird aber nur über Maßnahmen wirksam, die den Lerngewohnheiten präkognitiver Systeme entsprechen: über Wiederholungen, die so lange eingeübt werden, bis die früheren Muster effektiv überschrieben sind. Geübtes wird durch Üben verändert, nicht durch Entscheidung. Üben, und konsequent immer wieder üben, ist das Mittel der Wahl, wann immer man es mit prä- oder nonkognitiven Mustern und Systemen zu tun hat.
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Üben ist ein komplexer Vorgang
Das erste Ziel ist es, Gewohnheiten der Wahrnehmung und des Verhaltens, Haltungen und Überzeugungen zu verlernen. Dazu müssen frühere Erfahrungen ausgewertet und bewertet – mit kognitiv reflektierten, jetzt angemessenen und gewählten Werten konfrontiert – werden. Dabei können dysfunktionale Abläufe und nicht mehr wertekonforme Haltungen identifiziert werden.
Der zweite Schritt ist, ausgehend von den jetzt relevanten Werten neue Zielbilder kreativ zu entwickeln und in ihrer Konsequenz zu beschreiben. Dazu müssen andere, nun wieder wertekonforme Muster zugerichtet und auf die individuelle Situation angepasst werden. Je konkreter dies geschieht, desto effizienter kann das Einüben vorbereitet werden.
Jedes Einüben erfordert ein strukturiertes Trainingsprogramm. Einzelne Übungsschritte sind so anzuordnen, dass sie Anreize für herausfordernde, aber bewältigbare Lernschritte setzen. Dabei bauen die Übungsschritte sinnvoll aufeinander auf und erweitern und festigen nach und nach die angestrebten Veränderungen.
Menschen bleiben an Übungsprogrammen dran, wenn sie bei Lernerfolgen verlässlich ein emotional verstärkendes Feedback erhalten. Jedes Übungsprogramm braucht eine ausgeprägte Feedback-Kultur, denn nur sie schafft die Voraussetzungen für gezielte Korrekturen. Emotionale Verstärker sind also zu als Teil und Funktion des Übungsprogramms beschreiben und ihr Einsatz zu trainieren.
Einzuübende Veränderungen benötigen dann einen geschützten Raum, in dem Verhaltens-Experimente möglich sind. Erst solche „semi-realen“ Experimente geben die Sicherheit, erlerntes Verhalten, neu erworbene Haltungen, eingeübte Muster auch im Alltag und in einem Umfeld einsetzen zu können.
Veränderungen, egal wie sorgfältig sie eingeübt sind, verpuffen in ihrer Wirkung, wenn nicht auch die äußeren Rahmenbedingungen verändert werden. Gegen die materialen Gegebenheiten ist auf Dauer kein Veränderungsprozess erfolgreich. Allerdings lassen sich umgekehrt durch äußere Veränderungen Lernerfolge verstärken, aber nicht ersetzen. Beides – innere, repetitive Lernprozesse und äußere, materiale Bedingungen – müssen sich entsprechen bzw. aufeinander angepasst werden.
All diese Prozesse werden fruchtbar, wenn sie mit beständiger, realistisch-achtsamer Selbstwahrnehmung begleitet und regelmäßig durch aktiv eingeworbene Fremdwahrnehmung unterstützt werden.
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Üben wirkt nur durch Disziplin
Jedes Einüben braucht konsequente Beharrlichkeit. Jede Situation muss genutzt werden. Wenn veränderungsrelevante Situationen immer wieder übergangen werden, also immer mal nicht mehr wertekonformes Verhalten toleriert wird, stellt sich kein tief verankerterter Lernerfolg ein. Konsequenz ist der Schlüssel zum Erfolg – der einzige Schlüssel zum Erfolg. Natürlich geht die Veränderung nicht von einem Tag auf den anderen. Natürlich gelingt das Neue nicht in jeder Situation. Entscheidend ist, dass jede, wirklich jede Situation als Übungssituation aufgefasst wird. Das Neue muss beständig gesucht und immer mehr und immer vollständiger umgesetzt werden.
Sanktionen, Strafen bzw. Selbstbestrafungen, (Selbst-)Abwertungen und Moralisieren – alles kognitiv gesteuerte Maßnahmen, die die eigenen Affektivität negativ attackieren und deshalb Widerstände auslösen – erweisen sich dabei als von wesentlich geringerer Effizienz, denn positive Verstärkungen. Sanktionen eignen sich maximal, um gegen bewusste und frei entschiedene Verstöße eine deutliche Grenze zu etablieren. Positive Verstärkungen wirken, wenn sie konsequent immer zeitnah und in jeder relevanten Situation so eingesetzt werden, dass sie die Affektivität belohnen. Ihre verändernde Kraft entfalten sie umso mehr, wenn sie nicht nur selbst gegeben, sondern auch vom sozialen Umfeld mit getragen werden. Materielle Belohnungen können manchmal auch Anreize setzen, bleiben aber als extrinsische Maßnahmen in ihrer Effektivität für die angestrebte veränderte intrinsische Motivation weit hinter emotionalen Bestätigungen zurück.
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Wenn Organisationen lernen (wollen)
Dieses knapp in Erinnerung gerufene Wissen über Lernprozesse präkognitiver, innerer Systeme von Menschen kann vorsichtig auf Prozesse organisationaler Entwicklung übertragen werden. Die Abläufe in Organisationen sind wesentlich in ihrer „Kultur“ – dem organisationalen „Vorbewussten“ – gespeichert. Die Kultur einer Organisation besteht aus den vielen selbstverständlichen Abläufen, den Verhalten gewordenen Werten, erwünschten oder tolerierten Mustern… Wer neu in eine Organisation kommt, wird rasch in die bestehende Kultur inkulturiert. Nach wenigen Wochen in einer neuen Firma bereits verschwindet die Verwunderung, wieso hier alles so anders ist, die Menschen so anders miteinander umgehen, die Rollen so ausgefüllt werden. Kultur entsteht durch Wiederholung, durch repetitive Prozesse. Kognitive Interventionen – Leitbilder, Organigramme, Mission Statements, Leitungshandeln – versuchen mehr oder weniger erfolgreich diese Kultur zu beeinflussen. Ihr Einfluss ist dabei ähnlich begrenzt, wie der Einfluss kognitiver Entscheidungen auf die affektiv-systemische Innenregulation von Individuen. Organisationale Lernprozesse als Kulturveränderungen geschehen ebenfalls präkognitiv, zirkulär-repetitiv und sind dabei in gewisser Weise den innerindividuellen Prozesse vergleichbar. Daraus folgt: Auch Organisationen lernen primär durch konsequentes Einüben – und nur zu einem ganz kleinen Teil durch Einsicht, Entscheidungen und Anordnungen.
Die verschiedenen Elemente des Lernprozesses: kognitiv gesetzte Impulse – zum Beispiel durch die Leitung oder durch Beratungssysteme, individuelles Lernen, konsequentes Einüben neuer Verhaltensweisen auf allen Ebenen, strukturelle Rahmenbedingungen … wirken komplex und nicht wirklich planbar zusammen, können sich gegenseitig sehr verstärken oder eben erheblich behindern. Wer organisationales Lernen und Kulturveränderung will, darf deshalb nie nur auf ein Element setzen. Ein erneuertes Leitbild beispielsweise wird nie alltagsrelevant, wenn ihm nicht angemessene positive Verstärker und tragende Rahmenbedingungen entsprechen.
Wie jedes System setzen auch Organisationen jeder Veränderung Widerstand entgegen und versuchen möglich rasch zum früheren Status zurück zu kehren. Das Verlernen ist auch hier die größere Herausforderung. Wird also auch nur ein Element des Lernprozesses vernachlässigt – Veränderung der strukturellen Rahmenbedingungen oder Auswertung der Erfahrungen aller oder ausreichend Schutzraum für Experimente oder Regelkreise der Selbst- und Fremdwahrnehmung oder… – ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass die Veränderung oberflächlich bleibt und die Organisation unter anderem Anschein doch zu ihrer gewohnten Funktionsweise zurückkehrt.
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Ein Blick in kirchliche Lern- und Veränderungsprozesse
Betrachtet man aus einem gewissen Abstand die kirchlich-pastoralen Veränderungen seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil stellt sich eine gewisse Ernüchterung ein. Vieles hat sich unter dem Einfluss einer veränderten Theologie und einer erneuerten Selbstbeschreibung der katholischen Kirche verändert. Gemeinden, neue Gremien, neue Berufe, neue Strukturen, neue Gottesdienstformen, neue Offenheit in die Ökumene hinein… sind entstanden. Diese Veränderungen sind überhaupt nicht zu unterschätzen, abzuwerten oder zu relativieren. Zugleich aber sind die kirchlichen Stände in ihrer überkommenen Stufung, die quasi-monarchische Konzentration der Macht auf jeweils nur eine Person, die gefühlte höhere Wertigkeit bestimmter liturgischer Ausdrucks- und Andachtsformen, eine gewisse Verdächtigung der Laien, insbesondere der Frauen und ihrer Kompetenzen, der vormoderne Anspruch auf alleinige Sinngebung für die Gesellschaft, viele moralische Setzungen, große Teile des kirchlichen Rechts… wenig modifiziert erhalten geblieben. Zentralisierung und Uniformierung haben sogar – zum Teil gegen den ausdrücklichen Willen der Zentrale – massiv zugenommen und sind durch die öffentliche und mediale Wahrnehmung verstärkt worden.
Die Einsichten sind da, aber – so muss man heute wohl realistisch konstatieren – das Einüben war wohl nicht konsequent genug. Die tradierte kirchentragende Kultur hat sich als sehr stabil erwiesen und theologisch-kognitive Verschiebungen immer wieder ausgebremst. Die Veränderungen waren wohl an vielen Stellen nicht tiefgreifend genug. Sie haben die Affektivität der Christgläubigen nicht in der Breite erreicht. Die organisationalen Veränderungen in der lateinischen Kirche sind zwar Alltagsnormalität geworden und doch in gewisser Weise aufgesetzt geblieben. Die inneren Bilder wurden nicht gründlich genug verlernt, die Erfahrungen nicht konsequent überschrieben, Trauerprozesse übersprungen. Da hilft es auch wenig, den Klerikalismus mancher Kleriker und vieler Laien zu beklagen. Faktisch ist sehr viel Kontinuität in der Kirche und wenig Bruch – um eine Diskussion um die Einordnung des letzten Konzils aufzunehmen.
Unter dem Stress beschleunigter Säkularisierung, bedroht von Missbrauchsskandalen, gesellschaftlicher Marginalisierung ausgesetzt, im sich abzeichnenden Zusammenbruch der hauptamtlichen Strukturen, kommt viel „alte“ Kirche an die Oberfläche zurück, exemplarisch verleiblicht in traditionellen liturgischen Formen und traditionellen bis traditionalistischen Gemeinschaften. Wenn die Sprecherin der „Fridays for Future“ im November 2024 in einem Interview anmahnt, die Kirche müsse jetzt endlich im 21. Jahrhundert mit seiner Lebensweise und seinen spezifischen Herausforderungen ankommen, trifft sie damit einen Nerv. Kirche agiert einerseits zeitgenössisch in der Welt des 21. Jahrhunderts, trägt aber zugleich Bilder, Wertungen, Sympathien, Prägungen, Kleidung, Verhaltensweisen… ihrer langen Entwicklungsgeschichte weiter in sich – und bringt sich so mit sich selbst in einen gewissen Widerspruch.
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Synodalität als neuer Impuls
Nun setzt Papst Franziskus mit dem Stichwort „Synodale Kirche“ einen neuen Impuls. Er formuliert ein neues Zielbild, ein neues Selbstverständnis für die Kirche, das mehr in Einklang mit der theologischen Neujustierung des letzten Konzils stehen soll. Ausdrücklich wird dieses Programm dabei nicht als Verheutigung – ein Begriff, der für viele verbrannt ist, sondern als Verkirchlichung präsentiert. Es geht darum, Kirche nach den eigenen, seit sechzig Jarhen veränderten Werten, und nicht in Kopie gesellschaftlicher Organisations- und Regierungsformen, neu zu gestalten. Es geht also um einen Identitäts- und Selbstwerdungsprozess, der Kirche keineswegs nur in ihren Entscheidungsprozessen, sondern bis hinein in ihre Selbstbilder, in ihre Gewohnheiten und Abläufen, ja bis hinein in die Affektivität ihrer Mitglieder verändern soll.
Wenn „Synodalität“ nach „Spiritualität“ und „Strukturreform“ jedoch nicht nur ein weiteres Zauberwort bleiben soll, um die Malaise der Kirche zu vernebeln, braucht es deshalb eine ganz andere, sehr viel konsequentere Anstrengung kultureller Transformation. Mit Einsicht alleine, mit Arbeitspapiern und Abschlussdokumenten, mit theologischen Artikeln und wohlwollend kommentierenden Predigten wird zu wenig zu erreichen sein. Wie immer in Identitätsübergängen wird auch hier die konsequente Einübung neuer Muster die Hauptlast der Veränderung tragen müssen.
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Kirche verlernen
Verlernen wird auch hier die erste Herausforderung – eine gigantische Herausforderung, denn die gegenwärtig noch aktive, in einigen Anteilen vormoderne Kultur der Kirche greift weit in die Vergangenheit zurück. Spätestens mit dem Decretum Gratiani im 12. Jahrhundert wurde zum Beispiel die Spaltung des Gottesvolkes in aktive Kleriker und rezeptive Laien rechtlich formalisiert. Die Überordnung zölibatärer Lebensformen über Ehe und Familie reicht bis in die Antike zurück. Die kulturelle Trennung der Priester vom Volk reicht wahrscheinlich noch viel weiter zurück bis in die indoeuropäische Trias aus Adel, Priesterschaft und Bauern. Es gibt viele historisch-kulturelle Gründe, viele frustrierende Erfahrungen auch, Kirche eben nicht als Syn‘odos – als gemeinsamen Weg des einen Gottesvolkes – zu verstehen. Diese Gründe, die dahinterliegenden gesellschaftlichen Normalitäten, eine ganze Geisteswelt, jahrhundertelange Erfahrung… müssen nun verlernt und überschrieben werden.
Helfen kann das Wissen um bewusst gesteuerte, repetitive Lernprozesse von Personen und Organisationen durch konsequentes Einüben neuer Bilder, Gewohnheiten, Muster, Haltungen… Es muss damit beginnen, die Erfahrungen des Gottesvolkes auszuwerten. Durch die Missbrauchskrise wurde deutlich wie nie zuvor, dass alle Veränderung, alles Lernen mit dem Hören auf die Betroffenen beginnt. Wie erlebten und erleben Menschen weltweit ihre Kirche? Was erleben sie als förderlich und menschenfreundlich, was als jesuanisch und evangeliumsgemäß, was als gemeinsames Unterwegssein – und was auch nicht? Die globale Vorbereitung der Weltsynode war hierzu sicher ein erster Schritt. Selbst wenn man alle Antworten schon wüsste, kann dieser Prozess der Aufarbeitung und Neubewertung der Erfahrungen nicht übersprungen werden. Wenn er nur auf kleine Zirkel – eine Synode, universitäre Theologie, Hauptamtliche… – beschränkt bleibt, hat er noch nicht stattgefunden. Dann fehlt dem Verlernen nicht mehr wertekonformer Muster die Basis. In der besonderen Situation in Deutschland wird er auch die große Zahl der Ausgetretenen und die noch viel größere Zahl innerlich distanzierten Mitglieder einbeziehen müssen.
Mit dieser Auswertung der Erfahrungen werden Trauerprozesse einher gehen: distanzierte Zeiten, Aggressionen, Verzweiflung, Angst, Zustimmung – und noch einige Male wieder von vorne. Erfahrungen und Trauer wirklich zu Wort kommen zu lassen, alle mit ihren Erfahrungen und ihrer Trauer zu Wort kommen zu lassen und die nötigen Rückkopplungsschleifen zu installieren, damit die lokalen Prozesse zu einem globalen Verlernen zusammen wachsen können, ist eine didaktische Herausforderung bisher ungekannten Ausmaßes. Es ist nicht unmöglich, aber schon für diesen ersten Schritt wird mehr als eine die Lebenszeit einer ganze Generation erforderlich sein – schließlich geht es um eine Übungsweg von mehr als einer Milliarde Menschen.
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Neue Zielbilder und Experimentierräume
Parallel dazu kann die Arbeit beginnen, das neue Zielbild von Kirche zu konkretisieren und in anzustrebende Muster, Abläufe und Gewohnheiten umzusetzen. Zielbild heißt dabei nicht Regeln und Gesetze, sondern Prinzipien, Ausrichtungen, Horizonte… die Bewegung stimulieren und nicht Status, auch nicht künftigen Status, festschreiben. Hier ist dann auch der Ort für Experimente im geschützten Raum. Alle sind dafür verantwortlich, dass solche Räume für die Wagemutigen auch wirklich sichere Räume sind – alle, nicht nur die Hierarchie. Wer hier nur nach der Leitung ruft, hat das Verlernen noch nicht abgeschlossen.
Alle sind auch dafür verantwortlich, dass der Weg gemeinsam gegangen wird und sich eben nicht in unterschiedliche Geschwindigkeiten, Partikularinteressen und stellvertretend-entlastende Projektionen auf einzelne „Lichtgestalten“ oder exemplarische Erfolge auflöst. Dafür müssen alle gehört werden. Auf dem Syn’odos, dem gemeinsamen Weg des ganzen Gottesvolkes kann es keine Stellvertretung und keine Delegation geben. Solange eine Stimme fehlt, ist der Leib Christi nicht vollständig. Das „horizontale Schisma“ in Kleriker/Hauptamtliche und Laien, in Aktive und Konsumenten aufzuheben, ist Verantwortung aller. Synodalität wird synodal gelernt, kann nur synodal erlernt werden.
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Notwendige kreative Verunsicherung
Wenn alle gehört werden müssen, alle sich beteiligen können, alle ihre Ideen, Hoffnungen und Wünsche einbringen, entsteht jedoch in der Regel im ersten Schritt eben kein gemeinsames Gehen, sondern eine große Vielfalt unterschiedlicher Wertungen, entstehen Konflikte, manchmal eine Kakophonie von Stimmen und eine erhebliche Verwirrung und Verunsicherung – alles Dinge, die kein System gut ertragen kann und die in Kirche keine positiv besetzte Tradition haben. Aber kein Lernen, kein Identitätsübergang, keine Transformation kann die Verunsicherung überspringen. Erst durch Verunsicherung entsteht eine kreative Spannung, die zu Entwicklung führt.
Und wieder sind alle dafür verantwortlich, dass die Verunsicherungen nicht wegrationalisiert oder wegorganisiert werden, vielmehr das kreative Durcheinander offen gehalten wird. Wenn der Geist Gottes auf die Menschen kommt und sie zu sprechen beginnen, dann entsteht ein Durcheinander verschiedenster Sprachen und Stimmen – siehe Pfingsten. Das normal zu finden, braucht eine Menge Einübung. An die Erfahrung der Apostel ist es anschlussfähig, weshalb sich eigentlich niemand Sorgen machen muss.
Aber natürlich braucht es danach wieder Rückkoppelungsschleifen, Gebets- und Reflexionszeiten, Gesprächsprozesse, theologisches Nachdenken… damit die Geistkraft Gottes auch ihre zweite Arbeit – das Wieder-Zusammenführen, den je neu entstehenden „sensus fidelium“, den gemeinsamen Glaubenssinn aller Getauften – bewerkstelligen kann.
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Chancen und Grenzen kognitiver Impulse
All diese Prozesse sind natürlich auch kognitive Prozesse: Austausch, Reflexion, Bewertung, Nachdenken, Neuformulierung… sind unerlässlich. Vor allem aber ist es ein Weg praktischer Einübung: In den normalen pastoralen, liturgischen, katechetischen, verwaltenden… Abläufen die Erfahrungen und Ideen aller auszuwerten, Trauer nicht zu überspringen, neue Muster auszuprobieren und neue Gewohnheiten entstehen zu lassen, immer in allem den Syn’odos, das gemeinsame Gehen des ganzen Gottesvolkes versuchen… all das sind praktische Vollzüge, konkrete Übung.
Lernen, tiefgreifender Identitätsumbau geschieht nie im luftleeren Raum – bei Personen nicht und bei Organisationen ebenfalls nicht, nicht an einem Ort jenseits von Raum und Zeit, unabhängig vom Alltag, sondern mittendrin, indem bei laufendem Betrieb konsequent umgebaut und Neues eingeübt wird. Klausuren, Beratungen, Tagungen, Synoden… können helfen, aber das eigentliche Geschehen muss im Konkreten, im Alltäglichen sich vollziehen. Synodalität muss sich in Haushaltsdebatten, Personalentscheidungen, Gottesdienstplanungen, katechetischen Vollzügen, in katholischen Schulen, in Einrichtungen der Caritas, in der Priesterausbildung, in Ordensgemeinschaften… bewähren.
Wie in innerindividuellen Lernprozessen auch wird das Einüben dabei vor allem durch positive Verstärkung unterstützt. Wer sich synodal verhält, wer am gemeinsamen Weg des Gottesvolkes mitwirkt, wer seine Partikularinteressen zu relativieren bereit ist, wer Verlernschritte raus aus der klerikalen Prägung der Kirche geht… verdient jedes Mal unmittelbar ein positives Feedback. Unmittelbar heißt nicht im Jahresdienstgespräch oder beim freundlichen vorweihnachtlichen Essen der Ehrenamtlichen, sondern sofort und in direktem Zusammenhang mit dem erwünschten Verhalten. Sanktionierungen hingegen kann man sich auf solchen Einübungswegen weitgehend sparen. Sie verbrauchen unnötig Energie und rufen nur Widerstand hervor. Vielleicht braucht es die eine oder andere Grenzziehung gegen aktives, bewusst obstruktives Verhalten, aber damit auch genug.
Scheitern, Versuch und Irrtum, Rückschritte und Stockungen, Verwirrung und Unsicherheit, Fehler, Seitenwege und Sackgassen sind auf dem Weg synodale Kirche einzuüben, unvermeidbar und völlig normal. Wenn wir wüssten, wie es geht und wenn der einfache Beschluss etwas ändern würde, bräuchte es kein Üben, könnten wir uns die mühevolle Arbeit konsequenter Disziplin ersparen.
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Wie geht synodal?
Was aber gilt es einzuüben? Was positiv zu verstärken? Noch wird ja selbst das Basiskonzept der Synodalität diskutiert: Beratung, Mitbestimmung, spirituelles Geschehen …? Einige Eckpunkte aber beginnen, schon jetzt Kontur zu bekommen. Zentrale Fertigkeiten und Haltungen sind mit großer Wahrscheinlichkeit:
- das aktive, wohlwollende Zuhören in einer Gruppe oder einem Gremium – wirklich alle hören zu wollen
- die Bereitschaft, allen das gleiche Rederecht und ein gleiches Maß an Beteiligung einzuräumen
- die Bereitschaft, sich selbst mit seinen Überzeugungen, mit den eigenen (geistlichen) Erfahrungen, mit der eigenen Person relativ ungeschützt in Austausch- und Aushandlungsprozesse einzubringen
- Bereitschaft zur strikten Diskretion und zum Schutz des guten Rufes aller Beteiligten und Betroffenen
- Fähigkeit, Zeiten des Schweigens, der Reflexion und des Gebetes einzuhalten – überhaupt die Fähigkeit zu betendem Nachsinnen über anstehende praktische Fragen
- die Ausrichtung die bestmögliche Lösung für alle (säkular für: den Willen Gottes) und auf eine gemeinsinnige Entscheidung
- die Bereitschaft, sich immer wieder um ein Mehr Indifferenz, also die Relativierung der eigenen Überzeugungen und Interessen, zu bemühen
- die Bereitschaft, konsequent von allen Christgläubigen und dem Ganzen der Kirche her zu denken und zu handeln und nicht aus Partikularinteressen oder überkommenen Vorstellungen von Ständen und Dignitäten heraus
- die Fähigkeit und Bereitschaft zu Diversitätstoleranz, zu längeren, ergebnisoffenen Prozessen, zu einer fehlerfreundlichen Kultur und zu experimentellem Versuch und Irrtum
- Bereitschaft anderen positiv verstärkendes Feedback zu geben und selbst solches entgegen zu nehmen
- Bereitschaft, immer wieder neu aus konfliktprovozierendem Verhalten, Konkurrenz, Neid, Geltungsbedürfnis, Sicherheitsstreben, Eigennutz und Eigensinn auszusteigen
- Fähigkeit eigene Empfindungen und die Regungen und Bewegungen der Seele wahrzunehmen, ohne sich unmittelbar im Verhalten und Entscheiden davon bestimmen zu lassen
- Bereitschaft, eigene Optionen immer wieder mit dem Leben, Sterben und Auferstehen Jesu und seinem Evangelium abzugleichen – dazu die Bereitschaft, die Hl. Schrift immer besser kennen zu lernen und nach einer persönlichen Vertrautheit mit Christus zu streben
Sehr viel weniger klar sind bisher die zusätzlichen Anforderungen, die Synodalität spezifisch an Leitungsverhalten stellt. Deshalb nur einige erste Hinweise:
- Die Fähigkeit und Bereitschaft immer möglichst alle Betroffenen „mit an den Tisch zu holen“
- Bereitschaft sich mit allen Kenntnissen und Fähigkeiten in den offenen Prozess der Entscheidungsfindung einzubringen – und dabei die Fähigkeit, die eigene Meinung und Einsicht verlässlich gleichberechtigt neben andere zu stellen
- Fähigkeit, Prozesse offen zu halten und gruppendynamische Schließungen als scheinbare Abkürzungen abzuwehren
- Der Selbststand, angebotene Möglichkeiten autoritativer Setzung abzulehnen – auch dann wenn dadurch die eigene Einsicht scheinbar rasch und fruchtbar umgesetzt würde
- Bereitschaft auf rechtlich mögliche, autokratische Entscheidungen zu verzichten, die einem vorgängigen Beratungsprozess entgegen liefen, vielmehr die Bereitschaft, bei bleibendem Dissens nochmals neu in Dialog und kommunitäre Entscheidungsfindung einzusteigen
- Erfahrung mit und Bereitschaft zu eigener geistlicher Unterscheidung und die Bereitschaft sich darin von jemand Außenstehenden begleiten zu lassen
- Fähigkeit, Ergebnisse eines „Gesprächs im Geist“ zu formulieren und dem Gremium als Vorschlag vorzulegen
- Bereitschaft, Verantwortung für die Umsetzung gemeinsinniger Entscheidungen zu übernehmen – auch wenn sie nicht ganz auf der Linie der eigenen Optionen und Überzeugungen liegen
- Die Fähigkeit zu konsistentem, konsequent synodalem, verlässlichem und transparentem Handeln ohne Ansehen der Person
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Ohne Konsequenz wird es nicht gehen
Konsequent einüben bedeutet nun, dass diese Werte, Fähigkeiten und Selbstverpflichtungen in allen Vollzügen der Kirche immer und von allen anzustreben sind – egal ob Leitungspersonen oder gelegentliche Gottesdienstbesucher*innen, Ordensleute, Studierende… Dafür lassen sich nur einige wenige Beispiele nennen: in Sitzungen pfarrlicher oder diözesaner Gremien, bei Bischofsversammlungen, in Ordenskapiteln und -räten, bei Haushaltsberatungen, Teamsitzungen, in der Leitung von Bildungseinrichtungen, in der Ausbildung der Seelsorger*innen, in der Institutionen der Caritas, bei Treffen der kirchlichen Bewegungen und Verbände, im persönlichen Umgang miteinander uvm. Alle. Immer.
Dem praktischen Einüben müssen aber auch veränderte äußere Bedingungen entsprechen. Gewohnheiten, Abläufe, Prägungen, die nicht mit einem Syn’odos des ganzen Gottesvolkes vereinbar sind, müssen deshalb verlernt oder verändert werden. Arbeit für mehrere Generationen – und den Hl. Geist Gottes.