Es geht um Freiheit, um Freiheit, die mehr ist, als die Freiheit zu wählen: Eine Freiheit von einengenden Prägungen und Impulsen. Es geht um Partizipation: Teilzunehmen an dem Auftrag, den Gott sich für die Welt und die Menschen gegeben hat.
Engagierte Indifferenz
Text: Peter Hundertmark – Photo: oldifan/pixabay.com
Indifferenz ist ein höchst engagierter Zustand. Selten ist der Bedeutungsunterschied zwischen der Alltagssprache und einer Fachsprache so groß. Während alltagssprachlich „indifferent“ mit „egal“ gleichzusetzen ist, bedeutet „indifferent“ im theologisch-spirituellen Sprachgebrauch die volle Verfügbarkeit für die Mitwirkung an Gottes Arbeit zur Rettung und Vollendung der Welt.
Dahinter steht eine spezifisch Welt- und Gotterfahrung. Gott wird erlebt und geglaubt, als die personale Kraft, die immer am Werk ist. Er schafft die Welt, erhält sie und arbeitet an ihrer Transformation. Die Aufgabe, die Gott sich selbst gegeben hat, ist die Rettung der Menschen und der ganzen Schöpfung aus der Trennung, ist der umfassende Friede, die tiefste Versöhnung und Gemeinschaft. In Jesus Christus zeigt Gott sich jedoch als derjenige, der dieses Werk nicht durch Macht und äußere Einflussnahme, sondern durch Menschwerdung, Überzeugung, Gewaltlosigkeit und Hingabe vollbringen wird. Friede wird friedlich erworben, Liebe durch Liebe bewirkt, Erlösung durch Vergebung. Gott wirkt auch nicht direkt, sondern bis in die Menschwerdung hinein über andere Ursachen und Kräfte in die Welt. Und er beteiligt Menschen an seinem Auftrag. Das ist der innere Kern der Nachfolge Jesu: Teilnehmen am Auftrag, den Gott sich selbst gegeben hat, und es in seiner Weise tun: durch Menschwerdung, Überzeugung und Hingabe. Dafür gibt es von Gott her für jeden Menschen eine persönliche Berufung und die Möglichkeit individueller Charismen, Gaben des Heiligen Geistes für die Mitwirkung an Gottes Werk. Menschliches Leben gelingt in der letzten existentiellen Tiefe und über das irdische Leben hinaus, wenn die Frau oder der Mann ihre/seine Berufung findet und zu leben sucht, durch die sie/er mit der göttlichen Dynamik der Transformation, Heilung, Rettung und Erlösung verbunden ist. Diese Kräfte und Dynamiken gilt es jedoch, ständig neu auszubalancieren und fortwährend ihre Passung und Bindung nach zu justieren. In traditioneller religiöser Sprache heißt dieser Prozess: den Willen Gottes suchen. Biblisch: Wenn ihr mein Wort hört und es tut, bleibt ihr in mir und ich in euch.
Indifferenz ist der Zustand, in dem ein Mensch in dem höchsten menschenmöglichen Sinn frei für diese Teilnahme am Auftrag Gottes, für seine persönliche Berufung und damit für ein gelingendes Leben ist. Aber eben nicht, und darin unterscheidet sich dieser christliche Weg radikal vom buddhistischen, indem er sich von allen Bedürfnissen, Emotionen, Beziehungen losgesagt hat, sondern indem er ganz und immer noch mehr Mensch geworden ist, indem er alle diese Bedürfnisse in sich kennengelernt, entfaltet und integriert hat. Indifferent zu sein, ist hoch engagiert und tief emotional. In der Haltung der Indifferenz dominieren diese Bedürfnisse, Emotionen, Beziehungen, Bindungen, Erfahrung jedoch ihn/sie nicht, bestimmen nicht sein/ihr Handeln, sein/ihren Lebensplan. Sie sind vielmehr Mittel, damit er/sie seiner/ihrer Berufung folgen und in dieser Weise am Auftrag Gottes mitwirken kann. Sie geben die Farbe, die Tiefe, die Existentialität, die Kraft und Energie zu dieser Teilhabe.
Dabei können drei Dimensionen unterschieden werden. Die erste ist die Schwebe der Neutralität. Eine Frage, eine Problemstellung wird nicht einfach aus dem Gelernten, aus der gewachsenen Beziehungen und Bindungen, aus vorgefassten Meinungen und schnellen Urteilen heraus bearbeitet. Neutralität als Teil der Indifferenz meint, dass er/sie nicht Einflussgruppen, Mächtigen, Einflüsterern, partikularen Interessen folgt, auch und insbesondere nicht den eigenen partikularen Interessen, sondern den Blick immer auf das Universale, das für alle Beteiligte Bessere, den Friedens- und Rettungswillen Gottes gerichtet hält. Indifferente Neutralität meint nichts anderes als die Freiheit, ganz sach-, situations- und personengerecht zu handeln. Da es jedoch keinen Moment im Leben eines Menschen gibt, in der er frei wäre von Bindungen, Interessen, Vorurteilen… kann er/sie diese Form der Indifferenz nur anstreben, in dem er/sie sich möglichst vieler dieser Anhaftungen bewusst wird und lernt, sie offen zu legen, in ihrer Dynamik zu relativieren und allen am Geschehen Beteiligten zur Verfügung zu stellen. Weiter braucht es ein Mehr an Bereitschaft, den/die anderen wirklich zu hören, zu sehen und ihre Motive und Beiträge für wahr zu nehmen, indem er/sie vorauszusetzen lernt, dass alle aus für sie guten, ihren Werten entsprechenden Strebungen heraus zu handeln versuchen. Indifferent wird ein Mensch, indem er bewusster Mensch und indem er achtsamer Mitmensch wird.
Die zweite Dimension der Indifferenz ist die Freiheit des Geistes, die Haltung, die bereit und fähig ist, in jedem Moment die eigene Auswahl der Mittel und Wege aufzugeben, wenn sich zeigt, dass sich die Umstände geändert haben und das Gewählte und Bewährte eben nicht mehr dazu dient, diese Justierung auf den Willen Gottes und das Teilnehmen am Auftrag Gottes zu gewährleisten. Freiheit des Geistes heißt also nicht nur die eigenen Bedürfnisse und Interessen zu kennen und zu relativieren, sondern auch die eigenen Entscheidungen. Dabei ist zu beachten, dass manche Entscheidungen, weil sie zu Verantwortung für andere Menschen geführt haben, nicht einfach revidiert werden können. Welche das sind, wird in jeder Epoche und Kultur neu ausdiskutiert. Die Freiheit des Geistes endet also an der Verantwortung für andere. Wie jemand dieser Verantwortung gerecht wird, kann jedoch bereits wieder der Indifferenz unterliegen. Umkehr, die aus der Freiheit des Geistes entspringt, fühlt sich immer gott-, selbst- und menschennah an. Die große Perspektive der Mitwirkung an dieser Bewegung hin auf Frieden, Versöhnung, Erlösung, Rettung und Gemeinschaft und die personale Zugewinn gelingenden Lebens ist dabei jeder Richtungsänderung aus echter Indifferenz abzuspüren und unterscheidet sie von Unstetigkeit und Beliebigkeit.
Die dritte Dimension der Indifferenz ist ein Mehr an Freiheit dort, wo der Mensch mit Kräften in sich konfrontiert ist, die seinem Willen entzogen sind. Solche Kräfte sind die triebgesteuerten Reaktionen, die Emotionen, Sympathien und Antipathien, Trigger, Reaktionen auf Gerüche, milieugebundene ästhetische Präferenzen, durch frühkindliche Sozialisation verankerte kulturelle Prägungen, psychische Introjekte… Spätestens mit dieser Dimension verlässt die Indifferenz das Menschenmögliche. Kein Mann, keine Frau kann sich in diesem Sinne indifferent machen. Er/sie kann nur durch das Wirken des Geistes Gottes nach und nach in diese Indifferenz hineingelebt werden. Beitragen kann der Mensch durch eine lange Schulung, die eigenen affektiven Bindungen differenziert kennen zu lernen. Beitragen kann er auch ein Einüben, zwischen Reiz und Reaktion immer öfter eine Unterbrechung zu setzen. In der Lücke zwischen Reiz und Reaktion kann der Geist Gottes die Indifferenz erblühen lassen, die auch dort nach dem Willen Gottes und der Partizipation an Gottes Auftrag zu fragen weiß, wo der Mensch erst mal selbst keine Verfügungsgewalt und aktiven Freiheitsgrade mehr hat.
Vielleicht ist es diese letzte Freiheit in letzter Bindung an die Mitwirkung mit Christus die Paulus mit seinem berühmten Wort aus dem 14. Kapitel des Römerbriefes meint: „Keiner von uns lebt sich selber, und keiner stirbt sich selber: Leben wir, so leben wir dem Herrn, sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Ob wir leben oder ob wir sterben, wir gehören dem Herrn.“ Oder was die johanneische Theologie mit „in Christus bleiben“ auszudrücken sucht. Indifferent ist, wer sich an seiner Ausrichtung auf den Auftrag Gottes, auf das universale Gute, auf seine persönliche Berufung und dadurch auf ein wirklich gelingendes Leben weder durch Emotionen, noch durch Optionen, noch durch Interessen hindern zu lassen versucht.
Indifferenz ist Übung, vor allem aber Gnade.