Die Jünger Jesu sind zentrale Personen in den Evangelien. Seit Paulus gibt es auch Jünger, die nicht wie die erste Generation mit Jesus in Galiläa unterwegs war: Jüngerinnen und Jünger des Auferstandenen. Jünger/in werden, ist auch heute eine lohnende Perspektive für Glaubende.
Jünger werden
Text: Peter Hundertmark – Photo: Hans/pixabay.com
Im Deutschen ist „Jünger“ ein schwieriges Wort. Die Alltagssprache benutzt das Wort wenig und oft nur um eine Nebenbedeutung von Fanatismus oder zumindest unkritischer Verehrung nahezulegen. Obwohl „Jünger“ im Neuen Testament fast zweihundert Mal vorkommt, dort eines der ganz zentralen Worte ist, spielt der Begriff in der spirituellen und theologischen Sprache der katholischen Kirche im deutschen Sprachraum kaum eine Rolle. Benutzt wird das Wort fast ausschließlich historisch: die Jüngerinnen und Jünger Jesu. Die damals… die, die mit Jesus unterwegs waren… die am Anfang des Glaubens… die Vorbildgestalten…
Jünger/in bezeichnet in den Evangelien an den meisten Stellen einfach die Zugehörigkeit zu Jesus. Jünger/in sein heißt Schüler/in des Rabbi Jesus sein, bei ihm in die Lehre gehen. Die Jünger/innen sind diejenigen, die Jesu Leben teilen – die großen Momente und ganz viel Alltägliches. Mit ihm sind sie unterwegs, begleiten ihn in Galiläa und nach Jerusalem.
An manchen Stellen des Neuen Testamentes beschreibt das Wort aber auch eine Teilgruppe der Menschen, die sich für den Rabbi aus Nazareth interessieren. Einige der bekannten Personen werden so bezeichnet – Petrus, Johannes, Kleophas… Frauen werden nicht ausdrücklich so benannt, aber während der Kreuzigung werden sie mit eindeutigen Kriterien beschrieben, so dass Maria Magdalena, Johanna, Salome, die Frau des Kleophas… hinzugezählt werden dürfen. Andere zentrale Personen wie etwa Zachäus, Simon der Pharisäer, Martha aus Bethanien oder Lazarus werden nicht als Jünger/in bezeichnet. Es gibt also verschiedene Weisen, an Jesus zu glauben und wichtige Erfahrungen mit ihm zu machen. Jünger/in-Sein ist, vom Neuen Testament her gesehen, davon nur eine – wenn auch eine prominente.
Folgt man dieser Unterscheidung, so zeigt sich, dass Jesus die, die Jünger/innen werden, in einebesondere Nähe ruft. Er stellt sie vor die Entscheidung: Willst du mit mir gehen? Ihr ersichtliches Ja zu dieser Frage unterscheidet die Jünger/innen von den anderen Glaubenden. Jünger/innen sind die, die bewusst und öffentlich ihr Leben ganz auf die Karte setzen: „Jesus ist der Messias. Er ist der verheißende Retter und Herr.“
Am Anfang stehen die Frage Jesu und die Entscheidung. Dennoch werden diese Menschen erst nach und nach durch den gemeinsamen Weg, durch die besondere Unterweisung, durch die Lebens- und Schicksalsgemeinschaft mit Jesus zu Jünger/innen geformt. Sie durchlaufen ein „pädagogisches Programm“, eine längere Einübungs- und Erprobungszeit. Die Gottesbeziehung Jesu, seine Verkündigung, sein Zeichenhandeln, seine Persönlichkeit… werden ihnen zunehmend eingeprägt.
Später, nach der Passion und aus der Auferstehung heraus, gibt Jesus diesen besonders geprägten Jünger/innen seinen Auftrag weiter: „Macht alle Völker zu meinen Jünger/innen“ (Mt 28,19) Damit meint er: Formt sie zu meinen Jünger/innen, so wie ich euch zu Jünger/innen geformt habe. Das soll durch zwei Mittel geschehen: durch Taufe und Lehre. Die Taufe ist das Zeichen des Rufs, der Entscheidung, Aufnahme und Zugehörigkeit – die Lehre ist „pädagogisches Programm“, Unterweisung in den Geheimnissen, spirituelle Einführung, Gestalt gewinnen aus der Beziehung zu Jesus.
In der nächsten „Generation“ nach der Auferstehung zeigt sich allerdings eine grundlegend veränderte Situation. Die körperliche Nähe zu Jesus ist nicht mehr möglich. Jetzt rufen die Jünger/innen, die Jesus noch persönlich erlebt haben, andere Menschen zu Jünger/innen. Sie erleben und bezeugen ihn als gegenwärtig und lebendig. Er begegnet ihnen, erklärt die Schrift, bricht das Brot, lässt sich anfassen… Nicht sehen und doch glauben, dieses Wort an Thomas wird zum Programm der Nachgerufenen. Für sie hängt alles am Glauben, dass der Auferstandene genauso real ist wie der leibliche Jesus. Ausgehend von der Verkündigung der ersten Jünger/innen beginnen sie selbst geistliche Erfahrungen mit dem Auferstandenen zu machen. Die Apostelgeschichte ist voll von Berichten, wie dies geschieht. Sie entdecken, dass der Auferstandene erfahrbar ist, und dass diese Erfahrungen eine ähnliche Intensität haben, wie die berichteten Begegnungen mit dem Rabbi aus Nazareth, dass der Auferstandene also ebenso wirksam und wirkmächtig ist wie der irdische Prediger und Heiler.
Diese Erfahrung geht – beginnend mit Paulus und seinem Damaskus-Erlebnis und der zweiten Generation der Christ/innen (Apollos, Lukas, Phöbe, Priszilla, Aquila, Onesiphorus…) – durch die Jahrhunderte weiter, ergreift Männer und Frauen, einfache Leute und Gebildete, alle Stände, und ist auch heute genauso stark und existentiell: Es ist möglich, in gleicher Weise Jünger/in des Auferstandenen zu sein, wie es möglich war, Jünger/in des irdischen Jesus zu sein. Jünger/in sein heißt weiterhin: von Jesus gerufen werden, zu ihm gehören, von ihm lernen, bei ihm in die Lehre gehen, sich von ihm formen lassen – von ihm, dem auferstandenen Herrn, wie zuvor von dem predigenden und heilenden Jesus.
Auch nach der Auferstehung beginnt das Jünger/in sein mit der Frage von Jesus: Willst du mit mir gehen? An einem Punkt der spirituellen Reise tritt er mit der Frage von damals an die Glaubenden heran. Im Glauben, aber noch mehr mitten ins Herz des Menschen hinein bietet der Auferstandene selbst diese besondere Zugehörigkeit an, seine Partnerschaft im Leben und Handeln. Die Entscheidung, die er dafür einfordert, ist genauso existentiell und lebenswendend wie damals: Willst du mich, den Auferstandenen als meinen Meister und Herrn annehmen? Willst du dein Leben auf mich ausrichten, von mir bestimmen lassen, mir zur Verfügung stellen? Jünger/in zu sein, ist – damals, wie heute – der Ausdruck dieser besonderen Beziehung.
Jünger/innen heute können den Auferstandenen erleben und erspüren, der in ihrem Leben und um sie herum in der Welt wirkt. Dies geschieht nicht nebenbei, sondern setzt ein geistliches Leben voraus: Ein Leben, in dem Gebet, Gottesdienst, die Stille des Herzens wichtig sind. Durch ihr geistliches Leben werden die Jünger/innen der Auferstehung mit Jesus vertraut. Aus der Schrift, aus den Vollzügen und Traditionen der Kirche und aus ihrer Innerlichkeit schöpfen sie ihr Wissen um die Geheimnisse Gottes. Zur Jünger/innen werden sie mit Hilfe von Taufe und Lehre durch andere Jünger/innen. Der Anstoß zu einer solchen Veränderung, die existentielle Herausforderung aber entsteht in der direkten Begegnung mit dem Auferstandenen.
Denn die Jünger/innen des Auferstandenen sind wie die Jünger/innen des irdischen Jesus nicht nur diejenigen, die seine Ansichten und Lebensweise teilen. Das ist wichtig, aber es ist nur der erste Schritt. Jünger/in sein heißt mehr: Jünger/innen binden sich persönlich, treten zu Jesus in eine Schicksalsgemeinschaft. Sie bejahen persönlich, was in ihrer Taufe grundgelegt worden ist. Sie „bleiben in Christus und er bleibt in ihnen. Aus ihm heraus bringen sie Frucht.“ (Weinstockgleichnis in Joh 15). Sie leben „im Herrn“, wie es Paulus an vielen Stellen seiner Briefe ausdrückt. Durch sie wirkt seine Kraft weiter. Sie tragen seine Botschaft weiter. Sie stehen für ihn ein – mit ihrem Leben, mit ihrem ganzen Leben, damals wie heute nicht selten bis in den Tod hinein.
Muss ich also Angst vor dieser Frage Jesu haben? Die Antwort ist ein klares Nein, auch wenn die Frage das Leben in manchem umkrempeln wird. Aber die Erfahrung zeigt, dass die Frage nach der Jüngerschaft Menschen erst dann gestellt wird, wenn ein glaubender Mensch einerseits fest im Glauben gegründet und zugleich innerlich ganz frei geworden ist. Wenn der Glaubende weiß, dass er/sie den Wunsch des Auferstandenen nach dieser noch intensiveren Zusammengehörigkeit auch ablehnen darf, , wenn es (noch) nicht passt – und dennoch nicht aus dem Wohlwollen Gottes herausfällt. Sie/er bleibt ja ein/e Glaubende/r – in guter Gesellschaft mit Zachäus, Lazarus, Martha, den Verwandten Jesu und unzähligen Frommen aller Jahrhunderte. Sie alle gehören zu Jesus. Das ist unverbrüchlich. Was das bedeutet, zeigt die Geschichte vom reichen Jüngling (Mk 10,17-22): Jesus hatte ihn lieb, heißt es dort ausdrücklich – und Jesus hat ihn auch weiterhin lieb, obwohl der junge Mann spürt, dass er den Schritt, Jünger zu werden, zu diesem Zeitpunkt nicht gehen kann.
Alle Glaubenden gehören zu Jesus. Den Unterschied macht eine unerklärliche Sehnsucht. Die Jünger/innen damals und die Jünger/innen heute spüren in sich ein Verlangen, sich noch mehr einzusetzen. Sie sind nicht besser, nicht heiliger, nicht erlöster, keine besseren Christen und haben kein „Mehr“ an ewigem Leben zu erwarten. Aber sie sind ein bisschen verrückter, unvorsichtiger, faszinierter von Jesus. Und dennoch können sie nicht mehr anders, sie wollen sich anbieten mit ihrer Person, mit ihrem Körper, mit ihrem Leben. Sie wollen Jesus imitieren, sich formen lassen, ein bisschen wie er werden – mit allem Risiko. Warum? Erklär ein Mensch die Liebe mit rationalen Sätzen! „Caritas Christi urget nos“ – die Liebe Christi, hier: die Liebe zu Christus, drängt uns. Es muss einfach so sein. Die Entscheidung fällt im Herzen, emotional, mit innerer Notwendigkeit, aber kaum erklärbar.
Bei einigen ist es ein benennbarer Punkt in ihrem Leben, an dem sie zu Jünger/innen geworden sind. Bei anderen eine Veränderung, die sich „unter der Hand“ eingestellt hat. Mal ist das ein bewusstes Geschehen, mal ergibt es sich aus dem praktischen Engagement für Kirche und Gesellschaft und lässt sich erst im Rückblick so nennen. Viele Glaubende werden diesen Weg geführt: manchen spürt man es an, andere leben es sehr im Verborgenen einer selbstverständlichen Freundschaft zu Gott und den Menschen.
Manchmal braucht die Entscheidung Zeit zum Reifen. Der Auferstandene und der/die Betende „umkreisen sich“ vorsichtig. Sie lernen sich gegenseitig kennen, testen sich, gehen zurück und wieder vor, wägen ab. Manchmal, irgendwann, ist da eine große Klarheit. Ich weiß nicht wie, es scheint verrückt, aber plötzlich ist es da: Ich will. Dann öffnet sich eine große Perspektive: Durch und in ihrem Leben und Beten werden sie nach dem Bild Christi geformt. Paulus: „Wir alle … werden so in sein eigenes Bild verwandelt.“ (2 Kor 3,18) Diese Erfahrung ist ur-christlich. Entsprechend betet die Liturgie: „Dass sich das Bild Christi auspräge im Wesen der Getauften.“ Das macht sie nicht zu strahlenden Siegern, wie auch Jesus in seinem Leben kein strahlender Sieger war. Es ist kein (Selbst-)Optimierungsgeschehen. Und möglicherweise auch nicht von glücklichen Gefühlen begleitet. Es ist anders, tiefer, ernster. Jesu ganzer Weg wird in ihr Herz und ihr Leben geprägt – auch sein Hinabsteigen. Nach und nach wird ihr Alltagsleben zum Zeichen und Werkzeug für den Lebendigen, ihr Handeln wird gewandelt zum „Sakrament“ des Auferstandenen – ganz heute, ganz zeitgenössisch, ganz materiell.
Die Jünger/innen werden im Geist Jesu Menschen der Auferstehung, Menschen aus der Auferstehung. Als solche greifen sie die Anliegen Jesu auf und transformieren es, formen daraus ihr Verhalten im 21. Jahrhundert. Sie versuchen, seine Gottrede für die Menschen von heute zu sagen. Sie gehen seinen Weg, wo er nie gegangen ist. Er schickt sie dahin „voraus“, wohin er selbst kommen will: Zu allen Völkern, bis an die Enden der Erde – und sogar zu ihren eigenen Familienmitgliedern, Arbeitskolleg/innen, Gemeindegliedern und Nachbarn.
Dabei geht es selten um strahlende Erfolge. Wie bei den Jünger/innen des irdischen Jesus geht keineswegs alles gut und glatt. Auch die Jünger/innen des Auferstanden kennen Abwege, Rückschläge, Scheitern. Nicht nur Petrus verleugnet Jesus. Immer wieder geschieht dies auch durch die Jünger/innen des Auferstandenen. Der Auferstandene muss wie dem Petrus damals auch ihnen heute wieder aufhelfen, sie an ihre Liebe erinnern, sie von neuem in Dienst nehmen. Nicht immer fällt dann diese zweite Entscheidung wieder zugunsten der Jüngerschaft. Die zweite, oder dritte, oder vierte Entscheidung ist genauso frei, wie es die erste war.
Oft ist es erst nach einer zweiten Entscheidung, Jünger/in sein zu wollen, dass der Auferstandene ihnen eine Sendung hin zu anderen Menschen – zu Glaubenden und Nicht-Glaubenden – gibt. Diese Sendung ist immer individuell. Sie passt zu dieser Jüngerin, zu diesem Jünger, zu ihren Fähigkeiten, zu ihrem Lebensort, zu den Lebensbedingungen und den übernommenen Verantwortungen. Sie arbeiten jede und jeder auf spezifische Weise für die Wandlung der Erde. Es geht ihnen, manchmal ganz unscheinbar, manchmal aber auch in aller Öffentlichkeit, um ein Mehr Reich Gottes.
Und sie greifen den Missionsbefehl des Auferstandenen auf: Macht weitere Menschen zu meinen Jünger/innen! Sie bieten sich als „Rückgrat, Sehnen und Nervenzellen“ des Leibes Christi, des pilgernden Gottesvolkes, des Tempels des Heiligen Geistes an. Sie bemühen sich, ihren Zeitgenossen einen Raum der Begegnung mit dem Auferstandenen zu bereiten. Sie rufen andere Menschen zu Jesus. Sie lehren, aber vielmehr noch leben sie es vor, Jesus innerlich zu kennen, ihn zu lieben, ihm zu folgen – wie sie selbst ihn innerlich kennen, ihn lieben, ihm folgen, und noch darüber hinaus. Die Jünger/innen des Auferstandenen handeln in seiner Kraft und Vollmacht. Sie stehen für die Befreiung ein, die er gewirkt hat. Sie bezeugen sein Leben mit ihrem Leben.