Tradierte Glaubenssprache und -bildwelt ist für die Mehrheit der Zeitgenossen nicht anschlussfähig. Das Evangelium ist für sie stumm. Heutige Evangelist/innen müssen wie Ethnolog/innen andere Kultur von innen her zu erschließen lernen, um das Evangelium neu zum ersten Mal zu sagen.

Ethno-Evangelisten

Text: Peter Hundertmark – Photo: confused_me/pixabay.com

Völkerkunde/Ethnologie ist die Wissenschaft, die den Menschen aus seinen kulturellen Bezügen heraus in seiner Verschiedenheit zu beschreiben sucht. Sie bemüht sich dabei um eine Perspektive von innen, das heißt, sie versucht, die innere Wirklichkeit einer Kultur und ihrer Mitglieder zu würdigen, zu verstehen und zu erklären. Ethnologen setzen sich einer ihnen fremden Kultur aus, beobachten die Wechselwirkungen, die dann entstehen und entwickeln daraus ein Verstehen und eine Brücke der Verständigung.

Der Ethnologe stand damit in den Anfängen der Wissenschaft in scharfer Konkurrenz und Auseinandersetzung mit dem europäischen Missionar. Auch dieser war darauf aus, die Kultur zu verstehen, in die er geschickt wurde. Aber der Missionar des 19. Jahrhunderts suchte nach Anknüpfungspunkten für seine christliche Botschaft, die er in er Regel als vorgegeben und abgeschlossen verstand. Er hatte vornehmlich ein Vermittlungsproblem. Im schlechtesten Fall bemühten sich die Missionare, die fremde Kultur zu europäisieren, wodurch sie als funktionierende Lebensgestalt zerstört wurde.

Natürlich ist dieser Gegensatz zu holzschnittartig stilisiert und vernachlässigt die vielen Graubereiche und guten Gegenbeispiele. Aber er soll auch nicht historisch erklären, sondern eine typologische Verstehenshilfe schaffen. Wieder-Erstevangelisierung der Menschen, die große Herausforderung für Kirche in Europa heute, hat theoretisch beide Modell-Optionen: die letztlich gewaltförmige Mission des 19. Jahrhunderts, die nach Vermittlung fragt und Inhalte monologisch durchzusetzen sucht, oder die sich aussetzende, sich und die eigenen Gewissheiten dialogisch riskierende Ethnologie.

Verlassen die Evangelist/innen des 21. Jahrhunderts die Kirchen-Insel und machen sich auf dem Kontinent der Säkularität auf den Weg, begegnen sie Menschen, die nicht kirchisch sprechen; Menschen, die ganz fremde Riten pflegen, nach andern Werten leben, eine andere Geschichte haben und andere Geschichten erzählen. Gehen sie in der Haltung des Ethnologen, lassen sie sich von dieser rauen Fremdheit in Frage stellen – als Menschen, als Glaubende, als Evangelist/innen. Ihr Evangelium wird ihnen unsicher, unsagbar. Auch ihr Glaube „funktioniert“ in dieser neuen Welt nicht. Er sagt nichts mehr. Sie riskieren den Boden unter den Füßen und verlieren ihn auch.

Es bleibt ihnen nur, sich unter die Kultur der Säkularität unterzuordnen und lange darunter zu bleiben. Diese Bedrängnis bewirkt unvermeidlich „Hypomone“ – ein Darunterbleiben, griechisch für Geduld und ein Zentralwort paulinischer Spiritualität. „Geduld aber bewirkt Bewährung, Bewährung Hoffnung. Die Hoffnung aber lässt nicht zugrunde gehen; denn die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ist.“ (Röm 5,4f) Der Geist Gottes aber ist nicht nur in den Herzen der Evangelist/innen, er ist auch in jeder menschlichen Kultur am Werk. Zu erspüren ist er aber nur in langer, achtsamer, kontemplativer Geduld, die ehrfurchtsvoll die Fremdheit von innen zu würdigen sucht. Lange, vielleicht lebenslang, aber ist es ein Balancieren auf dem unsichtbaren Seil der Hoffnung.

Nach und nach werden die Hoffnungen des Kontinents der Säkularität auch die Hoffnungen der Evangelist/innen, die Ängste der Säkularen ihre Ängste, deren Freuden ihre Freuden. Erst dann öffnet sich in ihnen der Raum, Gott und sein Evangelium neu zu sagen: Gott dieser Hoffnungen. Gott dieser Ängste. Gott dieser Freuden.

Es gibt keine Übersetzungs-Brücke. Nur im Herzen der eigenen Gottsuche können die Evangelist/innen zu spüren suchen, ob der Gott dieser Hoffnungen auch der Gott der Hoffnungen Jesu ist. Vor allem: wie er es ist. Der Geist Gottes tritt in ihnen mit sich selbst in Resonanz und lässt die Glaubens-Kultur, die sie verlassen haben und die Kultur, in der sie nun bleiben, miteinander entweder wohl klingen – oder eben dissonant schrillen. Die Liebe Gottes findet sich selbst von beiden Seiten. Das Evangelium wird in den Herzen der Evangelist/innen und aus ihren Fremdheitsresonanzen neu geboren.

Aus Resonanzen, Geist, Liebe und Friede sprosst dann vielleicht mitten auf dem Kontinent der Säkularität eine neue Gefährtenschaft Jesu und ein gewandelter Glaube. Irgendwann einmal werden sich diese Gefährt/innen und die Gefährt/innen der Kirchen-Insel begegnen. Ein spannender Moment: Werden sie sich erkennen? Werden sie sich anerkennen?

 

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