Denkt man über diese Bitte des Vaterunsers nach, kommt man unweigerlich in ziemliche Erklärungsnot. Ist es denkbar, dass Gott uns aktiv in Versuchung führt, uns also einer willentlich einer Gefahr aussetzt und wir müssen ihn durch unser Beten davon abhalten?
Führe uns nicht in Versuchung
Text: Peter Hundertmark – Photo: StockSnap/pixabay.com
Führe uns nicht in Versuchung: „Ein liebender Vater tut so etwas nicht“, sagt Papst Franziskus und stellt sich damit vor die französischen Bischöfe, die einen veränderten Text des Vaterunsers verbindlich eingeführt haben. „Lass uns nicht in Versuchung geraten“. Diese Formulierung stimmt für unser Empfinden heute mehr mit dem Ganzen des Glaubens und einem durch Jesus vereindeutigten Gottesbild eines liebenden Vaters überein.
Aber natürlich ist da ein Textproblem. „Führe uns nicht in Versuchung“ geht, wie viele Exegeten überzeugt sind, auf Jesus oder sein direktes Umfeld zurück. Der Text des Vaterunsers wird in den Evangelien mit maximaler Autorität eingeführt. Am Text selbst ist nichts zu rütteln. Es ist eine aktive Formulierung.
Vielleicht ergibt sich aus den ersten Bitten des Gebets eine Spur. Norbert Lohfink glaubt zeigen zu können, dass Jesus damit für ihn relevante prophetische Traditionen aufgreift und in einen knappen Gebetstext zusammenführt. Das würde einer biblischen Vorgehensweise folgen, die durch ein Zitat immer den ganzen Text beziehungsweise einen ganzen Traditionsstrang mit präsent denkt. Berühmtestes Beispiel dafür ist das Zitat des am Kreuz sterbenden Jesus: „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“ Für den/die biblisch geschulten Hörer/in war damit der ganze Psalm 22 einschließlich seiner positiven Wende als letztes Gebet Jesu eingeführt.
Folgt man dieser Spur, stellt sich also die Frage, ob es einen biblischen Text gibt, in dem Gott Menschen aktiv in Versuchung führt. Infrage kommen mehrere Traditionen. In der Exodustradition werden Schwierigkeiten auf der Wüstenwanderung immer wieder als „Test“ Gottes an seinem Volk verstanden. Explizit wird ein solches Szenario in der Rahmenerzählung des Ijob-Buches aufgebaut. Nur dort kommt zudem „der Böse“ vor, der auch in der zweiten Hälfte der Bitte auftaucht. Lässt sich die Bitte also vom Ijob-Buch her erschließen? Dort gibt Gott dem Satan freie Hand, gegen Ijob vorzugehen und zu überprüfen, ob dessen Frömmigkeit nur „schön-Wetter-tauglich“ ist.
Der schwer geschlagene Ijob klagt, er klagt Gott an. Die Erfahrung Israels ermutigt ihn dazu. Gott muss es aushalten und hält es aus, wenn ein Mensch ihn angesichts des Leides so hart angeht. Er hält es sogar aus, wenn ihm unter dem Druck der Katastrophe böse Absicht unterstellt wird. Er lässt sich sogar verdächtigen, Menschen aktiv in Versuchung zu führen. Auch wenn ein liebender Vater das nicht tut. Aber er setzt sich dem Vorwurf aus.
Ijob klagt, aber er stellt seinen Glauben nicht in Frage. Die drei Freunde versuchen dann, ihn von einem Tun-Ergehens-Zusammenhang zu überzeugen: Wenn es dir jetzt schlecht geht, dann musst du gesündigt haben. Sonst würde Gott dich nicht strafen… lautet ihr Argument, mit dem sie einer klassischen theologischen Linie der hebräischen Bibel folgen. Ijob beharrt aber auf seiner Gerechtigkeit. In einem kausalen Denken bleibt dann nur eine einzige weitere Möglichkeit: Das Problem muss auf Gottes Seite liegen. Er ist vielleicht doch nicht gut oder aber unfähig oder… Der später auftretende vierte Freund führt diese Denkmöglichkeit ein, um die angestaute Theodizeefrage zu lösen. Ijob aber widerspricht erneut. Gott ist gut und in ihm ist keine Bosheit und kein Versagen. Damit ist ein Patt entstanden: Ijob geht es schlecht. Weder er selbst, noch Gott, sind schuld.
Und darin geschieht die eigentliche Gotteserfahrung des Ijob: „Ich kannte dich nur vom Hörensagen. Jetzt aber habe ich dich selbst gesehen.“ Mit der Anerkennung der Größe und Güte Gottes – ohne eine eigene Schuld einzuräumen – besteht Ijob die Versuchung und findet zu einem tiefen, reifen, erwachsenen Glauben.
Von daher ergibt sich eine Deutungsmöglichkeit auch für die Vaterunser-Bitte. Die gemeinte Versuchung könnte es sein, die Frage nach dem Leid entweder zu Lasten des Leidenden oder zu Lasten Gottes lösen zu wollen. Jeder hat diese psychologisch nur zu verständlichen Sätze im Ohr: „Warum tut mir Gott das an?“ „So ein schlimmes Schicksal hat er nicht verdient.“
Martin Luther hat diesen gleichen Impuls gespürt, als er die klassische Stufung: oratio (mündliches Gebet), meditatio (Aneignung), contemplatio (Schau) in: oratio, meditatio, tentatio (Versuchung) verändert. Für ihn ist es die höchste Stufe der Gottverbundenheit, in der Anfechtung durch das Schicksal nicht an Gottes Güte und der Rechtfertigung des Glaubenden irre zu werden.
Was lässt sich aus der Hypothese, Jesus habe mit dieser Formulierung die theologische Position des Ijob-Buches anklingen lassen wollen, für die Vaterunser-Bitte gewinnen? Es wäre dann eine Bitte darum, sich von der verführerisch einfachen Logik des Tun-Ergehens-Zusammenhangs frei halten zu können. Eben nicht, wenn ein schweres Schicksal seinen Lauf nimmt, an sich selbst oder an Gott zu verzweifeln und einem von beiden die Schuld zuzuweisen. Es ist dann die Bitte um einen reifen, erwachsenen Glauben der die Theodizee-Frage in der Schwebe hält und um eine eigene, existentielle, leiderprobte Gotteserfahrung.
„Führe uns nicht in Versuchung“ heißt dann: „Steh uns bei, dass wir nicht unter Leid-Stress in die zu einfachen theologischen Lösungen zurückfallen“, „Hilf uns, an einem an Jesus geschulten, erwachsenen Glauben festzuhalten“. Hier wird dann auch wieder das Zitat von Ps 22 am Kreuz relevant. Denn dadurch, dass er diesen Psalm in seiner ganzen Textgestalt heranzieht, um seine Situation betend ins Wort zu bringen und zu deuten, hält der am Kreuz Sterbende genau diese Balance. Er steht in dieser Extremsituation zu Gott und zu sich – und widersteht damit allen Deutungen, die ihn unter die Verbrecher rechnen und allen Sticheleien, Gott sei wohl doch nicht so mächtig, dass er ihn vom Kreuz retten könne.
„Hilf uns, an einem an Jesus geschulten Glauben fest zu halten, wenn unser Leben bedroht ist.“ „Hilf uns die Theodizeefrage zu übersteigen und darin tiefste, existentielle Gotteserfahrung zu erleben.“ Dann schließt sich auch, wieder im Verweis auf das Ijob-Buch, die Bitte um Erlösung von dem Bösen, der eben genau diese spirituelle Reife in Frage stellen und die Menschen aus der Erfahrung des lebendigen Gottes drängen will, folgerichtig an.
„Führe uns nicht in Versuchung“. Nein, ein liebender Vater tut so etwas nicht. Bitten wir jedoch mit diesen Worten darum, dass Gott uns davor bewahrt, an ihm oder an uns zu verzweifeln, so ist diese Bitte hoch relevant und spätestens im Angesicht des eigenen Todes entscheidend.