Das Gleichnis wird hier als Geschichte gelesen, die von der christlichen Mission – und der Mission anderer Gruppen – des ersten Jahrhunderts erzählt. Dabei kommt eine polemische Aussageabsicht zu Tage, und eine Grundüberzeugung, die weit über alle Konkurrenzen hinaus weist.
Das Gleichnis von den Talenten
Text: Peter Hundertmark – Photo: timcgundert/pixabay.com
Das Gleichnis scheint auf den ersten Blick ganz leicht zu verstehen: Wenn man etwas bekommen hat – ein Talent, eine Begabung… – dann erwartet Gott, dass man es fruchtbar macht und damit arbeitet, um möglichst viel Gewinn daraus zu ziehen. Damit steht man dann vor Gott gut da. So schlicht, so kapitalistisch, so schwierig mit der christlichen Vorstellung von Gnade und Rechtfertigung aus Glaube allein zu vereinbaren. Folgt man dieser Logik, wird sich jeder sensible Christ fragen, ob er denn genug tut, ob mehr von ihm erwartet wird und vielleicht auch, ob er nicht vielleicht doch zu denen gehört, die in die äußerste Finsternis verbannt werden. Im Umkehrschluss wird Gott dann als ein Herr vorgestellt, der auf Gewinn aus ist, der kontrolliert und für den man ordentlich Leistung erbringen muss, damit er zufrieden ist. Damit hakt das Gleichnis ganz erheblich mit theologischen Überzeugungen und spirituellen Erfahrungen des 21. Jahrhunderts. Wird das Gleichnis jedoch in seinen historischen Kontext gestellt wird, gewinnt es eine ganz andere Färbung. Allerdings wird es dadurch keineswegs einfacher zu akzeptieren.
Matthäus schreibt sein Evangelium unter Verwendung älterer Quellen nach der Zerstörung des Tempels in Jerusalem im Jahr 70. Er selbst ist wahrscheinlich ein Christ mit jüdischen Wurzeln, verankert in der Diaspora – vielleicht im heutigen Syrien. Er schreibt, da besteht weitgehender Konsens, an Juden- und Heidenchristen.
Wie war also die Situation, in die hinein Matthäus schreibt. Mit der Zerstörung des Tempels ist die alte jüdische, auf Jerusalem zentrierte Welt untergegangen. Das einzige legitime Heiligtum existiert nicht mehr, es gibt keinen Opfergottesdienst mehr, die Priesterschaft hat ihre Funktion verloren. Viele sakrale Regelungen der Hebräischen Bibel sind nicht mehr anwendbar. Die Religion in ihrer bisherigen Form ist zu Ende.
Drei Gruppen, die im Judentum Palästinas wurzeln, haben die Katastrophe überlebt, da sie in ihrer Existenz nicht an den Tempel gebunden waren: Die Anhänger von Johannes dem Täufer, die Pharisäer und die Christen. Vor allem zwischen den beiden letzten Gruppen entsteht rasch eine scharfe Konkurrenz, wer die legitimen Erben der Verheißungen und der Erwählung, wer also die „Rechtsnachfolger“ der untergegangenen Religionsform, sind. Dieser Konflikt klingt noch lebhaft in der Selbstbezeichnung der Christen als dem „neuen Gottesvolk“ nach: Wir sind die Erben der Verheißung, mit Jesus hat Gott rechtzeitig vor der Katastrophe eine neue Zeit und ein neues Volk begonnen, der Glaube an Jesus ist der einzige lebendige und zukunftsträchtige Kern des Gesetzes und der Propheten. An vier zentralen Stellen formuliert das Matthäusevangelium ausdrücklich diesen Anspruch.
Mit dem gleichen Anspruch treten jedoch auch die Pharisäer auf. Auch sie beanspruchen die wirklichen und einzig wahren Vertreter und Modernisierer der jüdischen Religion zu sein. Ihr Vorteil ist, dass sie bruchloser an die alte Religionsform anzuschließen scheinen. Sie haben 150 Jahre Vorlauf und profitieren noch immer von dem Renommee, das sie in den Makkabäeraufständen erworben haben. Beide Gruppen, Christen und Pharisäer, verkünden dabei ein recht ähnliches Gottesbild: Gott ist liebende Zuwendung, er greift zugunsten seines Volkes ein, es besteht Hoffnung auf Erlösung und Auferweckung, es gibt die Möglichkeit eines glückseligen Lebens bei Gott. Beide Gruppen sind dabei missionarisch aufgestellt und setzen auf rasche Ausbreitung. Ziel ist es, möglichst große Teile der jüdischen Diaspora und mittels ihrer auch der Heiden für die eigenen Überzeugungen zu gewinnen. Das jüdische Missionsverbot ist wohl erst ein Produkt der Spätantike oder des frühen Mittelalters.
Diese missionarische Konkurrenz um die Rechtsnachfolge wird mit harten Bandagen gelebt: wechselseitige Denunziationen bei den römischen Autoritäten, Pogrome, Verunglimpfung der jeweiligen Gegner – kein Ruhmesblatt für beide Seiten. Die Konkurrenz wird aber vor allem durch „Massenvertrieb“ philosophischer und religiöser Schriften befeuert. Beide Gruppen profitieren dabei von einer zeitgleich einsetzenden Medienrevolution: das gebundene Buch ersetzt die Schriftrolle und Tafeln. Das Postsystem des römischen Reiches macht es zudem möglich, über Bücher und Briefe jeden beliebigen Ort rund um das Mittelmeer rasch und sicher mit Informationen zu versorgen. Ein harter Kampf um die Köpfe setzt ein.
Dabei sind die im Judentum wurzelnden Gruppen keineswegs allein unterwegs. Mithras-Jünger sind aktiv, Delphi-Initiaten werben, die Verehrer der Artemis von Ephesus tragen deren Bild bis nach England, Zoroastrier, Gnostiker… sie alle bespielen den Markt der religiösen Möglichkeiten. Das macht diese Zeitsituation und die darauf reflektierenden Texte so interessant für heute, wo sich eine vergleichbare Situation auch in Europa wieder anbahnt. Nicht zufällig wird Mission und Verkündigung in die Gesellschaft hinein gerade wieder das zentrale Thema aller Kirchen.
Die Christen waren in dieser Konkurrenzsituation erst einmal in einer schwächeren Position, denn sie hatten zeitgleich eine massive theologisch-spirituelle Infragestellung zu verkraften. Die Wiederkunft Christi, die sie – wohl mit Jesus selbst – für die allernächste Zukunft erwarteten, verzögerte sich immer weiter. Irgendwann war nicht mehr von der Hand zu weisen, dass die erste Generation das innerweltliche Weltende nicht mehr erleben würde. Viele Überlieferungen mussten neu gelesen und interpretiert werden. Die Infragestellung reichte bis an die Wurzeln des Christus-Glaubens. In diesem Kontext grundlegender theologischer Neuausrichtung wird das Himmelreich, das bisher als innerweltliche Erfüllung der Verheißung und Lösung aller Probleme von Gott her erwartet wurde, zur Aufgabe der Christen. Sie entdecken sich gerufen, durch soziales Handeln und missionarische Verkündigung dazu beizutragen, das Himmelreich auf Erden voran zu bringen. Dabei kippt die Balance ganz leicht von Auftrag in Verantwortung, von Engagement in heilsnotwendige Leistung. Das Gleichnis von den Talenten legt sicher auch Zeugnis ab für diesen neu empfundenen Druck, die Welt mit-erlösen zu müssen.
Einige Auffälligkeiten im Text legen es nahe, das Gleichnis vor diesem doppelten Hintergrund der verzögerten Wiederkunft Christi mit der daraus entstehenden Notwendigkeit, missionarisch für das Himmelreich einzutreten, und der Konkurrenzsituation mit den Pharisäern und Täufern, auszulegen.
Der Kontext der verzögernden Wiederkunft spiegelt sich in der langen Abwesenheit des vermögenden Herrn, ein Motiv das im Matthäusevangelium mehrfach aufgegriffen wird. Da stimmen alle Exegeten überein. Die erste Auffälligkeit, die möglicherweise auf die missionarische Konkurrenz anspielt, ist das Vergraben des Geldes durch den dritten Diener. Dazu muss man wissen, dass nach pharisäischer Auffassung es ein legitimes Vorgehen ist, anvertrautes Geld zu vergraben. Damit gilt das Geld als ausreichend gesichert. So legt es sich nahe, dass der Verfasser des Matthäusevangeliums in polemischer Absicht mit dem „Diener mit dem einen Talent“ die Pharisäer andeutet. Sie machen, so legt er seinen Lesern nahe, aus seiner christlichen Sicht keinen Gewinn. Sie bringen inhaltlich nichts Neues und sie gewinnen auch keine neuen Glaubenden. Historisch ist das nicht, denn die pharisäische Mission war in den ersten beiden Jahrhunderten nach Christus durchaus erfolgreich. Wenn diese Interpretation stimmt, ist die Gestalt des dritten Dieners anti-pharisäische Polemik und christlich-missionarisches Wunschdenken.
Weiterhin auffällig ist, dass der Herr im Gleichnis dem Diener mit dem einen Talent vorwirft, dass er sein Geld nicht bei den Bankiers angelegt hat. In einem jüdischen Kontext kann das nur heißen, es dem Tempel anzuvertrauen, der vor der Zerstörung als einzige autorisierte Bank in Judäa aktiv war. Im historischen Kontext könnte das als ein böser Spott gehört worden sein, denn hätten die Pharisäer etwas im Tempel hinterlegt, wäre es rettungslos verloren gewesen. Vielleicht soll damit der historische Vorsprung und die behauptete Kontinuität der Pharisäer zur alten jüdischen Religion ins Absurde gezogen und damit untergraben werden. Darunter schwingt wahrscheinlich zusätzlich eine Kritik am Tempel mit, denn die Priester dort hatten vor der Zerstörung das Zinsverbot aus Deuteronium 23,20 ausgehebelt und umgangen – jedenfalls zitiert Matthäus Jesus im 23. Kapitel mit scharfen Angriffen auf das Finanzsystem des Tempels.
Zugleich gibt der Verweis auf Bankiers auch einen ersten Schlüssel für das Verständnis der anderen beiden Diener. Diese wirtschaften mit dem Geld. 100% Gewinn lassen sich, auch wenn einige Jahre zur Verfügung stehen, jedoch nur durch Spekulation und Zinsen erwirtschaften. Das heißt unmissverständlich, dass die beiden ersten Diener im heidnischen Kontext aktiv sind. Ein weiterer Hinweis darauf, dass das Gleichnis auf die missionarische Tätigkeit reflektieren und aus diesem Kontext heraus auszulegen sein könnte.
Die These, dass es sich um eine polemische Missionsgeschichte handelt, die die eigenen Erfolge zu profilieren sucht, indem andere Gruppen abgewertet werden, wird auch durch eine nur im Griechischen auffällige Wortwahl unterstützt. Das, was der Herr den Dienern anvertraut, ist sein Vermögen. Im griechischen Text steht dort ein Wort, das sowohl Existenz als auch Geldvermögen anklingen lässt. Nimmt man diese „Obertöne“ hinzu, gibt der Herr den Dienern also die eigene Existenz, sein Anliegen und Wirken, sein Vermögen – im doppelten Sinn auch des deutschen Wortes.
Die Existenz Gottes wird im Matthäusevangelium immer direkt mit seiner Selbst-Sendung zugunsten der Menschen identifiziert. Gott ist, indem er Zuwendung ist. Existenz und Heilshandeln Gottes können nicht getrennt betrachtet werden. Das ganze Matthäusevangelium durchzieht die Erfahrung und Überzeugung, dass Gott die Menschen im Dunkeln ein Licht sehen lässt, dass er kommt, um die Erlösung zu bringen, dass all dies mit Jesus beginnt (z.B. Mt 4,15f). Bedenkt man diese theologische Grundlinie des Matthäusevangeliums so folgt, dass der Herr im Gleichnis den Dienern mit seinem Vermögen, seine Existenz in seiner Selbst-Sendung für die Menschen anvertraut. Er vertraut ihnen das Himmelreich an. Das Himmelreich ist ihre Aufgabe.
Dafür haben die Diener (unterschiedliche) Fähigkeiten (Mt 25,14). Auch dahinter steckt im griechischen Original ein vieldeutiges Wort: Dynamis. Die Hauptbedeutung ist Kraft oder Energie. Das Matthäusevangelium benutzt Dynamis jedoch an allen drei weiteren Textstellen ausschließlich als Wort für die Kraft Gottes. So ist es durchaus verantwortbar, diese Wortbedeutung auch hier mit zu hören. Die Diener haben in sich von der Kraft Gottes: Dynamis. Diese Kraft Gottes in ihnen macht es möglich, dass Gott ihnen sein Vermögen, seine Sendung, das Himmelreich anvertraut. In dieser Interpretationslinie löst sich damit auch der Widerspruch zur Gnadentheologie auf. Es sind nicht die natürlichen Fähigkeiten der Diener – respektive der Christen – mit denen sie das Vermögen Gottes Gewinn erwirtschaften lassen können. Die Kraft Gottes wirkt in ihnen und bewirkt, dass das anvertraute Himmelreich sich ausbreitet, ja verdoppelt, bewirkt dass die missionarische Anstrengung von Erfolg gekrönt ist.
Wiederum ist im Hintergrund die Zerstörung des Tempels zu hören. Als Konsequenz aus der Katastrophe vertraut Gott den verschiedenen Gruppen seine Sendung und Wirkmacht in die Welt hinein an. „Macht alle Menschen zu meinen Jüngern“ endet das Matthäusevangelium folgerichtig. Das Gleichnis von den Talenten reflektiert dabei die christliche Überzeugung, dass drei Dienern – den drei überlebenden Gruppen: Täufern, Pharisäern und Christen – das Vermögen Gottes, das Himmelreich, anvertraut ist. Diese Überzeugung muss so sehr Allgemeingut der christlichen Glaubenden gewesen sein, dass Matthäus sie trotz seiner polemischen Absicht selbstverständlich als gegeben voraussetzt.
Die dritte Gruppe – die Jünger Johannes‘ des Täufers – wurde dabei von der Gemeinde des Matthäus einerseits als Konkurrenten, andererseits als Verbündete gegen die Pharisäer verstanden. Mt 11,11: Johannes der Täufer ist der größte der Menschen und der Kleinste im Himmelreich. Aber zugleich wird Johannes in Mt 3,7 über die Pharisäer in den Mund gelegt: Ihr Schlangenbrut, wie könnt ihr glauben, dem kommenden Gericht zu entrinnen? In den historischen Kontext zurückprojiziert, könnte letzteres Zitat ein Echo der Auffassung auch der Täufer sein, die Pharisäer hätten eigentlich mit Jerusalem und der alten jüdischen Religion untergehen müssen.
Ob nun die Täufer hinter dem zweiten Diener zu sehen sind, ist reine Spekulation. Ihre missionarische Tätigkeit ist im ersten Jahrhundert ebenfalls – unter Juden und unter Heiden – sehr erfolgreich. Anhänger des Täufers zeigen jedoch eine große Offenheit für die Christen: man kennt und unterstützt sich gegenseitig, die Grenzen sind fließend. Mitglieder wechseln wahrscheinlich hin- und her – wenn das Matthäusevangelium auch nur den Weg vom Täufer zu Jesus zu kennen vorgibt. Offensichtlich ließ sich die Erinnerung nicht unterdrücken, dass Jesus selbst zumindest kurzzeitig zum Kreis um den Täufer gehörte (Taufe Jesu in Mt 3,13-17). So könnte es durchaus sein, dass die Täufer, zwar polemisch auf die Ränge verwiesen werden – nur zwei Talente – aber doch die wortgleiche Belobigung durch den Herrn erfahren. Beide, Täufer und Christen, lassen das Vermögen Gottes, seine Existenz und Sendung, sein Himmelreich unter den Völkern arbeiten und gewinnen rasch Menschen hinzu. Dabei ist sind die 100% – bedingt durch das Wortbild aus der Finanzwelt, wo 100% Spekulationsgewinn schon ein unvorstellbar hoher Gewinn ist – noch gering angesetzt. Im Gleichnis vom Sämann (Mt 13, 1-9) ist auch von 30, 60 und 100fachem Zugewinn die Rede: durchaus realistische Zahlen der frühen Missionserfolge – allerdings für die Mission aller drei Gruppen.
Und jetzt? Bleibt uns nur, das Gleichnis wegen seiner Polemik auf den Müllhaufen der anti-judaistischen Texte der Christen zu werfen? Niemand wird es mehr als genuin christliche Verkündigung akzeptieren können, dass andere religiöse Gruppen diskreditiert und symbolisch in die äußerste Finsternis verdammt werden. So lässt sich das Gleichnis nur gegen das Gleichnis lesen. Dafür aber gibt es aber, wie in den Worterklärungen schon anklang, zum Glück einige Hilfen im Text selbst. Eine späte Bitte um Entschuldigung könnte dennoch angebracht sein, gibt es doch nach wie vor schein-christlich motivierten Antisemitismus, der sich genau auf solche Stellen zu stützen vorgibt.
Wie schon ausgeführt, setzt das Gleichnis voraus, dass Gott seine Sendung, sein Vermögen, das Himmelreich… drei Dienern – im Kontext wahrscheinlich also den drei missionarischen Gruppen – anvertraut. Alle drei gehören zum „Personal“ Gottes – in theologischer Sprache: alle drei Gruppen sind Glaubende. Täufer, Pharisäer und Christen konkurrieren zwar, sind aber letztlich alle drei mit dem Vermögen des einen Herrn unterwegs. Zieht man diese Linie gegen die polemische Aussageabsicht des Gleichnisses weiter, so folgt, dass allen Glaubenden, Christen und Juden, in allen ihren Strömungen und Konfessionen, seit der Zerstörung des Tempels das Vermögen Gottes, das Himmelreich, anvertraut ist. Wenn sie das Himmelreich arbeiten lassen, bringt es auch reiche Frucht – hier: Bekehrungen zum Glauben an den einen Gott Abrahams, Isaacs und Jakobs, an den Gott Johannes‘ des Täufers, an den Gott und Vater Jesu.
Auf unsere jetzige missionarische Situation in der Postmoderne der wieder vielen konkurrierenden religiösen Sinnangebote angewandt, müssen wir in der Linie des Gleichnisses von den Talenten vielleicht sogar noch radikaler denken: Wie ist es mit Muslimen – Schia und Sunna, Aleviten und Bahai? Auch sie sehen sich in der abrahamitischen Traditionslinie. Sind auch sie „Diener“, denen Fähigkeiten (göttliche Dynamis) gegeben, und denen Vermögen Gottes anvertraut ist. Die Erklärung „Nostra Aetate über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen“ des 2. Vatikanischen Konzils weist in diese Richtung, wenn sie allen Religionen und ausdrücklich Juden und Muslimen zugesteht, dass sie den gleichen einen Gott verehren, dieser also umgekehrt in ihren Erfahrungen und Überzeugungen gegenwärtig ist. „Wir können aber Gott, den Vater aller, nicht anrufen, wenn wir irgendwelchen Menschen, die ja nach dem Ebenbild Gottes geschaffen sind, die brüderliche Haltung verweigern. Das Verhalten des Menschen zu Gott dem Vater und sein Verhalten zu den Menschenbrüdern stehen in so engem Zusammenhang, dass die Schrift sagt: „Wer nicht liebt, kennt Gott nicht“ (1 Joh 4,8)“ (NA 5)
Lädt uns das Gleichnis von den Talenten durch seine impliziten Voraussetzungen und gegen seine Polemik also ein, auch die Verkündigung der anderen abrahamitischen Religionen als „Wirtschaften mit dem Vermögen Gottes“ zu verstehen? Wächst das Himmelreich auch durch Bekehrungen zum Gott Mohammeds, Alis und Baha’ullahs? Noch einmal Nostra Aetate: Die katholische Kirche lehnt nichts von alledem ab, was in diesen Religionen wahr und heilig ist. Mit aufrichtigem Ernst betrachtet sie jene Handlungs- und Lebensweisen, jene Vorschriften und Lehren, die zwar in manchem von dem abweichen, was sie selber für wahr hält und lehrt, doch nicht selten einen Strahl jener Wahrheit erkennen lassen, die alle Menschen erleuchtet. Unablässig aber verkündet sie und muss sie verkündigen Christus, der ist „der Weg, die Wahrheit und das Leben“ (Joh 14,6), in dem die Menschen die Fülle des religiösen Lebens finden, in dem Gott alles mit sich versöhnt hat. Deshalb mahnt sie ihre Söhne [und Töchter, P.H.], dass sie mit KIugheit und Liebe, durch Gespräch und Zusammenarbeit mit den Bekennern anderer Religionen sowie durch ihr Zeugnis des christlichen Glaubens und Lebens jene geistlichen und sittlichen Güter und auch die sozial-kulturellen Werte, die sich bei ihnen finden, anerkennen, wahren und fördern.“ (NA 2)
Allerdings klingt im Gleichnis von den Talenten auch eine Warnung an alle Glaubenden, alle Diener des einen Herrn mit: Das Himmelreich ist nicht euer Besitz. Es ist nur anvertraut. Sie dürfen das Vermögen Gottes, seine Sendung, das Himmelreich nicht für sich behalten, in dem sie es in der eigenen Gemeinschaft vergraben. Sonst bleibt es unfruchtbar und wendet sich letztlich gegen die Glaubenden selbst. Das Wort Gottes muss hinaus. Es muss arbeiten, Lebenswege umkehren, Frieden schaffen, wandeln, Menschen für die „Freude des Herrn“ – die Erlösung und das Leben mit Gott – gewinnen. Niemand, keine Gruppe hat es und die anderen haben es nicht.
Matthäus bleibt da in seiner Konkurrenzlogik gefangen und formuliert es nur für die Pharisäer: Weh euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Heuchler! Ihr verschließt den Menschen das Himmelreich. Ihr selbst geht nicht hinein; aber ihr lasst auch die nicht hinein, die hineingehen wollen. (Mt 23,13) Aber der gleiche Weheruf wendet sich auch gegen die Christen – und alle anderen abrahamitischen Religionen, wenn sie Gott für sich behalten wollten. Das zeitgleich entstehende Lukasevangelium bringt es auf den Punkt: Das Reich ist nicht hier oder dort. Wenn einer behauptet, er habe es, geht nicht hin. Das ist alles Betrug. (vgl. Lk 17,20-24). Das Himmelreich ist nur, indem es ausgestreut, zu den Menschen gebracht, für sie fruchtbar gemacht wird. Es ist an die missionarische Sendung gebunden.
Vielleicht hat auch Matthäus diese Dynamik gespürt, der da mit seinem Gleichnis von den Talenten auf den Weg bringt – und auch gespürt, welches Potential an inhaltlich-theologischem Streit er damit losbindet. Und so folgt ganz logisch im Matthäusevangelium die Rede vom Weltgericht. Jetzt wird die entscheidende, und alle glaubenden Gruppen umfassende Bestimmung veröffentlicht: Das Himmelreich ist da, wo Hungernde zu essen bekommen, Nackte begleitet, Kranke und Gefangene besucht, Obdachlose aufgenommen werden. Das Himmelreich, so Mt 25, 31-46) ist nicht an ausdifferenzierte religiöse Bekenntnisse gebunden – die sich, so Nostra Aetate, durchaus gegenseitig wiedersprechen können. Im Gleichnis von den Talenten ist es ausschließlich die Zugehörigkeit zu dem einen Herrn, die vorausgesetzt wird. Die Rede vom Weltgericht geht noch weiter und spricht sogar davon, dass alle Völker und damit alle Religionen, noch über die abrahamitische Linie hinaus, versammelt werden.
Und noch einen Hinweis gibt das Gleichnis von den Talenten. Der dritte Diener wird als schlecht und „oknere“ bezeichnet. Dieses Wort wurde bisher als „faul“ übersetzt. Die Exegeten stimmen aber überein, dass darin mehr die Bedeutung von „verängstigt“ zu lesen ist. Der dritte Diener sagt es von sich selbst und der Herr bestätigt es: sein Problem ist die Angst vor Gott. So warnt das Gleichnis also auch: Wer sich vor Gott fürchtet, wer um sich selbst und den ihm anvertrauten Glauben fürchtet, wer sich deshalb auf sich selbst beschränkt, wer das Wort Gottes für sich behält, weil es doch so heilig ist, wer nur den eigenen Kirchturm umkreist, wer nicht nach außen handelt, verfehlt den Auftrag Gottes. So hilft das Gleichnis von den Talenten über das geschriebene Gleichnis hinaus zu wachsen: Die Gefahr ist für alle Glaubenden zu jeder Zeit real. Alle stehen immer in der Versuchung, Grenzen zu ziehen und das Himmelreich einhegen zu wollen. Diese Gefahr kann jedoch nicht auf eine gegnerische Gruppe – und schon gar nicht auf die Juden – projiziert werden.
Jede Verkündigung, die die Zahl derer wachsen lässt, die nach den Worten des Weltgerichts handeln, die mithilft, dass mehr Menschen in die Sendung Gottes eintreten, dass mehr Glaubende ihre göttliche Dynamis nutzen, um das Himmelreich wirksam werden zu lassen, hat es verdient, dass ihre Träger „treu und tüchtig“ genannt werden. Für den Hungernden – und folgt man Mt 25 wahrscheinlich auch für Gott – jedoch ist es nämlich erst einmal egal, ob ein Pharisäer, ein Täufer, ein Christ – ein Jude, ein Muslim, ein Alevit, ein Bahai oder ein anderer Mensch guten Willens ihm zu essen gibt: Das habt ihr mir getan, sagt der Herr des Weltgerichts (Mt 25,40). Nehmt teil an der Freude eures Herrn, ergänzt das Gleichnis von den Talenten (Mt 25,21).