Anfangs deutlich irritiert, entdecken die christlichen Kirche seit einigen Jahren, dass sie attraktiv sind – attraktiv für Menschen, die aus ihrer Heimat geflüchtet sind. Es entstehen seelsorgerliche Kontakte und manchmal auch die Frage nach geistlicher Begleitung. Wie aber geht das?

 

Geflüchtete geistlich begleiten

Text: Brigitte Schneider – Photo: Thieme/pixabay.com

Beginnen möchte ich, auf eine vielleicht ungewöhnliche Art, mit Platons Höhlengleichnis. Es handelt von Menschen, die nur die Schatten der wahren Gestalten sehen. Sie sitzen in einer Höhle und können nur in deren Tiefe schauen. Der Blick zum Eingang der Höhle ist ihnen verwehrt. Sie sehen nicht die eigentlichen Gestalten, die an der Höhle vorbeiziehen, sondern nur deren Schatten. Daher halten sie diese Schatten dann letztlich für die einzig wahren Wesen. Was notwendig wäre, um diese lebendigen Wesen selbst wahrzunehmen, ein Wechsel der Blickrichtung, hin zum Licht. Doch dazu sind die Höhlenbewohner nicht frei.

Ich möchte versuchen, dieses Gleichnis mit Ignatius von Loyolas Erkenntnis auszulegen: „Die meisten Menschen ahnen nicht, was Gott aus ihnen machen würde, wenn sie sich ihm nur zur Verfügung stellen würden“. Durch Veränderung der Blickrichtung wird uns das Licht Gottes, seine barmherzige Liebe geschenkt. Sie richtet uns auf, indem sie unsere Hände befreit. Wir haben es in unserer Hand, unsere Denkgewohnheiten und damit verbunden unsere Gefühls- und Lebensgewohnheiten anzusehen und zu ändern.

 

Stufen des Glaubens

Doch wer sind die Schatten für mich? Wer bin ich für diese Schatten? Sie sind für mich die Schatten der Vorstellung, der Illusion. Entwicklung und Wegbegleitung heißt für mich, diesen zu entsagen und die Wirklichkeit so wahrzunehmen und anzunehmen, wie sie ist. Für mich spiegelt dieser Entwicklungsschritt die Glaubenssstufe, die James W. Fowler  „intuitiv-projektiven Glauben“ nennt, typisch für das Kind im Kindergartenalter. Es entsteht die Einbildungskraft, Erfahrungen in Bildern zur Verdichtung zusammenzuführen. Geist, Wahrheit und Welt sind noch nicht klar differenziert. Hier erwacht die Suche, die Sehnsucht nach Begegnung mit der Wirklichkeit. Die Sehnsucht sich mit sich selbst auseinanderzusetzen. Diese Suchbewegung zum Eingang der Höhle vermag unser Leben verwandeln. Aus dem Schatten der bisherigen Tradition erwächst eine zuvor nie gekannte Freiheit. Gewähren wir Gottes Geist Einlass in unser Innerstes, so dürfen wir auf Loslösung der unfreien Hände hoffen: Glaube und Erkenntnis dürfen, nicht nur in der äußeren Welt, sondern tief in unsere innere Höhlenwelt Einzug halten. Gott in seiner Gegenwart umarmt uns hier durch die Wirklichkeit. Verblassen darf die Vorstellung, die sich aus dem Bild der Schatten nährt. Die Wahrheit der Wirklichkeit darf ins verwandelnde Licht.

Paulus schreibt: „Jetzt schauen wir in einen Spiegel und sehen nur rätselhafte Umrisse, dann aber schauen wir von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich unvollkommen, dann aber werde ich durch und durch erkennen, so wie ich auch durch und durch erkannt worden bin.“ (1. Korinther 13.12) Dann spüren wir das erfüllte christliche Leben mit seiner ganzen Freiheit. Freiheit nicht nur für mich selbst, sondern Freiheit für in Verwobenheit aller Dimensionen meiner Beziehungen.  Wichtig ist mir, den Blick auf die Freiheit im Geiste Gottes zu lenken, die uns das Evangelium schenkt. Im Johannesevangelium heißt es: „Die Wahrheit werdet ihr erkennen und die Wahrheit wird euch frei machen.“ (Johannes 8, 32)

Eine afghanische Frau (30 Jahre) drückte es so aus: „Christus gibt mir die Freiheit, erstmals im Leben eigene Entscheidungen zu treffen.“  Ihre erste Entscheidung war sich für Christus frei zu entscheiden. Sie spürte diese Freiheit, ihr Leben selbst in der Hand zu haben. Sie lebte zuvor unter Vormundschaft ihres Mannes, mit dem sie im Lebensalter von 12 Jahren zwangsverheiratet wurde. In ihrem bisherigen Leben erlebte sie Knechtschaft.

Einerseits ist uns diese Freiheit geschenkt, andererseits bedarf es des Wachsens, dieses Geschenk überhaupt wahrzunehmen, anzunehmen und mit umgehen zu erlernen und zu erspüren. Aber es darf nicht unerwähnt bleiben, dass ich oft den Eindruck hatte, dass die unfreien Hände, die fesselnden alten Lebensmuster und Glaubensätze, nicht einfach  abzulegen sind.

 

Der Beginn des Weges

Im Advent 2015 standen plötzlich schutzsuchende Flüchtlinge, Männer, Frauen und Kinder, aus dem Iran und Afghanistan in unserem Gemeindefoyer und nahmen am Sonntagsgottesdienst teil. Teils waren sie bereits in ihrer Heimat mit dem christlichen Glauben in Berührung gekommen, teils hatten sie nur einfach gehört: „Christen sind gute Menschen“.

Was macht uns Christen als gute Menschen aus? Um diese Frage mit den Geflüchteten anzugehen, muss sie im Spannungsfeld der bisherigen Religionserfahrungen reflektiert werden. Ist es nicht Gott, der uns zur Freiheit berufen hat und hat uns somit die Gotteskindschaft geschenkt? Ein Gott, der uns dient, der lebendig wurde und sich keine Religionssklaven hält? Aus vielen aufbrechenden Fragen und persönlichen Begegnungen wuchs der Bedarf tiefer in den christlichen Glauben einzutauchen. Wie ist das? Mit der Taufe werde ich zu einem neuen Menschen verwandelt und dann wird alles gut? Gott ist bei mir und schützt mich? Doch ist es so einfach? Wie erfahren wir unseren Glauben?

Um Antworten zu finden wurden Glaubenskurse gewünscht und Bibeln in persischer Übersetzung. Eine kleine Exilgemeinde wuchs, die sich gegenseitig half, Antworten zu finden. Die Stammgemeinde verstand zuerst die Welt nicht mehr. Christentum ist doch unseres, was wollen die „Neuen“ hier überhaupt? Matthäus erzählt am Ende seines Evangeliums davon, alle zu Jüngern Jesu zu machen. Heißt das, alle zu taufen? Oder eröffnet sich hier die Freiheit, die Ethik unseres Glaubens im Namen Jesu Christi in die Welt zu bringen, ohne dass gleich alle „Schutzsuchenden“ zu Christen werden.

In diesem Spannungsfeld begleitete ich mit ersten zaghaften geistlichen Gesprächen. Wohl zu Beginn noch in einer Mischung Seelsorge, Glaubenskurs und diakonischem Handeln. Mit der Zeit gab es Nachfrage seitens der iranischen „Gemeindeglieder“ nach „Wie geht es mir mit diesem Gott überhaupt?“ „Erfüllt ER überhaupt meine Wünsche, was muss ich tun, dass ER mich liebt?“ Aus diesem Kontext heraus werde ich meinen bisher erfahrenen Weg in Sprache fassen.

 

Beispiele aus den Gesprächen

Schutz und Geborgenheit und gleichzeitig Trost – wie geht das im Evangelium? Sehr berührt hat mich, dass Menschen – ohne spezielle Anleitung, kulturunabhängig – die Betrachtung der heiligen Schrift von sich aus entdecken. Es fühlt sich an, als ob sich die Seele eines Wortes speziell für einen Menschen öffnen würde. Sozusagen ein Schlüsselwort als Zugang zu seinem Leben und zu Gott.

Ich mag von einem Gespräch erzählen. Ein iranischer Mann (43, verh., 3 Kinder) kam auf mich zu und wollte mit mir reden. Er hatte das Gleichnis vom Sämann gelesen und lange darüber nachgedacht. Es ging um die Saat, er verstand zuerst nicht, was das ist. Er kannte die Aussaat zum Wachstum der Pflanzen überhaupt nicht. Als er begriff, um was es ging, konnte er sofort die Verbindung zur Liebe herstellen. Er sagte, dass es wie mit der Liebe ist: Man sät sie aus, aber sie geht nicht immer auf. Ich frage ihn, wie er das gerade erlebe, wenn er das so sagt. Er wurde daraufhin traurig und erzählte von seiner Sehnsucht nach seiner Familie, die zurückblieb. Er erzählte weinend davon, wie sehr er sie vermisste und sich sorgt. Seine Sehnsucht und sein Leiden mit zu erfahren, war zweifelsfrei grausam. Doch so recht begriffen habe ich es nicht gleich, wie er das mit dem Sämann und der Saat in Beziehung brachte.

Daher blieb eine kleine Weile Stille zwischen uns. Dann sagte er, dass der Sämann die Saat auswirft. Sie wächst ohne ihn, ohne dass er dabei ist. So erginge es ihm, dass er seine Liebe auf fruchtbaren Boden ausgesät hat. Seine Kinder, die Saat, zu Hause wachsen nun ohne ihn auf. Obgleich er sie nicht vor Sturm und Trockenheit beschützen kann. Die ganze Zeit hatte er sich Sorgen gemacht, sie im Stich gelassen zu haben. Doch sieht er, dass die Saat auf fruchtbarem Boden von alleine wächst. Und Gott seine schützende Hand über sie hält. Doch die Saat auf dem Felsen stimmt ihn noch trauriger. Er glaubt an die Liebe Gottes, doch hier, in der Fremde, erlebe er oft Ablehnung, auch unter denen, die ebenso an die Liebe Gottes glauben. Auf dem glatten Felsen rutscht die Saat ab und wurzelt nicht.

Dann folgte Stille. Diese tiefe Sehnsucht nach Gemeinschaft, Heimat und Nähe stieg empor. Er wollte, wie jeder von uns, angenommen und aufgenommen sein. Seine schmerzliche Verlusterfahrung war tief spürbar.  Ich versuchte, ihm einen Blickwechsel anzubieten. Da erwiderte er, dass es ja vielleicht eine Felsspalte gibt, in der doch Wurzeln wachsen können. Das sei seine Hoffnung, dass  die Menschen hier ihn doch mögen, es nur noch nicht zeigen können. „Wenn ich auf Gott schaue, merke ich, dass er Geduld hat. Ansonsten hätte er nicht auf dem Felsen ausgesät.“ Und er fasste sich mit der Hand auf die Herzregion und sagte, dann wird es warm und ich spüre meine Familie, die weit weg ist.

Mir wurde bewusst, wie wir beide seine momentane Situation aushalten mussten. Indem er sich geöffnet hatte veränderte sich für ihn die Blickrichtung. Es war die Hoffnung, an die er sich klammern konnte. Dennoch konnten wir nichts unternehmen, diese Familie zusammen zu führen. Es ging darum, die Situation so anzunehmen. Dadurch, dass er die Liebe und Wärme in der Herzregion plötzlich spüren konnte, wusste er sich getragen. Getragen in der Trosterfahrung. Ich spürte Dankbarkeit für die Kraft der Stille, in der ich mich habe tragen lassen. In solch Situationen zerreißt es mir auch das Herz.

In diesem ersten Gespräch wird religiöse Identität offenbar, die eine erwachsene Reife und Vertrauen in Gott und eigenes Zutrauen einschließt. Die momentane Lebensgeschichte kann so angenommen werden, auch wenn diese momentan nicht „wunschgemäß“ verläuft. „Ich nehme meinen Gott an, so wie er sich in meinem Leben zeigt“. Er ist mein Partner und Freund und geht mit und lässt sich durch sein persönliches Wort aus dem Evangelium an Leib und Seele erfahrbar machen und es zeigt sich, dass das Wirken Gottes mit dem ganzen Menschen zu tun hat.

 

Erfahrungen mit Trauma und Verlustängsten

Eine andere Frage wurde an mich herangetragen: Was muss ich tun, damit mich Gott erhört? Der nach Begleitung Fragende (26 Jahre, Iraner) begann. Ich mache alles, was in der Bibel steht. Ich bin getauft. Lese fast jeden Tag in der Bibel. Ich bete und bin gehorsam. Ich halte die Gebote ein. Aber dennoch erfüllt Gott mir meinen Wunsch nach einer Wohnung und einer Arbeitsstelle nicht. Ich bete jeden Tag dafür. Beim Hören war ich von seinem Glaubensleben erstmal erschlagen. Sein Klammern und Halt suchen, seine Enttäuschung auf Belohnung war offensichtlich. Ich spürte seine Verlustangst und damit verbunden den Verlust seiner sicheren Bindung. Die Ambivalenz Nähe-Distanz machte ihm zu schaffen.

Später erzählte er davon, dass er das Gefühl hatte, nichts komme irgendwo an. Nichts bewege sich, er spüre keine Veränderung. Er forderte mich regelrecht auf, ihm zu sagen, was er tun soll.  Er suchte nach einer Gebrauchsanleitung. Er war traditionelle Unterordnung gewohnt. Das Gerüst der Regeln schien ihm wohl in unserem Freiheitsdenken abhandengekommen. Seine Schutzmauer fiel in sich zusammen. Plötzlich gab es im Glaubensleben nicht mehr nur „erlaubt“ und „verboten“, wie er es bisher kannte. Mit diesem Gott begegnete ihm überraschend Beziehung – eine wechselseitige Beziehung. Dieser Gott fordert ihn heraus, Entscheidungen eigenverantwortlich zu treffen und Verantwortung zu übernehmen.

Genauer hingeschaut diente hier die geistliche Begleitung dazu, ihn aus dieser unreifen und abhängigen Beziehung, heilsam ins „frei werden“ zu begleiten. Sein Erwachsenwerden mündet in die Gemeinschaft mit Gott in dieser Welt. Spontan sagte ich: „Du fühlst dich von Gott im Stich gelassen.“ Daraufhin antwortete er, dass es sich traurig anfühlt. Es fühlt sich an, also ob ich schuldig bin. Es fühlt sich böse an. Es fühlt sich so an, dass ich nie hätte geboren werden sollen. Mir kam das Bild des unfolgsamen, unerwünschten Kindes, das mit Liebesentzug und Nichtbeachtung bestraft wird. „Wie sieht das aus, hast du vielleicht ein Bild dafür?“ Nach kurzem Schweigen und gesenktem Blick, beschrieb er, dass er wie eine aufblühende Blume sei, die im reißenden Fluss steht und weggerissen wird. Sie wartet auf den Felsen im Wasser. Ich spürte wie sein Atem schneller wurde und er in einer nicht gegenwärtigen Situation verharrte. Erstmals kam er mit unguten Gefühlen in Kontakt, die ihn regelrecht zerrissen. Da mir in der Beschreibung des reißenden Flusses, als eine Gefahr und Bedrohung deutlich wurde und ich auch nichts über sein Heranwachsen, das Bild der aufblühenden Blume, im Iran und über seine Glaubenserlebnisse in der dortigen Gemeinde bisher erfahren hatte, spürte ich da einen innerlichen Stopp bei mir.  Daher „schauten“ wir uns gemeinsam den ersehnten Felsen an. Nach langer Beschreibung des rettenden Felsens, zeigte sich, dass Gott für ihn momentan unerreichbar war, obgleich er ihn so sehr anflehte und sich nach ihm sehnte, dass er ihn aus der Qual erretten möge. Ich war von seinem Weinen und der darauffolgenden langen Stille tief berührt. Sein Wunsch war es gemeinsam einen Psalm zu suchen, der ihn ins Licht und zur Ruhe führen vermag. Erneut zeigte er seinen Bedarf nach Halt.

Wochen später war ich bei seiner Anhörung (BAMF) dabei. Da musste er sich seinen grausamen Erlebnissen in der Moschee stellen und darüber sprechen. Im Nachhinein war ich dankbar, die Grenze während unseres Gesprächs, gespürt zu haben, so dass er seine traumatischen Erlebnisse nicht mehrmals erzählen musste.  Sofern er die Möglichkeit nutzen möchte, steht ihm nun der Weg zur zusätzlichen Aufarbeitung in therapeutischer Form offen.

 

Erwachsenwerden mit Gott

Zwei unterschiedliche Gesprächsbeispiele spiegeln die jeweiligen Entwicklungsstufen wider. Im zweiten Gespräch zeigt sich ein Suchen nach Identität. Zweifel und Ängste dominieren im Denken und Fühlen. Die sichere Bindung wird ersehnt. Sicherlich verstärkt durch das Erleben in der Vergangenheit. James W. Fowler spricht von Tiefenstrukturprägungen im Kindesalter des Glaubens, Prägungen der spirituellen Vertrauens- und Bindungsmuster (angelsächsisch „Faith“). Hier wäre ein möglicher Anknüpfungspunkt zur geistlichen Begleitung. Dazu braucht es Vertrauen in die eigenen von Gott geschenkten Fähigkeiten, um soziale und berufliche Zukunft zu haben.  Das Gefühl, du lässt mich im Stich, bildet sich aus der Abhängigkeit in dem verwurzelnden „Wenn-dann Gott“. Dieses Verhalten spiegelte sich auch teilweise in seinen Alltagsbeziehungen.

Was kann die mögliche Ursache sein und was kann helfen? Bisher war Gott für ihn EINER. Die christliche Trinitätsvorstellung konnte in seinem bisherigen Glaubensleben nicht erfahren werden. Gott wird bisher als mächtiges, eingreifendes Gegenüber erfahren, der die Guten für ihr redliches Verhalten belohnt. Fowler spricht in dieser zweiten Entwicklungsstufe vom wörtlichen Glauben (angelsächsisch „belief“). Regeln werden wörtlich verstanden. Über die Vielfalt der Deutungen kann noch nicht reflektiert werden. Die mehrdimensionale Wahrheit wird noch nicht erkannt. Sein sich zeigender Gott wird, als vom Handeln des Menschen einflussbar, verstanden. Fortan zählen Mittel wie Gebet und Einhaltung der Gebote dazu Gottes Liebe und Gnade zu beeinflussen und sich vor ihm abzusichern. Dies kann allerdings auch dann zur Abwehrhaltung, bei Nichterfüllung der Wünsche und Sehnsüchte, gegenüber Gott führen. Was hier auch der Fall war und in eine persönliche Krise mündete. Sogar mit zeitweiliger sonntäglicher Gottesdienstabstinenz, weil alles keinen Sinn macht. Und hier brach dann auch die geistliche Begleitung ab.

 

Nach Theorien der psychosozialen Entwicklung nach Erik Erikson[5] erfolgen emotionale und soziale Entwicklung in einer Folge von Phasen, von denen jede durch eine bestimmte Aufgabe oder Krise gekennzeichnet ist, die für eine gesunde weitere Entwicklung bewältigt werden muss. Betrachten wir dies religiös, bedeutet dies, erst der Gang über den Schmerz und die Passion bzw. Kreuz führt uns in einen Auferstehungsweg hinein. Weiter zu Erikson, nach ihm kommt der Adoleszenz eine besondere Bedeutung zu. Diese entscheidende Phase dient dazu, ein Grundgefühl der Identität zu erlangen. Die drastischen Veränderungen in dieser Phase gehen mit neuen sozialen Anforderungen und Zwängen einher, beispielsweise der Notwendigkeit Entscheidungen zur Ausbildung und Beruf zu treffen. Gefangen in der vorherigen Rolle als Kind müssen Heranwachsende die Frage klären, wer sie wirklich sind und welche Rolle sie als Erwachsene ausfüllen wollen. Entwicklungsforscher haben dieser Phase „Identität versus Rollenkonfusion“ in modernen, multikulturellen Gesellschaften sehr viel Aufmerksamkeit geschenkt.

Rufen wir uns das Höhlengleichnis kurz in Erinnerung und lenken den Blick parallel auf die Stufen der Glaubensentwicklung nach Fritz Oser und Paul Gmünder. Diese besagt, die Glaubensentwicklung des Menschen, die ständigem Wachstum unterliegt und niemals abgeschlossen ist, hängt ganz wesentlich davon ab, welche Erfahrungen die Menschen mit Glaube und Religiosität machen. Grundlage dafür glauben zu können, ist letztendlich die frühkindliche Erfahrung von Urvertrauen, also die Erfahrung, unbedingt angenommen zu sein. Entscheidend sind die Menschen, die Glauben und Vertrauen vermitteln. Um nun Verlustängste bzw. Verlusterfahrungen heilsam zu verwandeln, scheint mir dies von besonderer Beachtung zu sein. Dem Glaubenswissen kommt dabei eine untergeordnete Bedeutung zu. Die geistige Auseinandersetzung mit Glaubensfragen gehört ebenso, wie die Erfahrungen der Menschen mit dem Glauben, zu einer gelingenden Glaubensentwicklung. Dies darf nicht als Glaubenskompetenz oder gar als Stufenplan der Gottesbilder allgemein oder überhaupt nach Lebensalter zu werten sein.

Viele Menschen durchlaufen eine Krise in der Gottesbeziehung. In dieser Krise erfahren sie Gott nicht mehr als „Eingreifenden“ beispielsweise: wie auch Hiob. Hier können Strukturen und Vorstellungsmuster von Gott zerbrechen. Ich nenne es „Autonome Identität versus Gottesvorstellung“ – Phase der Adoleszenz in der Gottesbildentwicklung. Im Brief an die Korinther verstehe ich Paulus zu dieser Entwicklung so: „Als ich ein Kind war, redete ich wie ein Kind, dachte wie ein Kind und urteilte wie in Kind. Als ich ein Mann wurde, legte ich ab, was an mir Kind war.“  (1. Korinther 13, 11) Weil die Korinther noch im Irdischen verhaftet waren, hatten sie noch nicht die Erkenntnis von geisterfüllten Christen, sondern sie wuchsen in die christliche Welt samt ihrer Erkenntnis, wie milchtrinkende Säuglinge hinein.  Erst durch Wachstum waren sie für feste Speise bereit.

In meiner geistlichen Begleitungspraxis rege ich möglichst dazu an und spüre ich hier nach Möglichkeiten des Wachstums gemeinsam hinein. Die Art des Betens dem Wachstum und der Veränderung anzupassen, kann in diesen Phasen hilfreich sein, um Halt und Geborgenheit neu zu erfahren. In diesem Geschehen besteht hierbei die Chance auch emotional instabile Störungen heilsam in Auflösung zu bringen.

 

Mehrdimensionale Wahrheit

Die Besonderheit meines Weges schließt die interreligiöse Akzeptanz, die gegenseitigen Anerkennung der religiösen Prägungen, mit ein. Daher mag ich als Schlusswort Martin Buber zitieren. Er schreibt: „Jede Religion hat ihren Ursprung in einer Offenbarung. Keine Religion ist die absolute Wahrheit, keine ist ein auf die Erde herabgekommenes Stück Himmel. Jede Religion ist eine menschliche Wahrheit. Das heißt, sie stellt die Beziehung einer bestimmten menschlichen Gemeinschaft als solcher zum Absoluten dar.“

 

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