In der Geschichte musste der christliche Glaube immer wieder große kulturelle Übergänge spirituell und theologisch bewältigen. Neue Hoffnungen verlangten nach neuen Worten und Bildern für die Gute Botschaft. So wandelt das Evangelium seine Gestalt, um Jesus Christus treu zu bleiben.

Gewandelter Glaube für neue Hoffnungen

Text: Peter Hundertmark – Photo: qimono/pixabay.com

Die Menschen der Zeit Jesu in Israel litten unter vielfältigen Bedrohungen: Immer wieder Hungersnöte, ein brutales Besatzungsregime, eine ausbeuterische Tempelaristokratie, Terroristen, die längst nicht nur Römer attackierten, ein korruptionsanfälliges Steuersystem, minimale medizinische Möglichkeiten, immer wieder aufflackernde Aufstände und Pogrome. Die herrschende deuteronomistische Theologie verschärfte all diese Nöte noch, denn sie sah in den Schlägen des Schicksals Strafen Gottes für die Sünden seines Volkes.

Sündenvergebung war deshalb das große spirituelle Thema. Darüber hinaus trugen die Menschen an jeden Propheten, religiösen oder politischen Führer ganz alltagspraktische Hoffnungen heran: Staatliche Selbstständigkeit für Israel, genügend Brot für alle, Gerechtigkeit und endlich Frieden. Jesus nimmt diese Hoffnungen auf, deutet sie, wandelt sie, gibt ihnen eine spirituelle Richtung, kehrt aber immer wieder auch zu den ganz konkreten Nöten zurück. Wiedereingliederung in die Gemeinschaft durch Heilung oder Dämonenaustreibung ist ihm wichtig. Seine Botschaft vom kommenden Gottesreich schmeckt nach Festmahl. Er steht für friedlichen Widerstand und setzt sich von terroristischer wie staatsterroristischer Gewalt ab.

Als die ersten christlichen Missionare in die griechische und später in die römische Welt eintauchten, wurden sie natürlich mit ganz anderen Hoffnungen der Menschen konfrontiert. Staatlichkeit für Israel war für Römer kein existentielles Thema – im Gegenteil. Hungersnöte kannte Italien in dieser Zeit nicht. Die Pax Romana hatte für die unterworfenen Völker ihre dunklen Seiten, aber für diejenigen, die auf der hellen Seite standen, brachte sie Sicherheit und langanhaltend friedliche Zustände. Gebildete Römer und Griechen erlebten jedoch eine moralisch korrumpierte Zeit, kaum inhaltliche Orientierung an allgemein geteilten Werten, Religionen, die schon einfachsten intellektuellen Bedürfnissen nicht standhielten, eine Staatsmacht, die immer weiter ins Tyrannische abglitt und angestammte Beteiligungsrechte aushebelte.

Die Missionare übersetzen die Botschaft vom kommenden Gottesreich in diese anderen Hoffnungen: Christus gibt Orientierung. Die Liebes-Ethik Jesu ist anspruchsvoll und entlastend zugleich. Christen haben eine Heimat und eine ewige Zukunft im Himmel. Sie müssen nicht das Letzte aus diesem Leben – und ihren Untergebenen – herauspressen. Sie sind durch ihren Glauben an einen allwissend-liebenden Gott in der Lage sozial gerechter und moralisch verantwortlicher zu handeln. Das Reich Gottes hebt die Klassenschranken auf – und intern beginnen die Gemeinden umgehend damit. Alle sind einer in Christus. Sklaven werden Mitmenschen, denen die gleiche Würde von Gott her zugesprochen ist. Männer und Frauen agieren gemeinsam. Die Riten sind einfach und ästhetisch ansprechend: Mit einander essen, Schriften studieren, mit schlichten eigenen Worten beten. Die Lehre ist bereit, sich mit den philosophischen Strömungen der Zeit auseinander zu setzen.

Das Christentum hat seither noch weitere Übergänge in ganz andere Hoffnungen bewältigt. Die Menschen des Mittelalters sehnten sich nach den Wirren der Völkerwanderung vor allem nach Stabilität und einem Platz in der kosmisch-theologischen Ordnung der Welt. Und die Christen bauten gewaltige romanische Dome, die verlässliche Ordnung darstellen und jedem seinen Platz zuweisen. Die Katastrophe des ausgehenden Mittelalters – Pestepidemien, hundertjähriger Krieg, Hungersnöte… – ließen die Menschen an der Welt verzweifeln. Das Christentum verkündete den Erlöser und eine bessere Welt in Sicherheit und Gerechtigkeit nach dem Tod. Und so fort. Und so für jede Kultur.

Dabei sind diese Übergänge keineswegs beliebig. Sie sind keine simplen Anpassungen an die Bedürfnisse und den Verstehenshorizont der Menschen. Es handelt sich vielmehr um theologische und spirituelle Meisterleistungen, erkämpft in harten Auseinandersetzungen, nach vielen Irrwegen, durch gegenseitige Verurteilungen hindurch. Das ist geht bis in den Kern des Glaubens, bis hautnah heran an das Kerygma, heran an die existentielle Glaubensmitte. Die beginnende historisch kritische Forschung im 19. Jahrhundert stellte durchaus zu Recht die Frage, ob die Religion des Paulus wirklich dem Glauben Jesu entspricht. Neue Hoffnungen und neue Ängste verändern fast alles in einer Botschaft, die Evangelium für die Menschen jedes „Heute“ und jeder Kultur sein will. Selbst die wichtigsten Bilder und damit sogar die Gestalt Christi für die Glaubenden ändern sich in diesen Übergängen radikal: Vom Guten Hirten, über den Weltenrichter, den Schmerzensmann, den jugendlichen Heros … zum einfühlsamen Freund der nachkonziliaren Verkündigung. Und heute zum…?

Keine Zeit kann der anderen sicher Auskunft geben, was eigentlich bleiben muss. Was ist Kernkerygma? Was ist kulturelle Ausprägung? Was ist nicht mehr christlich? Was ist endlich neue gute Botschaft? Die Apostel und die Nachfolger der Apostel mussten immer wieder  den Weg Jesu finden, wo er nie gegangen ist. Inneres Beten, tiefe Kenntnis der Schrift, achtsame Meditation der Zeichen der Zeit, Geisterfahrung, dann auch wertschätzender Dialog, Glaubensgespräch, langes gemeinsames Ringen, mutige Experimente…  sind Orientierungshilfen auf dieser Expedition. Irgendwann ist eine neue Form da – und alle spüren, dass sie die Hoffnungen der Zeit aufgreift und dem Evangelium Jesu in neuer Gestalt entspricht.

In der missionarischen Situation heute trifft der christliche Glaube wiederum auf ganz andere Lebenshoffnungen. Mehr Ruhe und Zeit füreinander, ist immer das erste, was Menschen sich wünschen. Dieses Bedürfnis steht dabei durchaus in Spannung zu anderen personalen Hoffnungen: Möglichst viel erleben, Neues sehen und ausprobieren, lernen und immer weiter lernen, einzig werden und sich so aus der Masse der Menschen unterscheiden. In der Multioptionsgesellschaft müssen Menschen sich durch unzählige Entscheidungen selbst entwerfen. Stabile Identität und klare Richtung für sich selbst und so Entlastung im ständigen Entscheiden zu finden, sind deshalb wichtige Hoffnungen. Gesellschaftlich wachsen in Europa gerade die Sorge und die Hoffnung, dass ein Weg gefunden wird, wie Toleranz, Willkommenskultur, weltpolitische Verantwortung einerseits und kulturelle und sprachliche Identität, „Heimat“ und Wohlstand andererseits, kreativ miteinander verbunden werden können.

Ein paar Linien eines „Evangeliums des 21. Jahrhunderts“ werden treten inzwischen aus dem Nebel des Übergang hervor: Glaube ist eine wichtige Ressource, um die Herausforderung der personalen Identität zu meistern, gibt er doch einen bewohnbaren Ort in Welt und Zeit, eine Würde für das begrenzte Leben und einen inneren Halt in der unverbrüchlichen Zuwendung Gottes.

Zur Debatte um Heimat in einer komplexen und von Wanderungsbewegungen geprägten Welt, kann gerade katholische Kirche aus ihrem Selbstverständnis und ihrer Erfahrung als Weltkirche tragfähige Impulse beisteuern. Ihre internationale Praxis bordet über von Geschichten gelingender Solidarität und wechselseitiger Bereicherung.

In den Gemeinden kann ein mehr an Teilhabe für Arme ermöglicht und gesellschaftlich eingeübt werden. Diakonische und politische Anwaltschaft für Arme ist schon immer Kernthema des Glaubens.

Kirche kann zudem Orte und Zeiten der Ruhe zur Verfügung stellen, selbst eine Kultur von Achtsamkeit und Entschleunigung pflegen und für eine solche Kultur eintreten.

Für die globalen Bedrohungen kann christlicher Glaube einerseits die gängigen apokalyptischen Bilder und Szenarien entmythologisieren, die Verantwortung der Einzelnen für Ihren Beitrag in ihrem Lebensumfeld stärken, aber auch Plattformen der Debatte zur Verfügung stellen, Interessen bündeln und ihnen damit politisches Gewicht geben.

Beistand beim Sterben, Begleitung der Angehörigen in ihrer Trauer, anschlussfähige Riten der Beisetzung und seelische Bewältigung öffentlicher Katastrophen sind weitere Themen. Hier kann sie immer aus dem Vollen der Verkündigung und Praxis Jesu schöpfen. Hier kann sie auch unbefangen über ihre zentralen Glaubensinhalte von Erlösung, Auferstehung und beglückendes Leben in Gott sprechen und sicher sein, gehört zu werden.

Hinter diesen guten Botschaften für unsere Zeit wird nach und nach auch eine Gestalt Gottes für das 21. Jahrhundert sichtbar. Es ist Gott, der sich selbst eine Sendung und einen Auftrag für die Menschen und die Welt gegeben hat. Jesus Christus ist diese Sendung, verkündet diese Sendung und ruft Menschen in diese Sendung. Damit das möglich wird, sendet er den Heiligen Geist, der die Glaubenden mit Gott in einer lebendigen und partnerschaftlichen Beziehung verbindet und sie in die Sendung Gottes eingliedert. Gott ist diese Bewegung zur Rettung der Menschen und der Schöpfung. Er ist Dynamik, Energie, Kraft … und das mit einem Gesicht, als „Du“. Das ist sein Leben und daran gibt er Anteil. Jeder Einsatz für  Versöhnung, gelingende Beziehungen, Gerechtigkeit, Frieden, Bewahrung der Schöpfung – eine bessere Welt in einer nachhaltigen Entwicklung – aktiviert diese Teilhabe am Leben Gottes. Glaube weiß diese Teilhabe zu benennen und zu fördern.

 

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