Kirche in Deutschland ist seit langem in schwierigen Gewässern unterwegs. Es könnte sein, dass sie nun auf einen Kipppunkt der Zugehörigkeit ihrer Mitglieder zusteuert, jenseits dessen andere Haltungen und Verhaltensweisen für die Kirchenentwicklung erforderlich sind, um chaotische Zeiten zu bestehen.
Chaotische Prozesse
Text: Peter Hundertmark – Photo: dennisflarsen/pixabay.com
Auch wenn die schlichten Säkularisierungstheorien, die von einem ständigen Rückgang von Religion in der modernen Gesellschaft ausgingen, als widerlegt gelten dürfen, lässt sich die Einsicht kaum wegdiskutieren, dass die Nachfrage nach kirchlich verantworteter Religion in Deutschland seit Jahrzehnten zurück geht. Jedes Jahr dokumentieren die Statistiker wieder einen geringeren Anteil von Katholik/innen und Protestant/innen an der Gesamtbevölkerung. Die Großkirchen agieren zur Zeit eindeutig in einem „Schrumpfungsmarkt“. In einem solchen Kontext ist es jedoch schon in der volkswirtschaftlichen Theorie fast unmöglich, zu wachsen, und so die eigenen Ansprüche wirksam durchzusetzen und in die Breite zu tragen. Alle Wahrscheinlichkeit spricht für Rückgang und weitere Verluste. Für ehemalige Quasi-Monopolisten ist das doppelt schwer, weil die Situation eines schrumpfenden Umfeldes ein Verhalten erfordern würde, die in der Kultur der Institution nicht eingeübt sind oder sogar sanktioniert werden. Die Kirchensteuer und die geringe Mobilität der Deutschen in ihrer Kirchenbindung sorgen bisher dafür, dass die Verluste und der Rückgang dennoch vergleichsweise langsam eintreten.
Es scheint jedoch in einer Situation schrumpfender Kontexte und regelmäßiger Verluste eine wesentliche Schwelle oder Kipppunkt zu geben. Unterhalb dieser Schwelle wächst die Unsicherheit nicht mehr geradlinig, sondern exponentiell und der Abwärtstrend beschleunigt sich. Typisch für solche Kippunkte der Entwicklung ist, dass jenseits der Schwelle ein steuerndes Eingreifen kaum mehr möglich ist. Ähnliche Szenarien werden gerade in der Umweltpolitik diskutiert. Ab einem bestimmten Punkt ist es nicht mehr möglich, die Erderwärmung zu stoppen, weil die verschiedenen Prozesse sich gegenseitig immer weiter verstärken. Hier spricht man auch von „Fenstern, die sich schließen.“
Kipppunkt der Zugehörigkeit
Es spricht vieles dafür, dass Kirche in vielen Regionen Deutschlands diesem Kipppunkt, ab dem sich der Abwärtstrend selbst verstärkt, gefährlich nahe gekommen ist. Einige Regionen haben ihn vielleicht sogar schon passiert. Das “Fenster“, das noch ein geplantes, konzeptionelles Gegensteuern ermöglicht, schließt sich, oder hat sich schon geschlossen.
Der Kipppunkt selbst ist schwer zu bestimmen. Für Kirche handelt es sich möglicherweise um eine Kombination aus zwei Faktoren: der aktiven, mitgestaltenden Beteiligung der Glaubenden, die sich durch die reinen Kirchenbesucherzahlen nur annähernd beschreiben lässt; und dem Faktor, wie viele Menschen ideell Kirche und ihrer Verkündigung eine wichtige Bedeutung für ihre Lebensführung zuschreiben – Zugehörigkeit in Theorie und Praxis, aber jenseits der rein legalen Mitgliedschaft. Sinkt die Zugehörigkeit unter einen bestimmten Wert, kommt es offensichtlich zu einer sich selbst beschleunigenden Abwärtsspirale. Ob man diesen Wert exakt berechnen kann, ist dabei zweitrangig, da sich einige Phänomen beschreiben lassen, die darauf hindeuten, dass der Kipppunkt der Zugehörigkeit erreicht oder überschritten ist.
Ein solches Phänomen ist die zwischenmenschliche Dominanz nicht-kirchlicher Verhaltensweisen. Treffen zwei Menschen mit unterschiedlicher Kirchenbindung aufeinander, setzt meist der/die weniger kirchlich Geprägte die Maßstäbe, worüber geredet werden kann und welche Verhaltensweisen miteinander akzeptabel sind. Kirche verschwindet auf diese Weise aus der positiven Wahrnehmung so vieler Menschen, dass sie in der Alltagswelt und gesellschaftlichen Öffentlichkeit praktisch unsichtbar wird. Unterhalb dieser Schwelle wird Kirche auf diese Weise rasch eine Randgröße, die toleriert, aber einer Nischenwelt zugeordnet ist. Sie ist für viele Ausdruck eines ästhetischen Sonderbedürfnisses einiger weniger, eher älterer Menschen, aber keine relevante Größe, zu der man sich in irgendeiner Weise verhalten müsste.
Eine Einschränkung muss jedoch unbedingt beachtet werden. Dieser Kipppunkt betrifft erst einmal nur die Gestalt von Kirche, die sich in der Tradition der Volkskirche versteht und im Prinzip das ganze Gemeinwesen und alle ihre getauften Mitglieder, unabhängig von deren persönlicher Einstellung, als Zielgröße vor Augen hat. Die sich selbst beschleunigenden Abbrüche sind ein Problem für die Großkirchen mit ihrem Status als Körperschaften öffentlichen Rechtes, mit ihrer Verantwortung für zigtausende Arbeitnehmer/innen und unzählige caritative Einrichtungen und mit ihrem Anspruch, Gesellschaft wesentlich mit zu prägen. Kleinere Gemeinschaften, lokale Projekte, freie Initiativen… sind davon nicht in gleicher Weise betroffen, auch wenn sie dadurch natürlich in ein schwierigeres, weniger stützendes Umfeld geraten.
Dass es diese Schwelle tatsächlich gibt, dafür sprechen Erfahrungen in einigen europäischen Nachbarländern. Frankreich – durch die Trennung von Kirche und Staat 1905, Tschechien – unter dem Druck des sozialistischen Regimes, die Niederlande – in der Folge der gesellschaftlichen Umbrüche der „68er“, Irland – bedingt durch den Missbrauchsskandal Anfang der 2000er… haben diese Phase des sich selbstbeschleunigenden Rückgangs bereits schmerzlich durchlitten. Die Ursachen können sehr unterschiedlich sein. Es können gesellschaftliche Kräfte sein, die von außen einwirken, ebenso wie eigene Fehler oder demographische Entwicklungen – meistens handelt es sich jedoch um ein Zusammenwirken vieler Faktoren. Aber noch eine weitere Einsicht lässt sich aus dem europäischen Vergleich gewinnen: Bisher stoppte der Niedergang in europäischen Ländern bei 1,5 – 2 % Zugehörigkeit – der Kombination aus konkretem Engagement und dem Einbeziehen kirchlicher Verkündigung in die eigene Lebensgestalt. Dort scheint eine Art Haltelinie zu sein, oder zumindest gewesen zu sein, denn niemand kann sagen, ob eine weitere Entwicklung wieder ähnlich verlaufen wird.
Chaotische Prozesse
Schon die Zeit vor dieser Schwelle ist bereits von komplexen Zusammenhängen geprägt. Das heißt, dass in jedem Moment so viele Faktoren auf jede Entwicklung zusammenwirken, dass keine klaren Vorhersagen möglich sind. Wie eine Strategie wirken wird, kann erst in der Anwendung abgeschätzt werden. Komplexität bedeutet darüber hinaus, dass viele der wirksamen Faktoren in keiner Weise aktiv beeinflusst werden können. Viele Faktoren sind nicht einmal vorab als relevant erkennbar. Im Kleinen kennt das jede/r: Man plant eine größere Feier und just auf das festgelegte Datum fällt ein wichtiges Fußballspiel, die örtliche freiwillige Feuerwehr setzt eine verpflichtende Übung an, ein Paar im Umfeld einiger Eingeladener heiratet und in einer Firma werden Überstunden angeordnet. Schon hagelt es Absagen. In komplexen Situationen lassen sich diese externen Faktoren weder komplett absehen, noch kontrollieren. Wohl aber lässt sich der eintretende Respons, die Auswirkungen einer Entscheidung, analysieren. Der Eingeladene kam nicht, weil… Jene, weil… Daraus lässt sich eine begrenzte Klugheit für die nächste Planung gewinnen. Leider treten dann oft ganz andere Faktoren auf und beeinflussen das Ergebnis.
Jenseits des Kipppunktes jedoch kommt es immer öfter zu chaotischen Prozessen. Diese sind ebenfalls durch eine Vielzahl sich gegenseitig verstärkender oder blockierender Wirkfaktoren bestimmt, aber die Wirkungen, der Respons, lässt sich nicht schlüssig analysieren. Zwei gleiche Faktoren können in zwei ähnlichen Situationen auch ganz anders aufeinander einwirken. Chaotische Prozesse erlauben keine Orientierung und sind deshalb immer lebensgefährlich. Als Vergleich kann der Unterschied von Angst und Panik dienen. Eine verängstigte Menge von Menschen ist eine völlig andere Situation als eine Menge, die in Panik geraten ist. Chaotische Prozesse führen eben zu dieser Selbstverstärkung negativer Prozesse. Da keine Orientierung möglich ist, greifen Menschen Verhaltensweisen zurück, die sehr früh in der phylogenetischen Entwicklung der Menschheit ausgeprägt wurden. Oder sie versuchen, rational zu planen und zu steuern, obwohl die Situation offensichtlich rationaler Durchdringung entzogen ist. Meist aber handeln sie mimetisch, das heißt sie imitieren schlicht das Verhalten ihrer Nachbarn. Massenpaniken und Börsencrashs sind erschreckende Beispiele solcher chaotischer und damit potentiell lebensbedrohlicher Prozesse.
Sollte Kirche also einen solchen Kipppunkt der Zugehörigkeit passieren, spricht einiges dafür, dass auch da chaotische Prozesse greifen. Es scheint, als ließen sich schon erste Symptome beobchten. So ist es typisch für die Orientierungslosigkeit chaotischer Prozesse, dass partikulare Interessen der einen oder anderen Teilgruppe durchgesetzt werden, obwohl sie möglicherweise das Überleben des Ganzen in Gefahr bringen: Pfarreiräte untersagen freie Gottesdienstformen, die neue Menschen ansprechen könnten; ein lokaler Verwaltungsrat setzt die Renovierung einer Kirche durch und bringt dadurch die Pfarrei als Ganzes an den Rand der Zahlungsunfähigkeit; verschieden geprägte Gruppierung sprechen sich gegenseitig die Kirchlichkeit ab und prägen damit ein negatives Bild von Kirche in der Öffentlichkeit.
Kampf oder Flucht bestimmen in chaotischen Phasen das Verhalten mehr als Überlegung, Solidarität und Sorgfalt. In dramatisch empfundenen Situationen greifen Menschen manchmal sogar unbewusst auf Formen der Wirklichkeitsverweigerung zurück, was bis zu einer Schockstarre führen kann. Auch davon lassen sich vielleicht schon Symptome beobachten: eine Ordensgemeinschaft, deren jüngste Mitglied vor dreißig Jahren ins Noviziat eingetreten ist, schreibt wunderschöne Papiere über Berufungspastoral und renoviert das Noviziatsgebäude, vernachlässigt aber die finanzielle Absicherung der pflegebedürftigen Mitglieder; pastorale Mitarbeiter/innen sind von den ständigen Misserfolgen, Verdächtigungen und Einschnitten so traumatisiert, dass sie innerlich emigrieren, keine Kreativität mehr investieren können und alle Neuansätze als Überforderung abweisen; Institutionen verbieten in ihrem Zuständigkeitsbereich jegliche Überlegungen zur Organisations- und Kirchenentwicklung.
Was bisher begrenzte, lokale Phänomene waren, könnte in einer Phase generalisierter chaotischer Prozesse zur Normalität kirchlicher Wirklichkeit werden. Jede/r gegen jede/n, Flucht aus der Verantwortung, Wirklichkeitsverweigerung, Schockstarre… Niemandem ist zu verdenken, wenn er/sie sich, so er/sie denn kann, von so einer Organisation distanziert. Aber natürlich beschleunigt diese individuell oft ratsame, sogar notwendige Distanzierung die Abbruchprozesse und treibt die Kirche noch tiefer in chaotische Verhältnisse. Überdehnte finanzielle Verantwortung, potemkinsche Fassaden gesellschaftlichen Einflusses, erdrückende Baulasten, strikt hierarchisierte und bürokratisierte Abläufe, ein immer und überall anwesendes Übergewicht von Bedenkenträger/innen… beschleunigen dann die Abwärtsspirale weiter.
Aus chaotischen Prozessen kann niemand, der zuvor darin gefangen war, aussteigen. Phänomene einer Massenpanik reißen alle mit, auch diejenigen, die durchschauen, was geschieht und die die Katastrophe kommen sehen. Komplexe Situationen sind einem schnell fließenden Fluss mit seinen Strömungen, Wirbeln und Kehrwassern vergleichbar: Navigieren ist schwierig; jedes Manöver muss aus dem Augenblick heraus entschieden werden, anzulegen ist aber denkbar. Stürzt der Fluss über eine Schwelle, bildet er einen Wasserfall oder Stromschnellen, entsteht eine chaotische Situation in der kein Anlegen, kein Anhalten, kein Aussteigen und kein Navigieren möglich ist. Chaotische Prozesse lassen sich auch durch keine Anstrengung aufhalten. Appelle an die Vernunft verhallen, verdoppelte Arbeitskraft führt zum Burnout, nicht zum Turnaround, Umorganisationen reagieren auf Situationen, die bei der Umsetzung längst Geschichte sind.
Kirchenentwicklung in chaotischen Zeiten
Ist Kirche diesen chaotischen Prozessen, wenn sie denn sich generalisieren, also völlig ohnmächtig ausgeliefert? Ja und nein. Ja, denn am großen Trend, am Ende der Volkskirche, an den zusammenbrechenden Strukturen flächendeckender Präsenz, an der geringen Anschlussfähigkeit an die junge Generation… lässt sich kurzfristig nichts ändern. Hier ist es sogar für die Einzelnen gefährlich, sich zu sehr in Rettungsphantasien zu versteigen. Kein noch so kluges pastorales Angebot, keine ausgeklügelte Reform, kein disziplinarisches Umsteuern… wird hier in the long run etwas bewirken. Darüber sollten auch hoffnungmachende Einzelerfolge, die meist mit dem speziellen Charisma einer/s Mitarbeiters/in zu tun haben, nicht hinwegtäuschen. Dennoch sind pastoralplanerische und kirchenstabilisierende Maßnahmen auch in chaotischen Prozessen keineswegs sinnlos. Mit etwas Glück verhindern sie, dass das „Schiff“ am nächsten Felsen, der aus den Stromschnellen ragt, zerschellt. Aber sie sind Investitionen in das unmittelbare Jetzt, wahrscheinlich aber keine Vorbereitungen für eine wieder stabilere Zukunft.
Dennoch ist Kirche dem nicht einfach ausgeliefert. Im Gegenteil durchaus möglich und auch sehr angebracht jetzt sehr viel in Zusammenhänge zu investieren, die vom Chaos nicht infiziert werden können, die von Ressourcen- und Strukturentwicklungen weitgehend unabhängig sind und die jetzt hoffentlich vorbereiten, was gebraucht wird, wenn Kirche die Stromschnellen der chaotischen Prozesse wieder in ruhigeres Wasser verlassen wird. Dabei darf man sich keine Illusionen machen. Kirche wird wieder in ruhigeres Fahrwasser kommen, aber es wird dann sehr viel weniger Wasser unter dem Kiel sein: „1,5 % Zugehörigkeit“. Vieles, was jetzt Kirche ist, wird dann nicht mehr „schwimmen“, nicht mehr lebensfähig sein. Dennoch kann eine Menge getan werden.
Chaotischen Prozessen großer Organisationen entzogen sind die kleinen Einheiten, die informellen Netzwerke, lokalen Initiativen und Projekte. Hier lohnt deshalb auch in einer chaotischen Phase der Kirchenentwicklung die Investition. Alles was Menschen befähigt, sich selbstverantwortet und selbstorganisiert in kleine christliche Gemeinschaften, Basisgemeinden, Glaubensgruppen… zusammen zu schließen, hat Chance auf Zukunft. In gleicher Weise ist den ist auch alles den chaotischen Prozessen entzogen, was im Individuum alleine „aufbewahrt“ wird: Erfahrungen, Kompetenzen und Beziehungen. Auch hier lohnt es, dass Kirche gerade jetzt investiert. Gotteserfahrung, spirituelle Formation, theologische Mündigkeit, seelsorgerliche und katechetische Kompetenzen der Glaubenden… „reisen“ mit leichtem Gepäck, können „um die Stromschnellen herum getragen werden“, sind den chaotischen Abwärtsspiralen der sich häutenden Organisation entzogen.
Was genau dann inhaltlich gebraucht wird, um weiterhin Zeugnis für die Erlösung in Jesus Christus abzulegen und für das angebrochene Reich Gottes einzustehen, lässt sich nicht vorhersagen. Es lohnt deshalb mehr in Grundqualifikationen zu investieren, die in jeder denkbaren Situation zum Einsatz kommen können. Dazu können sicher eine vertiefte Kenntnis der Heiligen Schrift gezählt werden, geübtes und krisenerprobtes Beten, eine innere Ausrichtung am Lebensweg Jesu, eine Kultur der Achtsamkeit und geistlichen Unterscheidung, theologische Kritikfähigkeit, freundschaftliche Hinwendung zu den Armen und zum bedrohten gemeinsamen Haus Erde, seelsorgerliche Einfühlung und anwaltschaftliche Compassion, liturgische Kreativität, Haltungen, die Inkulturation, Dienst und Demut fördern, die Bereitschaft und Befähigung, sich mit allen Menschen guten Willens gemeinsam für eine bessere Welt einzusetzen… All das sind innere Wirklichkeiten, die unmittelbar zu einer christlichen Lebenskultur gehören, aber allen äußeren organisationalen Prozessen entzogen sind.
Und noch eine dritte Strategie könnte eine Chance haben. Es können verbleibende Mittel in Zentren, in Hoch-Orte und Hoch-Zeiten konzentriert werden. Auf diese Weise entstehen „Biotope des Glaubens“, die von Gottsucher/innen periodisch aufgesucht werden können, um dort aufzutanken, um einzutauchen in eine Welt des Glaubens, um zugerüstet zu werden. Die „Stadt auf dem Berg“ des klassischen Benediktiner/innenklosters mag als historisches Vorbild dienen. Die „himmlische Liturgie“ der Orthodoxie hat eine ähnliche Funktion: der/die Glaubende wird für eine Weile hineingenommen in das göttliche Geschehen und in den geordneten Kosmos, tritt dann wieder hinaus, um so gestärkt den Alltag zu bestehen.
Kontemplative Haltung
Es lässt sich jedoch noch etwas sehr viel Grundsätzlicheres, nämlich die Perspektive aus der die Prozesse wahrgenommen werden, verändern. Sie können als Zusammenbruch erlebt werden, als Folge der eigenen Fehler und missgünstiger Umstände, als etwas, was repariert werden muss. Chaos als das Ende aller Orientierung. Diese Wahrnehmung führt nicht selten zur Überschätzung der eigenen Möglichkeiten oder umgekehrt zur Verzweiflung. Theologisch sind dann die Werkgerechtigkeit und die Versuchung der Selbsterlösung nie weit weg. Es verändert schon etwas, wenn man sich in allem Mühen, das sich aus dieser Perspektive nahe legt, bewusst hält, dass die Erlösung und Rettung nicht Menschenwerk ist. Gott ist präsent und die Kraft seines Geistes ist aktiv. Das verhindert nicht die Abwärtsspirale, aber vielleicht schiebt es der Verausgabung einen Riegel vor und hilft, die Energie in Dinge zu investieren, die den chaotischen Prozessen entzogen sind. Chaos ist nämlich auch die oft nötige Voraussetzung paradigmatischer Neuausrichtungen und kreativer Sprünge.
Die Situation kann deshalb bei aller Dramatik auch als „normale“ Phase geistlicher Entwicklung verstanden werden. Nicht nur die guten Zeiten sind Zeiten geistlicher Führung, sondern auch die Zeiten der Trostlosigkeit. Die Erlösung geht nicht auf den geraden Wegen beraterischer Rettungsphantasien, sondern folgt der kenotischen, absteigenden Lebensdynamik Jesu. Die ersten Jünger/innen haben zwischen der Verhaftung Jesu und den ersten Auferstehungserfahrungen eine hochdramatische, chaotische Zeit durchlebt: Dunkel, Angst, Überforderung, der sinnlose Griff zum Schwert, Flucht, Verleugnung, Ausgeschlossen-sein aus dem weiteren Geschehen, Katastrophe, Tod und Zusammenbruch, Verzweiflung, Perspektivlosigkeit… sind integraler Bestandteil der christlichen Ursprungsgeschichte.
Einzelne werden in ihrer geistlichen Reifungsgeschichte immer wieder in solche Prozesse der Passion und der Solidarität mit dem leidenden Christus geführt. Sie sind unvermeidlich und notwendig, damit eine „neue“ geistliche Welt, eine neue Schöpfung mündigen Glaubens, eine Auferstehung der glaubenden Existenz möglich sind. Es gibt gute Gründe anzunehmen, dass auch Gruppen von Glaubenden, Gemeinden und ganze Ortskirchen solche Prozesse durchleben müssen. Der Glaube berechtigt aber durchaus zu der Hoffnung, dass das nicht das Ende ist, auch wenn es bis in die Unterwelt hinunter geht, sondern die Vorbereitung für eine neue Schöpfung, die von Gott her geschieht. Der Glaube an die Auferstehung, an die Erlösung der Menschen und die Rettung der Schöpfung ist keineswegs obsolet, nur weil Kirche sich „häutet“, in den Stromschnellen chaotischer Prozesse und sich selbst beschleunigender Abwärtsspiralen ihre bisherige Gestalt und Macht aus der Hand geschlagen bekommt. Der Glaube ist auch heute relevant und anschlussfähig. Er ist vielleicht angesichts globaler Bedrohungen für die Zukunft der Menschen und der Erde noch notwendender als je zuvor.
Und auch das lässt sich schon beobachten: Menschen schließen sich zusammen, um sich aus ihrem Glauben und ihrer spirituellen Erfahrung heraus für Versöhnung mit allem Geschaffenen, für nachhaltige Entwicklung und Umweltgerechtigkeit einzusetzen; neue Formen, selbstorganisiert Kirche zu sein und so in den Stadtteil hinein zu wirken, werden erfunden; ein Aufstehen für Migranten, Schutzlose und Armgemachte wird praktisch umgesetzt; Erfahrungen geistlicher Jünger/innenschaft und existentieller Nachfolge Jesu ergreifen Gottsucher/innen weit über die Gemeinschaften und Stände geweihten Lebens hinaus; regionale Theologien und inkulturierende Seelsorge entstehen an vielen Stellen und eröffnen neue Perspektiven; neue Gottesdienstformen werden erprobt und ziehen Menschen an.
In Zeiten der Krise, in Zeiten chaotischer Prozesse, ist der Heilige Geist umso aktiver. Das ist eine einfache Erfahrungstatsache aus der Unterscheidung der Geister. Wenn es hoch hergeht, die Ausschläge heftig sind, die verschiedensten Kräfte wirken und das Schiff ins Wanken bringen, ist der Geist Gottes noch wirkender. Er verbindet mit dem Auferstandenen, dessen Geist er ist. Dieser kommt über das Wasser des Meeres von Galiläa zu den Jünger/innen damals und zur Kirche heute und ruft sie heraus aus dem Boot, das von den Sturmwellen hin- und hergeworfen wird und nicht mehr vorankommt. Neues soll werden, wo es eben noch völlig undenkbar war. Petrus geht über das Wasser auf Jesus zu. Aus der Logik des Bootes geht das nicht. In der Logik der neuen Schöpfung offenbar schon.
Gerade in chaotischen Prozessen lohnt es hinzuspüren, in welche Richtung der Geist Gottes gerade in diesem Moment drängt. Chaotische Zeiten sind allerdings leider keine stabile „Westwindzone“. Der Geist weht, wohin er will. Er beschreibt krumme Wege und dreht öfter mal. Leicht kann er mit anderen Kräften verwechselt werden. Auf Gewohnheiten und bewährte Richtungen ist jetzt wenig Verlass. Lange Planungszyklen sind nicht das Gebot der Stunde – eher auf Sicht fahren und beständig nachsteuern. Voraussetzung ist die Freiheit des Geistes, die es erlaubt, auch das Gegenteil von dem zu tun, was eben noch erfolgversprechend war, nur weil sich die Bedingungen schon wieder geändert haben und der Geist in eine neue Richtung weht.
Auf den Geist zu achten, braucht deshalb in der Krise besondere Sensibilität. Gerade in den hektischen Zeiten sich selbstbeschleunigender Abwärtsspiralen ist es umso notwendiger, Zeit und Aufmerksamkeit für das Wirken des Geistes einzusetzen und die Unterscheidung zu kultivieren: eine kontemplative Grundhaltung, die zu jeder Stunde auf Gott und sein Wirken hinspürt. Kontemplation ist dabei alles, nur nicht das Gegenteil von Aktion. Diese Art der Kontemplation ist hochengagiert und beständig auf der Suche nach der nächsten Wendung und Öffnung, die der Geist ermöglicht. Individuell ist diese Haltung innerer Stille und Ausrichtung auf das Wirken des Geistes zudem ein mögliches Gegenmittel gegen die pastorale Selbstüberforderung und den kirchlichen Burnout.