Es gibt Begriffe, die immer auftauchen, wenn Menschen sich intensiv – und in Gemeinschaft – auf ein geistliches Leben aus der Beziehung zu Jesus Christus einlassen. Im Laufe der Kirchengeschichte haben sie je eine menschenfreundliche und eine menschenfeindliche Ausprägung angenommen.

Glossar ambivalenter spiritueller Grundbegriffe

Text: Birgit Abele – Photo: LubosHouska/pixabay.com

Demut – in spirituell missbräuchlichen Kontexten

Hier wird Demut als ein Sich-klein-Machen oder als Leugnen des eigenen Wertes gedeutet. Ein solches falsches Verständnis kann zu der Annahme führen, vorhandene Fähigkeiten nicht entfalten zu dürfen oder vor den anderen verbergen zu müssen. Die missbrauchende Person verlangt von ihren Anvertrauten völlige Selbsterniedrigung und eine Haltung, die bereit ist, alles an sich geschehen zu lassen. Erniedrigungen und Beschämungen erfolgen mit der Rechtfertigung, den angeblichen Stolz der Betroffenen brechen zu müssen.

Doch solche Demütigungen schaden dem Selbstwert und hinterlassen tiefe Verwundungen. Führungspersonen schätzen ihre Bedeutung und ihren Rang als unrealistisch hoch ein. Durch spirituelle Manipulation der Mitglieder können ganze Gemeinschaften in elitäres Denken verfallen, im Glauben, eine ganz besondere Erwählung durch Gott zu besitzen. Mit der Überhöhung des eigenen Charismas geht die Entwertung anderer einher, die keine besondere Erwählung besitzen oder ihr (angeblich) nicht entsprechen. Was nach außen hin demütig erscheint, birgt leicht eine Haltung der Überheblichkeit und des Stolzes in sich.

Demut – im christlichen Verständnis

Im christlichen Verständnis bedeutet Demut das Anerkennen der Allmacht Gottes. Sie beschreibt die innere Einstellung eines Menschen zu Gott: Der demütige Mensch erkennt und akzeptiert, dass es etwas für ihn Unerreichbares, Höheres gibt, vor dem er sich beugt.

Demut besteht somit in einer realistischen Selbsteinschätzung des Menschen in seiner Position in der Welt: seiner eigenen Geringheit im Vergleich mit der Größe Gottes, aber zugleich seine Würde und seinen Wert als Geschöpf und Kind Gottes. Neben der Wertschätzung seiner selbst, seiner Talente und Fähigkeiten, bedeutet Demut ebenso eine Wertschätzung anderer, sowie eine Offenheit gegenüber der Welt. Gleichzeitig ist der Demütige von seinem eigenen Wert überzeugt. Er macht sich gegenüber anderen nicht unverhältnismäßig klein, stellt sich jedoch auch nicht über sie. Die Entfaltung seiner Mitmenschen ist ihm wichtig, und er respektiert ihre Grenzen und Bedürfnisse. Die demütige Person freut sich, wenn sie etwas Besonderes geleistet hat, ohne sich dabei über andere zu erheben. In diesem Sinne ist sie – in einem gesunden Sinne stolz auf sich selbst.

„Wenn du dich klein machst,
dient das der Welt nicht.

Es hat nichts mit Erleuchtung zu tun,
wenn du schrumpfst,
damit andere um dich herum
sich nicht verunsichert fühlen.

Wir wurden geboren,
um dieHerrlichkeit Gottes
zuverwirklichen,
die in uns ist.“
Aus der Antrittsrede von Nelson Mandela 1994

Heiligkeit – in spirituell missbräuchlichen Kontexten

Im missbräuchlichen Sinn wird Heiligkeit oft mit Sündlosigkeit verwechselt. Leitende stellen unerreichbare Forderungen auf und formulieren illusorische Ideale, die durch Streben nach Reinheit und Perfektion erfüllt werden sollen. Ausufernde Gebetszeiten, heroische Opfer und der Verzicht auf eigene Bedürfnisse und Wünsche werden dabei Mittel zum Zweck. In einer Überbetonung der eigenen Willensanstrengung wird religiösem Leistungsdenken die Tür geöffnet.

Das eigene Ich mit seinen Gefühlen, Bedürfnissen und Wünschen soll unterdrückt werden, damit Gott den ganzen Platz in der Person einnehmen könne. Ein solches Leistungsdenken führt Errungenschaften zwar auf Gott zurück, setzt sie aber letzten Endes doch auf Rechnung der eigenen geistlichen Bemühungen. Durch eine derartige Überbetonung des Ideals werden Schuldgefühle gefördert, sobald die Person mit ihrer eigenen Realität konfrontiert wird. Sie führt folglich ihr Versagen auf ihr mangelndes Bemühen zurück, ein Denken, das nicht selten von den Verantwortlichen sogar noch bestärkt wird. Solche Schuldgefühle bieten den idealen Nährboden, um Personen in der Manipulation zu halten.

Ist die Person nicht mehr im Kontakt mit ihrem inneren Selbst, folgt sie letztlich äußeren Vorgaben und Regeln. Sie hört nicht mehr auf die leise Stimme Gottes in ihrem Herzen, sondern glaubt den Worten der missbräuchlichen Leitungsperson, die vorgibt, den Willen Gottes für sie zu erkennen. Dies führt sie immer mehr in eine geistliche Abhängigkeit, die mit der Freiheit der Kinder Gottes nicht vereinbar ist.

Nicht selten liegt dem missbräuchlichen Gedankengebäude ein nicht-christliches Gottesbild zugrunde, in dem Gott als Überwachungsdistanz für die pedantische Einhaltung der Regeln dargestellt wird. Dies führt zu einer immer größeren Entfremdung von Gott und sich selbst und kann massive psychische Auswirkungen haben.

Heiligkeit – im christlichen Verständnis

In der katholischen Tradition versteht man unter Heiligkeit die Vereinigung mit Gott. Das Wort „heilig“ stammt von „heil“ ab, im Sinne von „ganz“ (Heilung, heil machen). Im Englischen (holy) ist es ähnlich. Dort stammt es vom Wort „whole“ ab (ganz). Heilig deutet also in der deutschen Sprache auf Vollkommenheit – in Sinne von Ganzheit – hin. Nach der Lehre der katholischen Kirche kann man erst mit dem Tod vollkommen sein, da man sich erst dann mit Gott vereinigt.

Von einer Person, die sich bemüht hat, diese Vereinigung schon auf Erden zu verwirklichen, sagt man, sie habe ein heiligmäßiges Leben geführt. Das Zweite Vatikanische Konzil sagt, Heiligkeit geschehe „je auf ihrem Wege“. Es geht also nicht darum, den Mut zu verlieren, wenn man Modelle der Heiligkeit betrachtet, die einem unerreichbar erscheinen. Es gibt Zeugnisse, die als Anregung und Motivation hilfreich sind, aber nicht als zu kopierendes Modell. Das könnte uns nämlich sogar von dem einzigartigen und besonderen Weg abbringen, den der Herr für uns vorgesehen hat.

Worauf es ankommt, ist, dass jeder Gläubige seinen eigenen Weg erkennt und sein Bestes zum Vorschein bringt, das, was Gott persönlich in ihn hineingelegt hat. In der Heiligen Schrift bedeutet das Verb »heiligen«, eine Person oder Sache Gott darzubringen. Was Gott auf Seinen Anspruch übereignet wird, ist heilig. Obwohl eine solche Hingabe an Gott im Idealfall zur Scheidung von Sünde führt, so sollte doch nicht die Ursache mit der Wirkung verwechselt werden. Heiligung hat immer zunehmende Reinheit, Gerechtigkeit oder Vollkommenheit zur Folge, sozusagen als Begleiterscheinung.

Heiligkeit bei einem Menschen ist also eine Beziehung zu Gott und nicht eine moralische oder geistliche Errungenschaft. Wenn Gott sagt: »Ihr sollt heilig sein, denn Ich bin heilig«, so meint Er, dass Heiligkeit in uns etwas Gleichartigem in Ihm entsprechen soll. Durch die Hingabe an Gott werden wir immer mehr in seine Eigenschaften hineingenommen. Dadurch werden wir heil und ganz, in unserer Beziehung zu uns selbst, zu unseren Mitmenschen und zu Gott.

„Heiligkeit ist keine ‚geistliche Gymnastik‘,
nein, es ist etwas anderes;
es ist vor allem die Erfahrung,
von Gott geliebt zu werden,
seine Liebe,
sein Erbarmen frei zu empfangen.“
Papst Franziskus

Gehorsam – in spirituell missbräuchlichen Kontexten

Hier wird Unterwürfigkeit oder blinder Gehorsam gegenüber dem gefordert, was (vermeintlich) geistlichere Menschen einem sagen, und zwar in Bereichen, in denen man eigentlich selbst verantwortlich ist – bis in die Intimsphäre des forum internum und der persönlichen Gottesbeziehung. In Gemeinschaften beanspruchen leitende Personen, den genauen Willen Gottes für die ihnen Anvertrauten zu kennen, ohne sich mit ihnen zu besprechen. Das eigene Denken und Fühlen der Betroffenen spielt keine Rolle. Leitung und Seelenführung werden oft von den gleichen Personen ausgeübt.

Für die Mitglieder wird es normal, ja es erscheint sogar heilig, ständig Dinge zu tun, die man nicht versteht, die einem weh tun und persönliche Grenzen überschreiten. Wenn ihre  Wahrnehmung nicht mit dem übereinstimmt, was von ihnen verlangt wird, zweifeln sie  folglich an sich selbst und verlieren immer mehr den Kontakt zu ihrem innersten Wesenskern, in dem Gott sich ihnen zeigt.

Der Jesuit Klaus Mertes beschreibt dies so: Der geistliche Missbrauch ist gerade daran zu erkennen, dass sich ein(e) „Seelenführer(in)“ in der Seele eines anderen Menschen festsetzt, um Macht über sie zu haben und sie nach seinem Willen führen zu können; er/sie besetzt sie als ihr innerer Aufpasser, als ihr Kontrolleur, ihr big brother; er /sie nimmt die Gottesposition in der religiösen Intimsphäre der anvertrauten Person ein. „Gemeint ist, vereinfacht gesagt, der Missbrauch geistlicher Macht, genauer: die Verwechslung von geistlichen Personen mit der Stimme Gottes. Das betrifft sowohl Beziehungen geistlicher Begleitung einschließlich der Beichte als auch die Beziehung zwischen kirchlichen Oberen und Personen, die ihnen gegenüber geistlichen Gehorsam gelobt haben.

Letztlich, postuliert Mertes, ist geistlicher Missbrauch ein Verstoß gegen das erste Gebot: Der Name Gottes, oder auch der Name Jesu, wird missbraucht, um Macht über Menschen zu gewinnen und sie für eigene Zwecke auszunutzen. Resultierend daraus gehorchen die Mitglieder nicht Gott, sondern einem Menschen, den sie mit Gott gleichsetzen.

Gehorsam – im christlichen Verständnis

Von der lateinischen Wortübersetzung her bedeutet gehorchen, auf jemanden zu hören. Auch im deutschen Verb gehorchen steckt horchen. Hören auf sich selbst, auf Gott und aufeinander sind die Grundpfeiler für christlichen Gehorsam. In der Bibel wird Gehorsam stets als dialoghaftes Beziehungsgeschehen beschrieben, bei dem der Mensch als vernunftbegabtes Wesen Gottes liebendem Angebot frei zustimmen kann.

In diesem Sinne sieht auch das Zweite Vatikanische Konzil- beispielsweise im „Dekret über die  zeitgemäße Erneuerung des Ordenslebens“ vor, dass Ordensleute „bei ihren Aufgaben die eigene Verstandes- und Willenskraft einsetzen sollen.“ Auf diese Weise verstandener Ordensgehorsam mindert die Würde der menschlichen Person nicht, sondern führt diese zu ihrer Reife.

Je mehr ein Ordensmitglied und eine geistliche Gemeinschaft auf Gott hört, desto mehr bindet sie sich innerlich an ihn, und gerade darin liegt ihre Freiheit. Neben dem  individuellen Hören auf sich selbst und auf Gott, braucht es auch das Hören auf das Wort Gottes, die Gemeinschaft und ihre Leitungspersonen. Ordensobere sind niemals die Stimme Gottes, sondern hören idealerweise zusammen mit den anderen Mitgliedern auf Gott.

Wenn Leitende dann eine Entscheidung treffen, hat dies dialoghaft zu geschehen. Die Ordensperson soll beim Gehorsamsvollzug ihre Eigenverantwortung wahrnehmen, anstatt sich blind zu unterwerfen. Verstößt eine Anforderung gegen ihr Gewissen, darf die Person nicht gehorchen.

Das Gewissen hat auch im Kirchenrecht oberste Priorität und befreit im Ernstfall vom Gehorsam einem Menschen gegenüber. Gemeinsamer Glaubensaustausch und Reflexion, Gebet und Meditation sind erforderlich, um dem Gehorsam gegenüber Gott in den jeweiligen Situationen und Entscheidungen gut nachkommen zu können.

„Ein*e Ordensober*in ist nie die Stimme Gottes.
Ein*e Ordensober*in vertritt nicht einfachhin Gott,
sondern hört im besten Falle zusammen mit den anderen
Ordensmitgliedern auf Gott.“
Sr. Franziska Mitterer

Hingabe und Selbstverleugnung – im missbräuchlichen Kontext

Das Ich bzw. Selbst des Menschen wird als etwas gesehen, das um der Hingabe an Gott willen „ausgelöscht“ werden muss. Selbstverleugnung wird folglich mit Selbstaufgabe gleichgesetzt und bedeutet ein Beilegen der Eigenverantwortung und des eigenen Willens. Persönliche Bedürfnisse sollen unterdrückt werden. Aus dieser falsch verstandenen Selbstlosigkeit heraus wird von den Mitgliedern erwartet, dass sie sich völlig verausgaben, tun, was von ihnen erwartet wird, und dies in der Überzeugung, dass sie ich dadurch in der von Gott geforderten Demut und Hingabebereitschaft bewegen. Bis hin zu einem zeitlichen und kräftemäßigen Einsatz, der auf Dauer gefordert unverantwortlich ist und zu gesundheitlichen Schäden führen kann.

Es kommt zu einem „Liebe deinen Nächsten ohne oder gegen dich selbst“, was psychische Tragödien nach sich zieht. Dabei sind jene, die die eingeforderte Selbstlosigkeit der ihnen Anvertrauten missbrauchen und sie maßlos ausbeuten, keineswegs uneigennützig, sondern an der Befriedigung des eigenen Strebens nach Macht interessiert.

Anders denken, Kritik äußern, sich beklagen oder aufbegehren wird als Rebellion gegen Gott gewertet. Ehrlich seine Meinung sagen und eigenverantwortliche Entscheidungen vor Gott treffen gilt als mangelnde Unterwerfung unter die Leitung und damit letztlich als Stolz. Selbstverwirklichung, Individualität, Selbstfürsorge, Selbstmitgefühl, Beschäftigung mit alternativen Ideen, Perspektiven und Urteilen, gelten als gefährlich oder verwerflich.

Eine solche irreführende Selbstlosigkeit bewirkt eine Selbstunsicherheit, die den Menschen entwürdigt und lähmt und nicht selten zu einer Selbstversteifung führt. Ohne ein Ich, das sich selbst annimmt und schätzt, kann es keine gesunde Religiosität geben. Selbstvertrauen, Mut, Zivilcourage, Wahrheitsliebe, echte Hingabe, Aufrichtigkeit, Hoffnung, Glaube und Liebe werden dann unmöglich.

Hingabe und Selbstverleugnung  – im christlichen Verständnis

Im normalen christlichen Verständnis gilt das Ich bzw. Selbst des Menschen als von Gott geschaffen, gewollt und geachtet. Allerdings beinhaltet es auch die Möglichkeit zum Bösen, wenn es sich verabsolutiert und über die anderen Subjekte oder gar gegen Gott stellt. Daher braucht es für einen rechten Umgang mit anderen, ein „Selbstsein auf Augenhöhe“, und Gott gegenüber Demut, Gehorsam und Hingabe in ihrem ursprünglichen Sinn.

In der Vereinigung mit Gott wird das Ich bzw. Selbst nicht aufgehoben, sondern ihm untergeordnet. Das Ich aufgeben im vollen Sinne können wir gar nicht, denn sonst würden wir nicht mehr existieren. Jesus selbst lehrte das „verbundene Selbst“, verbunden mit sich selbst, den Mitmenschen und mit Gott

Um gut für sich selbst sorgen zu können und sich von anderen abgrenzen zu können, braucht der Mensch ein starkes Ich. Nur dann kann er sich selbst öffnen und sich hingeben. Hingabe bedeutet dann, sich dem Leben gegenüber voll Vertrauen zu öffnen und alle Bedingungen des Augenblicks mit einzubeziehen. Sie vollzieht sich in einem Lauschen nach innen und nach außen. Dafür ist es hilfreich, die Wahrnehmung der eigenen Gedanken, Gefühle und Körperempfindungen zu verfeinern.

Hingabe kann aktiv oder passiv erfolgen, etwa in der Hingabe an einen freudigen Augenblick, eine schöne Landschaft, einen Menschen oder eine Aufgabe. Dabei kommt es nicht darauf an, was wir tun, sondern wie wir es tun. Mystiker und Heilige aller Traditionen geben sich ganz und gar Gott hin. Sie stellen sich ihm zur Verfügung, im Rahmen ihrer eigenen Möglichkeiten und Grenzen. Hingabe bedeutet dann nichtSelbstaufgabe, sondern eher, sich auf eine neue Art wieder zu finden.

Sie ermöglicht das Erleben von tiefer Verbindung und bewirkt innere Befreiung. Hingabe meint also die Bereitschaft, dem inneren Ruf, dem „inneren Gesetz“ zu folgen und dabei nicht nur die Freuden, sondern auch die Risiken in Kauf zu nehmen.

„Das innerste Wesen der Liebe
ist Hingabe“
Edith Stein

Leiden und Opfer bringen – im missbräuchlichen Kontext

Oft ist hier eine gewisse Leidensverherrlichung vorzufinden. Verantwortliche deuten Leid und Schmerz als etwas Positives, ja gar als Glück, weil man Gott dadurch näherkomme und „schneller heilig werde“. Leiden soll folglich hingenommen werden und darf nicht hinterfragt werden. Schwere und leidvolle Situationen, die durch den spirituellen Missbrauch erst geschaffen werden, müssen in Kauf genommen werden.

Von den Mitgliedern wird erwartet, dass sie diese aushalten, die Augen davor verschließen und wie blind weiter vor sich hinleben. In ihren persönlichen Leiden werden sie aufgefordert, ganz auf Gott zu vertrauen und ihr Kreuz zu tragen, anstatt nach Lösungen zu suchen oder die schmerzlichen Umstände zu verändern. Immer wieder müssen Opfer unter Zwang gebracht werden, ohne dass die Betroffenen wissen, warum. Verzicht und Hingabe stehen im Vordergrund und werden zum Selbstzweck.

Dadurch wird Leiden vermehrt, Leben gehemmt, beschädigt und nicht selten zerstört. Ein höheres Gut, wie zum Beispiel die Verbundenheit mit sich selbst, die Achtung vor sich selbst oder die persönliche innere Freiheit werden einem niedrigeren, nämlich der Macht  des Missbrauchstäters, geopfert.

Leiden und Opfer bringen – im christlichen Verständnis

Leiden ist an sich nicht gut und darf weder gesucht noch aktiv unterhalten werden. Wo es gewendet werden kann, soll es mit allen Mitteln bekämpft werden. Diese Eigenaktivität zeugt von der inneren Freiheit des Menschen.

Ist das Leiden trotz allen Bemühens unabänderbar, lässt sich an der eigenen Einstellung dazu arbeiten. Das Leiden muss dann mit dem Licht der Vernunft, des Gefühls und des Glaubens ergründet, verstanden und richtig eingeordnet werden. Es beschönigen, verdrängen, verleugnen oder davor zu flüchten hilft nicht. In der rechten inneren Gesinnung tapfer ertragenes Leid lässt die Person an ihrer Situation reifen. Somit kann durch Leiden hindurch etwas Neues werden, der Mensch wird zu einem Anders- und Mehrsein geboren, indem er sich höheren Werten zuwendet.

Ebenso verhält es sich mit dem Opfer. Es ist nur dann fruchtbar, wenn es freiwillig vollzogen wird, durch eigene Einsicht. Der Opfernde opfert etwas von sich, ein Stück eigenen Lebens, um eines höheren Wertes und Lebens willen, an dem er teilhat. Dann geschehen im Opfer Wandlung und Neugeburt. Am Ende darf und soll das echte Opfer, eben weil es eine höhere Seins- und Wertverwirklichung anstrebt, sogar Freude machen.

„Vielmehr will ich sagen, dass Sinn
möglich ist trotz Leidens,
um nicht zu sagen, durch ein Leiden –
vorausgesetzt, dass das Leiden notwendig ist,
das heißt, dass die Ursache des Leidens
nicht behoben und beseitigt werden kann.“
Viktor E. Frankl

Vergebung – im missbräuchlichen Kontext

Personen werden angehalten, erlittenes Unrecht augenblicklich zu vergeben, ohne zu klären, was falsch gelaufen ist. Zuallererst geht es darum, einen oberflächlichen Frieden wiederherzustellen. Die Tat soll nicht nur vergeben, sondern auch vergessen werden. Dies führt zur Konfliktvermeidung, die die Ungerechtigkeit unter den Teppich kehrt und nicht beim Namen nennt.

Durch eine solche vordergründige Nachsicht wird die Verantwortlichkeit des Täters relativiert. Aufgrund eines falschen Gedankenkonstrukts werden Verletzung bzw. deren Folgen unhinterfragt akzeptiert und gebilligt. Allmählich ist die verletzte Person nicht mehr in der Lage, die Verletzung als solche wahrzunehmen und rechtfertigt sie durch fromme Argumente. Dies hat zur Folge, sich fortwährenden Übergriffen und Missbrauch ohne Widerspruch weiter auszusetzen.

Echte Vergebungsarbeit mit einer Auseinandersetzung der eigenen Wunden wird kritisch gesehen und abgelehnt mit der Begründung, man solle nicht „um sich selbst kreisen“ und sich „nicht wichtig nehmen“. Innere Heilung hat im Gebet, insbesondere in der Anbetung, zu erfolgen, wobei die emotionale und geistige Ebene vermischt wird. Leidet die betroffene Person weiterhin unter ihren inneren Wunden, glaubt sie, zu wenig oder nicht intensiv genug zu beten, was zu einer tiefen Frustration führen kann und dem Gefühl, mit ihr stimme etwas nicht.

Eine aus vorauseilender Frömmigkeit motivierte vorschnelle Vergebung ist im Kern keine Vergebung. Das Herz des Opfers bleibt vergiftet durch dessen unverarbeiteten Schmerz, was zu Bitterkeit und innerer Aggression führen kann. Die Person verbleibt in der Opferrolle. Gegenüber dem Missbrauchstäter entsteht eine toxische Abhängigkeit.

Beziehungen zu anderen leiden unter den unausgesprochenen Konflikten. Schließlich kommt es zu einer negativen Beeinflussung des Urvertrauens zum Sein selbst – in der religiösen Sprache in das Vertrauen zu Gott. Die natürliche und zum Leben notwendige grundsätzliche Sicherheit, sich auf Beziehungen verlassen zu können, geht verloren. Ab jetzt laufen Betroffene Gefahr, dem Leben und den anderen mit grundsätzlichem Misstrauen zu begegnen.

Vergebung – im christlichen Verständnis

Das primäre Anliegen von Vergebung ist, die durch zwischenmenschliche Gewalt verursachten Beziehungsverletzungen zu heilen. Die betroffene Person lernt, sich den eigenen Verwundungen zuzuwenden und dem erlittenen Schmerz zu stellen, so wie ein Arzt die Wunde erst untersucht, was oft schmerzhaft ist, bevor er sie verbindet, bis sie schließlich heilen kann. Im emotionalen Zulassen der Verwundungen kann sich Gottes Gnade als eine Kraft erweisen.

Gefühle und Gedanken sollen angeschaut, bearbeitet und schließlich integriert werden, um sie nicht ausagieren zu müssen. Dieser innere Verarbeitungsprozess wird in der Bibel mit der Metapher „Reinigung des Herzens“ bezeichnet. Hierzu gehört auch eine echte Trauerarbeit über den durch die Tat entstandenen Schaden und die verhinderten Möglichkeiten. Die Person verlässt die Opferrolle und übernimmt die Verantwortung für sich selbst und ihre Verletzungen.

Um einem Täter Vergebung zusagen zu können, ist jedoch erforderlich, dass er sich zuerst seiner Verfehlungen stellt, Verantwortung übernimmt, Reue empfindet und sich um Wiedergutmachung bemüht. Selbst in der Beichte sind das Voraussetzungen für die Absolution. Wenn auf Täterseite keine Bewegung der Umkehr erkennbar ist, kann Vergebung nur ein innerer Prozess der Trennung von der Tat, vom Täter und vom durch ihn ausgelösten Schuld- und Schamempfinden sein.

Bei schweren Traumatisierungen. – wie zum Beispiel sexuellem oder spirituellem Missbrauch – kann jedoch jedes vorzeitige Vergebungsbemühen retraumatisierend wirken und die Verstrickung zwischen Opfer und Täter verstärken. Vergebung kann hier deshalb nur bedeuten: Den Täter loslassen und ihm die Verantwortung für seine Tat zurückgeben. Dies kann von negativen Gefühlen wie Hass oder Groll befreien und heilsam und entlastend wirken.

Allmählich wird das Vertrauen ins Leben und im besten Fall auch in Gott wieder wachsen. Der tiefere geistige Sinn der Vergebungsarbeit ist es, einen Beitrag zu der Realisierung des Reichs Gottes zu leisten. Jesus forderte Beziehungen, die dem Wesen des Reichs Gottes und seiner Gerechtigkeit entsprechen. In diesem Beziehungsreichtum in Form der drei Grundbeziehungen zu sich selbst, dem Nächsten und zu Gott, kann menschliches Leben gelingen.

„Vergebung ist in erster Linie
heilend für den, der vergibt.“
William Paul Young

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