Seit Jahren sucht die katholische Kirche nach einem Ausweg aus der Anpassungskrise, die sie seit 40 Jahren durchleidet. Nun zeichnet sich in einer Konvergenz von geistlichen Übungswegen, pastoraltheologischen Konzepten und Management-Theorien erstmals am Horizont eine wirklich neue, postmoderne Gestalt ab

Ein neues Rückgrat für die Kirche

Text: Peter Hundertmark – Photo: giuliamr/pixabay.com

Im 16. Jahrhundert hat das Trienter Konzil die katholische Kirche massiv modernisiert. Eine der wichtigsten Neuerungen war das Pfarramt. Es wurde in Reaktion auf das evangelische Pfarrhaus komplett neu konzipiert. Ein oder mehrere zölibatäre Priester mit akademischer Ausbildung, unterstützt von weiblichen Verwandten oder Haushälterinnen, sollten zusammen wohnen, beten, planen… und durch Seelsorge, Predigt und Aufsicht das katholische Leben am Ort garantieren. Seither war das Pfarramt in gewisser Weise das Rückgrat der katholischen Kirche in Europa.

Das Rückgrat ist natürlich längst nicht der ganze Körper, aber das Rückgrat organisiert den Körper, hält ihn aufrecht. Über die Nervenstränge im Rückgrat werden alle Handlungsanweisungen in den Körper transportiert.

Über Pfründe und Status war das Pfarramt lange Zeit parallel zur Gesellschaftsstruktur amtsfeudal gedacht. Diese Konzeption musste im 20. Jahrhundert in die Krise kommen. Das Pfarramt wurde dann zur Außenstelle und zum zentralen Knotenpunkt kirchlicher Organisation. Die Priester wurden durch weitere Berufsgruppen ergänzt, gemeindliche Funktionen und Beratungsgremien aufgebaut, aber letztlich blieb das Pfarramt das Rückgrat der Kirche. Das Kirchenrecht kodifizierte diese Wirklichkeit nachträglich.

Dennoch sind seit über 40 Jahren Krise und Erosion des Pfarramtes nicht zu übersehen. Die Nachwuchskrise hat zu größeren Zuständigkeitsräumen führen müssen. Dabei ging die ursprüngliche Nähe zum Gottesvolk, die genuin zum Pfarramt gehörte, verloren. In der Folge hat sich die Berufungskrise weiter verschärft. In den Großpfarreien neuen Typs sind zwar weiterhin alle Macht und alle Verwaltung auf den Pfarrer ausgerichtet, seiner Funktion als zusammenhaltendes und den Leib Christi organisierendes Rückgrat jedoch kann er oft nicht mehr nachkommen. Eine Alternative war bisher jedoch nicht in Sicht.

Eine Alternative kommt auch erst in Sicht, wenn man gedanklich die Prämissen – Leitung einer Organisation, Garantie einer konfessionellen Prägung, Verbindung von geistlicher und administrativer Leitung, Weihe als kirchenbegründendes Sakrament – überschreitet. Mit dem Schreiben „Gemeinsam Kirche sein“ sind die deutschen Bischöfe wichtige Schritt über diese klassischen Prämissen hinausgegangen. Taufe und Firmung kommen als kirchenbegründende Sakramente in Blick, geistliche Leitung und Verwaltung können getrennt gedacht werden, Entscheidung und Entschiedenheit im Glauben bekommen einen höheren Stellenwert. Damit ist ein neuer Denkraum eröffnet worden.

Weitere theologische und pastorale Neuansätze konvergieren: Die im anglikanischen Raum entwickelte Pastoraltheologie der „Missio Dei“ als Basis kirchlichen Selbstverständnisse; die versöhnte Verschiedenheit der Konfessionen in Taizé; die von den Jesuiten Christoph Theobald und Philippe Bacq in Frankreich entwickelte „pastorale d’engendrement“; die Erfahrungen mit intensiven Wegen geistlicher Formation durch Exerzitien und Geistliche Begleitung; die Theologie der Charismen, pastorale Ansätze partizipativer Kirche wie bspw. AsIPA, das Pastoralprogramm der asiatischen katholischen Bischofskonferenzen, das auf selbstorganisierte Kleine Christliche Gemeinde setzt.

In dieser Konvergenz rückt eine Kategorie in den Fokus, die traditioneller kaum sein könnte, steht sie doch im Zentrum des neutestamentlichen Geschehens. Innerhalb des ganzen Gottesvolkes unterscheiden die Evangelien die Gruppe der Jüngerinnen und Jüngern Jesu. Sie sind die engsten Vertrauten und die Schüler/innen Jesu, die seinen ganzen öffentlichen Weg begleiten. Sie lassen sich in besonderer Weise von ihm prägen. Nach der Katastrophe der Kreuzigung und aus der Erfahrung der Auferstehung Jesu und der Geistsendung organisieren sie sich neu. Sie unternehmen es, die Verkündigung Jesu weiterzutragen, Jesus als Christus zu verkünden und Gruppen von Glaubenden des „neuen Weges“ zu gründen. Sie treten damit aus ihrer früheren Schülerexistenz heraus und finden sich als „Apostel/innen“, als Gesandte an Christi statt.

Christoph Théobald spricht, um den doppelten Charakter der Schülerschaft und der Sendung abzubilden, deshalb von „disciples missionaires“ – ausgesandte Jüngerinnen und Jüngern Jesu, die die Sendung Jesu weiterführen. Aber er spricht damit über Menschen des 21. Jahrhunderts. Für sie gilt in übertragender Weise das gleiche Kriterium, wie für die Jünger/innen Jesu vor 2000 Jahren: Sie sind den ganzen Weg Jesu, auch Passion und Auferstehungserfahrung geistlich mitgegangen. Sie haben sich seine ganze Verkündigung angeeignet, Sie haben sich von ihm existentiell formen lassen. Sie sind mit ihrem ganzen Leben für die Nachfolge entschieden. Sie lassen sich von ihm senden. Auf diese Weise entwickeln sie umfassend das Geschenk des Heiligen Geistes, das in Taufe und Firmung in allen Glaubenden angelegt ist.

Auf diesen Wegen sind in ihnen die Charismen, die besonderen Gaben des Heiligen Geistes für den Aufbau der Gemeinde, in besonderer Weise sichtbar und wirkend geworden. Geistliche Formation, Charismen und Talente, persönliche Berufung und Sendung sind in ihnen nach und nach zu einer authentischen Gestalt zusammengewachsen. Diese geistlichen Sendungs-Gestalten führen weiter und variieren, was die Paulusbriefe „Einsetzungen“ nennen: die einen als Apostel/innen, die anderen als Evangelist/innen, andere als Prophet/innen, Lehrer/innen, Hirt/innen… und auch die „geistlichen Ämter Christi“, der Priester ist, König und Prophet.

Das Deutsche kann allerdings die Begriffsbildung von Théobald nicht flüssig nachahmen. Ich schlage deshalb ein dem Griechischen entlehntes Kunstwort vor: „Christopheroi“ – Christusträger/innen. Da kommen beide Aspekte zusammen – die existentielle Formation durch Leben und Lehre Jesu und der entschiedene Eintritt in die Sendung als nachösterliche Zeugen der Auferstehung und Gründergestalten von Kirche.

Diese Christusträger/innen haben das Potential das neue Rückgrat von Kirche zu werden. Sie werden selbstverständlich nie das Ganze des Gottesvolkes sein, wie ja auch die Pfarrer immer nur eine verhältnismäßig kleine Gruppe waren. Aber sie können das Zusammenleben und Zusammenwirken der Glaubenden in neuer Weise mit Jesus Christus und mit den Herausforderungen der späten Moderne verbinden. Sie werden das Pfarramt und die Pfarrer nicht ersetzen, denn deren organisationale Aufgabe können und wollen sie nicht leisten. Auch werden sie nicht mit deren geistlichem Amt konkurrieren, da sie durch die Charismen ein anderes Eigenrecht im Gottesvolk haben. Aber sie können das Gottesvolk aufrichten, ihm Zusammenhalt geben, seine Kommunikation mit dem Haupt Jesus Christus erleichtern, die Teilhabe des ganzen Gottesvolkes an der Sendung Jesu und Ausrichtung auf das Reich Gottes wachhalten.

In postmodernen Organisations- und Management-Theorien – „Theorie U“ von C.O. Scharmer, Dialogansatz von D. Bohm, „Holacracy“ von B. Robertson, „Facilitation“ von C.F. Hogan… – werden gerade Verfahren entwickelt, wie ein Zusammenwirken einer großen Zahl von Menschen möglich wird, ohne dass auf die klassischen Verfahren der Organisation mit ihrer zentralen Steuerung und ihrer Hauptamtlichkeit zurückgegriffen werden muss. Diese Verfahren sind direkt mit den Traditionen und Erfahrungen geistlicher Unterscheidung in Gemeinschaft kompatibel. Auf diese Weise entsteht auch ein erstes Zukunftsbild, wie Christusträger/innen Gemeinschaften der Glaubenden und ein Zusammenwirken des ganzen Gottesvolkes gründen und begleiten können.

Die Kirche der Christusträger/innen wird ein sehr anderes Gesicht haben als die Kirche des Pfarramtes. Aber es gibt eine Chance, dass es ein Gesicht ist, das die Menschen des 21. Jahrhunderts anspricht – und damit eine Chance, dass eine neue Zeit für den christlichen Glauben auch in Europa möglich wird.

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