Kann Präsenzpastoral als eine Sonderform geistlicher Begleitung verstanden werden? In welchen Bereichen gibt es Überschneidungen zwischen der als Fachdienst ausgewiesenen Geistlichen Begleitung und einer geistlichen Form sozialräumlicher Präsenz? Inwieweit prägen ähnliche Grundhaltungen beide kirchlichen Dienste? Was können sie voneinander lernen?

Geistliche Begleitung und Präsenzpastoral

Text: Gabriele Spliethoff – Photo: ales_kartal/pixabay.com

Ausgangspunkt der Frage

Diese Frage nach Überschneidungen und möglicher gegenseitiger Stärkung von Präsenzpastoral und Geistlicher Begleitung beschäftigt mich, nachdem ich an einem Seminar zum Thema „Leerräumen –  Platz machen für Gottes überraschende Präsenz“ (Theologisch Pastorales Institut Mainz, 2.-4.11.22) teilgenommen habe und von Präsenzpastoral fasziniert, auch überzeugt wurde. Es macht mir den Eindruck, als entstehe hier eine Perspektive, eine Theorie und Praxis, die die dringend notwendige Umkehr  traditionell kirchlichen Denkens als realisierbare Möglichkeit beschreibt.  Im Ansatz der Präsenzpastoral sehe ich auch für mich eine interessante Perspektive für pastorale (ehrenamtliche) Mitarbeit in „meiner“ Gemeinde. Nach Absprache mit den anderen Mitgliedern des  Ausschusses „Citypastoral“ der Pfarrgemeinde St. Clemens in Oberhausen-Sterkrade habe ich  mit eigenen Versuchen mit Präsenzpastoral vor drei Monaten begonnen.

Einleitung

Es gibt, meines Wissens nach, keine (deutschsprachige) Literatur, die sich vertiefter, intensiver und ausführlicher mit dem Thema Präsenzpastoral beschäftigt. Vorhanden sind aber auf der einen Seite Veröffentlichungen aus der Dogmatischen Theologie (Prof. Hans-Joachim Sander), die den Niedergang der Kirche als Religions- und Glaubensgemeinschaft beschreibt und theoretisch Entwicklungshorizonte eröffnet. Auch die Pastoraltheologie selbst (z.B. Prof. Dr. Michael Schüßler und Prof. Dr. Christian Bauer) diskutiert und entwickelt Perspektiven. Auf der anderen Seite gibt es konkrete Erfahrungsberichte. Aus diesen Quellen heraus versuche ich zunächst zu beschreiben, wie ich Präsenzpastoral verstehe. Im zweiten Schritt behandle ich dann die oben genannte Frage. Als Grundlage für den Vergleich mit geistlicher Begleitung wird die Veröffentlichung der Deutschen Bischofskonferenz genommen: “… und Jesus ging mit ihnen“ Der kirchliche Dienst der Geistlichen Begleitung (Nr. 39, 2014). Diese Schrift legt Standards für den Fachdienst Geistliche Begleitung fest und eignet sich insofern für die Reflexion.

Wurzeln der Präsenzpastoral?

Der Begriff der Präsenzpastoral ist, meines Wissens nach, nicht klar definiert. Es gibt eher einige Beschreibungen von Erfahrungen der in der Pastoral tätigen Menschen, die ihre Vorgehensweise mit diesem Begriff beschreiben. (Ein Zeugnis von Dr. Dorothee Steiof dazu steht weiter unten im Text) Entstanden ist er in den Niederlanden und beschrieb da ursprünglich ein Leben der Seelsorger*innen unter den Ausgegrenzten, ein Leben mit ihnen, im Gegensatz zu einer Arbeit für sie. „Die Seelsorger leben radikal mit den sozial schwächsten Bewohnern eines Wohnviertels mit“, schreibt Prof Dr. Baart in seiner Untersuchung über Präsenzpastoral . (Vortrag 2003 in Mainz „Über die präsentische Herangehensweise“ von Prof. Dr. Andres Baart, erschienen in: „Teksten uit het presentieonderzoek“) Präsenzpastoral beschreibt er mit den Worten: „Da zu sein für den Anderen, eine Beziehung, die gut ist und von Nähe gekennzeichnet ist… es geht um die Würde der anderen Person, um einen grundlegenden Akt, den Anderen so anzuerkennen, dass er – so verrückt, beschädigt, verwirrt oder anderes er auch sein mag-  zählt. Es geht um Gegenseitigkeit.“ (S. 3). Baart bemerkt, dass solch eine Lebensweise Mut erfordert, weil der/die Seelsorger*in sich selbst einbringt, dadurch auch ausgeliefert ist. Präsenzpastoral in dieser Radikalität des gemeinsam geteilten Lebens hat sich in Deutschland (meines Wissens nach) nicht etabliert (abgesehen von den Orden der „Kleinen Schwestern Jesu“ und der „Kleinen Brüder Jesu“). Die beschriebene Grundhaltung der Gegenseitigkeit  ist aber auch hierzulande zu einem Kennzeichen dieser Pastoral geworden.

Präsenzpastoral als Mission

Für die Einordnung der Präsenzpastoral, in eine der Traditionen innerhalb der katholischen Theologie, sollen hier einige Stichworte reichen. Sie steht in der Tradition des „impliziten Christentums“ eines E. Schillebeeckx. Darin wird jeglicher profaner Boden als heiliger Boden verstanden. In der Welt findet Schillebeeckx das Heilige, „noch bevor die Amtskirche das rettende Wort Christi an diese Welt richtet“. „Wenn die Kirche ihr Ohr zum Hören öffnet, dann hört sie nicht auf fremde Klänge, sondern auf die Stimme ihres Herrn“. Das Verständnis von Mission ändert sich dadurch: wir brauchen der Welt nicht Gott zu bringen, ER/Sie ist ja schon da. Es gilt, Ihre/Seine Präsenz zu entdecken und eine neue Sprachfähigkeit zu entwickeln.  Gott zeigt sich in der Welt, in der Gegenwart, im Hier und Jetzt.

Biblisch bezieht sich die Präsenzpastoral zunächst allgemein auf den Missionsauftrag (Mk 16,15, Mt 28,19). Mir persönlich ist bei der Mission eine Parteilichkeit wichtig, wie sie seit dem Vaticanum II in „Gaudium et Spes“ deutlich beschrieben ist: „Die Mission der gesamten Kirche bezieht sich auf Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art…“ (GS1). Hier, bei den Armen und Ausgeschlossenen, den Leidenden und in Angst Lebenden finde ich den einzig möglichen pastoralen Ort der Entdeckung von Sinn und Bedeutung des Evangeliums. Diese Sendung im Sinne der „Option für die Armen“ ist politisch.  In der Tradition von J.B. Metz formuliert T.R. Peters : „Wer das Reich Gottes zu identifizieren und auf den Begriff zu bringen versucht, erkennt, dass es nichts anderes ist, als das Reich der politischen Verhältnisse und Organisationen aber wahrgenommen aus einer besonderen Blickrichtung. (…) Das Reich Gottes ist nichts, das neben oder über den anderen Reichen der Welt schwebte (…) Es liegt vielmehr, deutlich unterschieden und für jeden Aufmerksamen sichtbar, inmitten der globalisierten Welt, ein Gegenbild alles Verachteten, Unterdrückten und Vernichteten. Das Reich Gottes ist die Antigeschichte des Leidens, wie sie im Blick derer entsteht, die betroffen sind und die sich betreffen lassen (…) Das Reich Gottes zeigt sich nun, ist immer schon da, weil die Armen gekommen sind, die die Gleichgültigkeit ihnen gegenüber als das entlarven, was sie ist: Struktur gewordene Gewalt“ (Tiemo Rainer Peters: Entleerte Geheimnisse. Die Kostbarkeit des christlichen Glaubens, Ostfildern 2017 S. 36f). Es sind die Armen, die Obdachlosen, die Einsamen, die sich draußen auf der Straße befinden und Zeit haben. Ihnen bin ich vor allem begegnet. Das Reich Gottes ist schon da, dennoch bedarf es der Suche zu seiner Verwirklichung – es zu entdecken ist mein Verständnis von Präsenzpastoral.

Wesentliche Impulse hat die Präsenzpastoral durch den Dogmatiker Prof. Hans-Joachim Sander erhalten. Er beschreibt die Kirche in einem Übergangsprozess, drastischer gesagt: die Auflösung der Kirche als Religionsgemeinschaft, (Die Kirchenaustritte sind dafür ein sichtbares Zeichen), ihre Wandlung zur Glaubensgemeinschaft nach dem zweiten Vatikanischen Konzil und gegenwärtig auf dem Weg zur Pastoralgemeinschaft. In dieser Entwicklung opfert Kirche ihre sichtbare Präsenz (schließt z.B. Kirchen) für Gottes Anonymität. „Anonymität ist die urbane Lebensform Gottes. Er ist an jedem Ort in der Urbanität da, ohne dass es ausdrücklich gemacht werden muss. Gott ist präsent in jenen überraschenden Lebensveränderungen, in denen Enge durch Offenheit, Schmerz durch Hoffnung, Ressentiment durch Dialog ersetzt werden. Es ist das Passivum divinum wie etwa in der Bergpredigt: selig die Trauernden, sie werden getröstet werden.“ (Hans-Joachim Sander: die Verheißung von Fülle aus Leere,  Vortrag 2021)

Präsenzpastoral verlässt damit nicht nur den Raum der Kirche, (sie findet draußen statt) sondern auch die Weisen, wie pastorale Arbeit traditionell verstanden wird. Pastoralpräsentische Arbeit verzichtet auf den Raum, der Orte des Heiligen definiert (Altar oder Tabernakel z.B.). Sie verzichtet auf Festlegungen, wie Kontakt zum Heiligen zustande kommt (Sakramente z.B.) Sie nimmt ernst, dass diese Ausdrucksformen der Kirche als Religionsgemeinschaft unwiderruflich „zerbröselt“ (Sander) sind und weitgehend nicht mehr verstanden und akzeptiert werden. Gott wird in der Präsenzpastoral stattdessen als anonym anwesend verstanden, Er/Sie ist nicht benennbar, Er/Sie ist nicht an bestimmten Stellen verortbar. In biblischen Bildern gesprochen zeigt Er/Sie sich in „ der Stille verschwebenden Schweigens“ (1.Könige 19) oder auch als Stimme aus dem brennenden Dornbusch (2. Mose 3,14), die Stimme, die einen Namen verweigert aber ihre Präsenz benennt. Das bedeutet für die in der Präsenzpastoral Tätigen, Sicherheiten aufzugeben und sich der unkontrollierbaren Gegenwart zu öffnen. Es bedeutet, alle wahrzunehmen, die in den Raum treten. Dies sind z.B. Nicht- oder Andersgläubige, die vielleicht konfrontieren mit ihren Vorstellungen. Die These ist: hier erhalten wir als Kirche wichtige Herausforderungen, sie kommen von außen auf uns zu. Durch sie können wir lernen, das Evangelium tiefer zu verstehen (und folglich zu leben).

Die Theorie lässt sich nicht leicht leben, weil sie eine Umkehr der inneren Haltung voraussetzt. Es geht um einen achtsamen Umgang mit der unkontrollierbaren Wirklichkeit als Ort, an dem Gott begegnet. Die folgenden Beschreibungen geben Zeugnis von der Schwierigkeit des Benennens, zeigen Wege der Annäherung an das Gemeinte auf, zeigen den Versuch, sprachfähig zu werden.

Konkretisierung

Es geht um eine Suche, die sich darum bemüht, den Menschen auf Augenhöhe zu begegnen. Eine Suche, die nicht schon weiß, was richtig und gut ist, eine Suche, die nicht zielgerichtet ist und doch lernen will. Sie versteht sich als Teilnahme am heilenden und befreienden Suchprojekt Gottes (Lk 15,4-9) und geschieht in einem „Sich aussetzen“, im Hinschauen, Beobachten, Hinhören und Zulassen, nicht im Zugreifen und Definieren. Sie geschieht immer im Auftrag der Kirche, Zeichen und Werkzeug der Liebe Gottes zu sein. Bei dem Versuch, diese Suche sprachlich zu fassen gerät E. Aigner an den Rand sprachlichen, rationalen Ausdrucksvermögens, an eine Grenze zum Emotionalen, Körperlichen. Sie schreibt:  „ich möchte die Lebensgeschichten der Menschen lesen und begreifen – die kaum auslöschbare Sehnsucht und das in ihnen verborgene Glück, die tiefe Freude und den mühevollen Alltag und schließlich auch Verzweiflung und Tod- den bedrohlichen Abgrund menschlicher Existenz. (…) Die Sprache verschlägt und überschlägt sich in den Brüchen des Lebens, in den Erfahrungen von Schmerz, Leid und Ohnmacht. Dort greift die theologische Begrifflichkeit zu kurz. Ich halte den Raum der Sprachlosigkeit aus und wiederhole mich dabei. Der Raum der Sprachlosigkeit, der mich sanft hinausschubst, gröber von mich stößt, dem ich trotzen muss. Die stumme Leere will durchschritten werden und es ist an jener Stelle auch noch nicht wirklich klar, ob das Suchen von Bildern und Metaphern bereits angebracht ist. Das innerliche Ringen weicht dem Zu-fall, einem Hinzukommen, erst langsam kommt verbal, non-verbal, emotional, im Körper mit dem Körper und durch den Körper zum Ausdruck, was unsagbar ist.“ (Maria Elisabeth Aigner: Vom Anderen in mir, In: Weiter gehen. Eine Roadmap ins Offene , Würzburg 2021, S. 18).  

Deutlicher noch, wie diese Suche konkret aussehen kann, wird in den Erfahrungen von Dr. Dorothee Steiof deutlich:

„Gott in der Stadt entdecken – oder: Was macht Gott in der Stadt?“ mit diesem Motto bin ich (…) im öffentlichen Raum rund um die Kirche St. Maria in Stuttgart unterwegs. Ich bin da und habe Zeit. Es gibt keinen vorgefertigten Plan, was passieren muss. Ich bin ansprechbar und spreche auch manchmal Menschen an. Oder ich nehme einfach wahr. Oder ich tue „nichts“ und „warte“.(…)

Mich bewegt: Was passiert, wenn Menschen im öffentlichen Raum einfach „da sind“ – offen für das, was sich ereignet? Hierbei geht es nicht darum, neue Angebote zu gestalten, sondern sich selbst als Person „anzubieten“. Ich möchte eine kirchliche Praxisform erproben, bei der eine Grundhaltung der absichtslosen Präsenz und der Empfänglichkeit im Zentrum steht. Es geht also um eine eher „unspezialisierte“ professionellen Rolle, die nicht von vorneherein auf eine Angebots- oder Zielgruppenlogik festgelegt ist. Angezielt ist so die Erprobung einer geistlichen Form der sozialräumlichen Präsenz. Eine besondere  Aufmerksamkeit gilt hierbei den Erfahrungen von Menschen, die in benachteiligten Lebenssituationen leben oder von Ausgrenzung bedroht sind.

Präsenzpastoral bedeutet, bewusst mit der Versuchung umzugehen, Ereignisse doch irgendwie „erzwingen“ zu wollen. Es bedeutet, auszuhalten, dass manchmal „nichts passiert“ und niemand einen braucht. „Es muss heute nichts passieren“ ist mir fast zur Gebetsformel geworden, wenn ich bei St. Maria ankomme. Habe ich als Anfangsritual zu Beginn noch eher Fürbitten formuliert, wurde mit der Zeit mein Sprechen immer reduzierter. Aus der Bitte wurde ein Indikativ: „Du ist da – ich bin da“ so bete ich inzwischen. (…) Es ist nicht immer einfach, diese unklare Rollenzuschreibung auszuhalten.“ (Dorothee Steiof: Was macht Gott in der Stadt? Erfahrungen aus einem Projekt der Präsenzpastoral im Süden von Stuttgart, in: www.feinschwarz.net, veröffentlicht am 21.Juni 2021)

In der Tradition der Strassenexerzitien zieht sie „die Schuhe aus“, die Straße ist der heilige Boden der Gottesbegegnung (2.Mose 3,5 und Lk 10,4), sie ist da, ohne etwas Bestimmtes machen zu müssen – absichtslos präsent, kontemplativ im öffentlichen Raum. Hier empfängt sie eher als tätig zu sein, hier kann sie auch im Nichttun wirksam sein. Sie erfährt sich als Beschenkte z.B. in Gesprächen. Als „wandelnde Leerstelle“ ermöglicht sie anderen Menschen „in ihrer Vielfalt erstrahlen“ zu können. Hier geschieht ein wechselseitiger Resonanzprozess, in dem die Rollen von Hörer/in und Sprechender/m nicht festgelegt sind, oder biblisch formuliert: die Rolle von Gastgeber/in und Gast wechseln (z.B. in der Emmausgeschichte Lk 24,13-33 aber auch in der Erscheinung des Auferstandenen am See Tiberias, Joh 21), letztlich geht es ihr darum, das Evangelium tiefer zu verstehen. (Alle Zitate entstammen einem Vortrag, gehalten am 3.11.2022)

Kann Präsenzpastoral als Sonderform Geistlicher Begleitung verstanden werden?

Zur Beantwortung der Frage dieser Arbeit lasse ich mich von der Veröffentlichung der Pastoralkommission innerhalb der DBK „… und Jesus ging mit ihnen“ Der kirchliche Dienst der Geistlichen Begleitung (Nr. 39, 2014) leiten. Die Schrift hat den Anspruch, Standards für Geistliche Begleitung als „professionalisierten Fachdienst“ festzulegen.  In der Präsenzpastoral gibt es solche Standards nicht, auch keine daraus resultierende „methodisch ausgewiesene und verantwortete Arbeitsweise“ (S.14). Es existieren lediglich die oben beschriebenen theoretischen und erfahrenen Annäherungen an eine Praxis. Das erschwert die Beantwortung der Frage dieser Arbeit.

 Im Vorwort der Schrift zitiert Bischof Bode Papst Franziskus in seiner Aussage zum Zuhören. Die beschriebene Haltung scheint mir wesentlich und eine gemeinsame Grundlage beider Wege zu sein, daher zitiere ich sie hier ganz:

„In seinem Apostolischen Schreiben Evangelii gaudium beschreibt Papst Franziskus das Profil der Geistlichen Begleitung. „Mehr denn je“, sagt Papst Franziskus, „brauchen wir Männer und Frauen, die aus ihrer Erfahrung als Begleiter die Vorgehensweise kennen, die sich durch Klugheit auszeichnet sowie durch die Fähigkeit zum Verstehen, durch die Kunst des Wartens sowie durch die Fügsamkeit dem Geist gegenüber … Wir müssen uns in der Kunst des Zuhörens üben, die mehr ist als Hören … Zuhören hilft uns, die passende Geste und das passende Wort zu finden, die uns aus der bequemen Position des Zuschauers herausholen. Nur auf der Grundlage dieses achtungsvollen, mitfühlenden Zuhörens ist es möglich, die Wege für ein echtes Wachstum zu finden, das Verlangen nach dem christlichen Ideal und die Sehnsucht zu wecken, voll auf die Liebe Gottes zu antworten und das Beste, das Gott im eigenen Leben ausgesät hat, zu entfalten“ (Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium von Papst Franziskus über die Verkündigung des Evangeliums in der Welt von heute, 171)“. (S.6)

Sowohl in Geistlicher Begleitung als auch in der Präsenzpastoral erscheint mir diese Grundhaltung wesentlich zu sein. Sie betrifft einerseits die genannten Fähigkeiten, andererseits den Umgang, (die Notwendigkeit „achtungsvoll, mitfühlend“ zuzuhören) und drittens das Ziel: „das Beste, das Gott im eigenen Leben ausgesät hat, zu entfalten“.

Im Kapitel über die inhaltliche und formale Bestimmung Geistlicher Begleitung werden dann deren Grundlagen beschrieben: Geistliche Begleitung wird von Menschen in Anspruch genommen, die Hilfe auf dem persönlichen Glaubensweg suchen. Sie ist auf der einen Seite personorientiert und zielt einen geistlichen Wachstumsprozess an, auf der anderen Seite  ist sie theozentrisch. Geistliche Begleitung hilft dem/der Begleiteten durch die „Unterscheidung der Geister“, das eigene Leben auf ein „Mehr“ an Glaube, Liebe und Hoffnung auszurichten. Die Gespräche finden im Einzelsetting und regelmäßig über einen bestimmten Zeitraum statt. Es gibt also einerseits eine bestimmte Motivation dessen, der Geistliche Begleitung in Anspruch nehmen möchte und andererseits ein definiertes Angebot, das auf dieses Gesuch antwortet. Der formale Rahmen und die Rollen (Begleitete/r und Begleiter/in) sind festgelegt. Das Profil, das Geistliche Begleitung durch diese Standards erhält,  möchte ich in seinen  verschiedenen Bestimmungen mit Präsenzpastoral vergleichen. Die Frage dieser Arbeit lautet ja: kann Präsenzpastoral als Sonderform der Geistlichen Begleitung verstanden werden?

Die Motivation für Gespräche und die daraus resultierenden Rollen

„Menschen suchen Hilfe für ihren persönlichen Glaubensweg“ (S 11). Der Fachdienst Geistliche Begleitung antwortet auf diese Suche mit einem definierten Begleitungsangebot. Vergleicht man diese Standards der GB mit Pp zeigen sich zunächst deutlich die Unterschiede. In der Präsenzpastoral geht es um sozialräumliche Präsenz. Ein Gespräch kann stattfinden, muss es aber durchaus nicht. Wenn es dazu kommt, gibt es von den Gesprächspartner*innen auf der Straße erstmal keinen ausdrücklich geäußerten Wunsch nach geistlichem Wachstum, auf den dann in spezifischer Weise geantwortet werden müsste. Die Weise der eigenen Anwesenheit und (gegebenenfalls) das Thema eines zustande kommenden Gespräches, sind erstmal unspezifisch. Es ist auch nicht festgelegt, wer Begleiter*in und wer Begleiteter ist. Die Rolle, wer hier Gebende/r, wer Empfangende/r ist, wechselt. (s.o. „Gast und Gastgeber*in“) Die Beziehung basiert auf Gegenseitigkeit („auf Augenhöhe“). Sie versteht sich als ein „Mit-sein“ im Gegensatz zu einem „Für-sein“ für andere (hier: begleitete) Menschen. Der in der Präsenzpastoral tätige Mensch bietet sich selbst als Person an und verzichtet auf eine Begleiter- (oder anders definierte) Rolle. Sie hört, sie nimmt Anteil und gibt Resonanz nur als der Mensch, die sie ist, d.h. auch: als Mensch mit individueller Geschichte und eigenen Prägungen, Überzeugungen, eigenem Glauben. Selbst Lernende zu sein, gehört auch mit zu der genannten Gegenseitigkeit. Ich lerne z.B. etwas über meine gesellschaftlich geprägten und verinnerlichten Vorurteile. Dazu gehört, dass meine Gesprächspartner*innen politisch interessiert sind und oftmals hohe Werte vertreten. Damit hatte ich nicht gerechnet. Zu den Werten gehört z.B. eine sehr hohe Hilfsbereitschaft untereinander oder auch, dass (auch im alkoholisierten Zustand), Körperkontakt zu Anderen verboten ist (und wieder gut gemacht werden muss, wenn er doch passiert war), dass es zur eigenen Würde gehört, zu arbeiten (in prekären Verhältnissen und für wenige Stunden meistens). Dazu gehört auch, dass man Erlittenes (z.B. Gewalt) auf keinen Fall an Anderen auslässt, die Achtung insbesondere von der Würde von Frauen und Kindern. Ich stelle fest: hier werden christliche Werte vertreten und so gut es geht, gelebt. Es konkretisiert sich also, was T.R. Peters als Reich Gottes unter den Armen identifiziert: „ein Gegenbild alles Verachteten, Unterdrückten und Vernichteten“ (s. Zitat oben). Hier werde ich evangelisiert. Lernende zu sein bedeutet in der Präsenzpastoral, dass die Menschen mich über das Evangelium belehren können.

Daraus ergibt sich, dass es beiden Angeboten gemeinsam ist, dass die Freiheit des Anderen ernst genommen wird, er „nicht manipuliert“ wird, und die Beziehung „nicht in Abhängigkeit führt“ (S 13). Die Gefahr, dass dies geschieht, besteht bei der Präsenzpastoral in anderer Weise als in der Geistlichen Begleitung. Droht dort schlimmstenfalls geistlicher Missbrauch, liegt die Gefahr in Präsenzpastoral eher darin, die prekäre Lebenssituation des Gegenübers selbst abschaffen zu wollen und also in die Rolle der Helferin zu gehen. (Natürlich vermittle ich dort, wo ich es weiß, an entsprechende Institutionen)

Gesprächsinhalte

Geistliche Begleitung soll „Wachsen und Reifen im geistlichen Leben“ ermöglichen, entsprechend  sind die Gesprächsinhalte: „Erfahrungen, Fragen und Hoffnungen der begleiteten Person“ (S 12).

Präsenzpastoral ist dagegen durch Offenheit bestimmt, nicht durch Inhalte, die behandelt würden. Die Inhalte zeigen sich dort erst in der aktuellen Situation. Obwohl es also keine Verabredung über Themen für die Gespräche in der Präsenzpastoral gibt, ist meine Erfahrung, dass der Inhalt oft um die eigene Würde kreist. Meine Gesprächspartner*innen sprechen über Themen, in denen für mich (eher verdeckt und doch deutlich) eine eigene Verunsicherung hörbar wird. Wenn auch nicht explizit ausgesprochen, scheint es mir häufiger um Fragen zu gehen wie: bin ich ein geliebter, ein wertvoller Mensch? Bin ich ein leistungsfähiges Mitglied der Gesellschaft? Dürfen Andere mich „so“ (z.B. abschätzig) behandeln? u.a.m. . Ich höre Antworten auf diese Fragen, ich höre Beschreibungen davon, wie das eigene Leben trotz schwerwiegender Widrigkeiten („Schicksal“) gemeistert wird. Diese Lebensleistung kann auch Sucht und psychische Erkrankung beinhalten. Es ist mir wichtig zu versuchen, den Menschen und seinen Umgang mit den Herausforderungen seines Lebens zu verstehen und dies zu würdigen. Natürlich könnte man die Themen auch als Ausdruck einer geistlichen Suche verstehen, da sie aber nicht in dieser Weise geäußert werden, wäre es grenzüberschreitend, sie so zu beantworten. Der Glaube daran, dass jeder Mensch Gottes Kind ist und eine von Ihm/Ihr gegebene Würde besitzt, bildet den Hintergrund meines Hörens und Sprechens, ohne dass dies unbedingt explizit würde. Geistliche Begleitung als „Begleitung auf dem persönlichen Berufungsweg“  ist also nicht angezeigt.

Die Vorgehensweise

Die Vorgehensweise in der Geistlichen Begleitung ist ausgerichtet auf ihr Ziel und  „ressourcen-, prozess- und entwicklungsorientiert“.  Durch die Offenheit in der Präsenzpastoral gibt es keine definierte Vorgehensweise. D. Steiof beschreibt das Angebot (u.a.) mit den Worten: „hier ist eine Person, haben Sie eine Idee?“. Das Vorgehen ergibt sich dann eher aus der Weise, in der man als Gesprächspartner*in in Anspruch genommen wird: einmal geht es vielleicht um Zeug*innenschaft für eine beschriebene Erfahrung, ein anderes Mal um Stärkung für ein gutes Vorhaben, wieder ein anderes Mal um Wertschätzung für eine berichtete Tat oder auch darum, in einer Frage zu beraten und vieles andere mehr. Gemeinsam ist beiden Angeboten die Ressourcenorientierung.

Ausdrücklich wird in der Geistlichen Begleitung die „Unterscheidung der Geister“ als Hilfe genannt: „Geistliche Begleitung vertraut auf das Wirken des Heiligen Geistes durch den Gott die begleitete Person bewegt und führt. Sie nutzt die „Unterscheidung der Geister“ um das Wirken Gottes von anderen Kräften unterscheiden zu können.“ (S 13). Hier liegt eine für beide Wege geltende gemeinsame Grundhaltung und Vorgehensweise vor. Auch in der Präsenzpastoral vertraue ich auf den Heiligen Geist und nehme Ihn in einem „Mehr an Glaube Hoffnung und Liebe“ wahr und benenne dies auch, nicht jedoch mit diesen Ausdrücken. Dort, wo ich Ihn am Werk sehe, „unterstreiche“ ich die entsprechende Äußerung meines Gegenübers, hebe sie hervor und meine eigenen Gesprächsbeiträge haben den Anspruch, meinem Gegenüber diese Perspektive zu eröffnen. „Glaube“ in diesem Kontext meint dann z.B. ein Vertrauen ins Leben, dass es es gut mit uns meint.

Der formale Rahmen

Geistliche Begleitung findet als Einzelbegleitung in verabredeter Dauer und Regelmäßigkeit über einen längeren Zeitraum statt. Ein formaler Rahmen dieser Art fehlt in der Präsenzpastoral.

Meine Erfahrung in der Präsenzpastoral zeigt, dass meine Gesprächspartner*innen in erster Linie Menschen sind, die sich auf dem Platz vor der Kirche, dem Marktplatz, aufhalten. Trotz der Kälte und Nässe in diesen Wintermonaten sitzen sie dort beinahe täglich auf und um eine Bank. Ich habe den Eindruck, dass sie sich dort aufhalten, weil sie Zeit haben und Gesellschaft suchen, einsam sind. Manche sind alkoholabhängig und finden im Kiosk auf dem Platz ein Angebot, um die Sucht zu befriedigen. In Bezug auf den formalen Rahmen herrscht aber nicht völlige Beliebigkeit. Ich stehe jeden Montag ab ca. 15 Uhr vor der Pfarrkirche St Clemens in Oberhausen-Sterkrade. Damit können Menschen, die ja täglich dort sind, rechnen. Zeit und Ort also, an dem ich mit meinem Gesprächsangebot zu treffen bin, ist der einzige Rahmen der fest steht. Dies ist eine Selbstverpflichtung und steht nicht generell für Präsenzpastoral.

Fazit

Die Auseinandersetzung mit der anfangs gestellten Frage: kann Präsenzpastoral als Sonderform Geistlicher Begleitung verstanden werden ? lässt sich nun beantworten. Präsenzpastoral und Geistliche Begleitung unterscheiden sich grundsätzlich. Sie sind verschieden, sowohl im Rollenverständnis, als auch in der Motivation, in den Vorgehensweisen, in den Gesprächsinhalten und dem formalen Rahmen. Gemeinsam ist beiden Wegen, dass sie sich als Dienst im Auftrag der Kirche verstehen, in dem einerseits das Hören (auf den Menschen, auf den Heiligen Geist) eine zentrale Rolle spielt und andererseits das Resonanzgeben. Geistliche Begleitung ist ein durch Standards klar definiertes Angebot, Präsenzpastoral ist als geistliche Form sozialräumlicher Präsenz umfassender und gibt eher eine Ausrichtung, eine Haltung an. Beide sind Zeichen und Ausdruck der Liebe Gottes und geben Antwort darauf, „dass Gott für jeden Menschen da ist und um sein Suchen… weiß“  

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