Künstliche Intelligenz ist dabei unsere Lebenswelt von Grund auf zu verändern. Lernen und Informationsverarbeitung zum Beispiel werden künftig völlig anders vor sich gehen. Aber schon jetzt nutzen Menschen Künstliche Intelligenz auch als „emotionale*n“ Gesprächspartner*in. Kann KI vielleicht auch geistliche Begleitung?

Kann Künstliche Intelligenz (KI) geistliche Begleitung – ein Selbstversuch

Text: Peter Hundertmark – Photo: geralt/pixabay.com

In einem Selbstversuch habe ich mich mit einem typischen Anliegen, das in geistlicher Begleitung öfter angesprochen wird, an die kostenlose Version von ChatGPT 5 gewandt. Den Impuls zu diesem Selbstversuch verdanke ich meiner Kollegin Elaine Rudolphi, die mit einer früheren Version ebenfalls einen Selbstversuch durchgeführt und analysiert hat. Ihre Reflexion geht mit in diesen Artikel ein.

Selbstversuch

Ausgangsfrage an die KI war: „Ich habe große Widerstände gegen lange Gebetszeiten und deshalb ein schlechtes Gewissen.“ Ich habe diese Anfrage variiert, indem ich sie identisch an einen Begleiter in der ignatianischen Tradition, an einen römisch-katholischen Priester und Beichtvater, an ein Ordensmitglied der Legionäre Christi, an den heiligen Pfarrer von Ars, an einen evangelikalen Prediger und an einen Ältesten der Siebenten-Tags-Adventisten gestellt habe.

Auf den ersten Blick fällt auf, dass alle virtuellen Antwortenden verständnisvoll reagieren. Alle nehmen Kontakt auf, indem sie für die Offenheit danken. Alle ordnen Widerstände psychologisch richtig ein und empfehlen, mit den – und nicht gegen die – Widerstände die Begegnung mit Gott zu suchen. Alle Antworten entdramatisieren, indem sie mir mitteilen, dass viele Menschen immer wieder mit ähnlichen Schwierigkeiten konfrontiert sind, wie ich sie gerade erlebe. Es wird keine verurteilende Antwort gegeben. Diese positive, akzeptierende Haltung wird auch durchgehalten, wenn ich als zweite Frage nachschiebe: „Ist Gott sauer, wenn ich nicht bete?“

Keine der Antworten gibt sich als genügend aus. Alle laden mich ein, mit einem oder mehreren Menschen – je nach Prompt werden unterschiedliche Personenkreise angeboten – Kontakt aufzunehmen und ein seelsorgliches Gespräch zu suchen.

Die konkreten Vorschläge ähneln sich bei allen Antwortenden. Sie empfehlen kurze Gebete, werben für Qualität statt Quantität, machen konkrete Formulierungsvorschläge und schlagen eine sehr leicht zu handhabende Struktur für eine Gebetszeit vor. Um diese Empfehlung autoritativ abzusichern, werden entsprechend dem Prompt unterschiedliche Zitate aus der Heiligen Schrift oder den Traditionen der Kirchen angeführt.

Bleibe ich hartnäckig in weiteren Anfragen bei meinem Problem, stellt sich spätestens in der vierten, manchmal schon in der dritten Antwort eine deutliche Redundanz ein. Dem Antwortenden fällt nichts Neues mehr ein. Kein virtuell Antwortender schlägt mir eine Hinführung zu längeren Gebetszeiten vor, die meine Widerstände berücksichtigen, aber durch für mich ungewohnte Zugänge zu umgehen versuchen. Auch die „emotionale“ Ansprache bleibt gleich und wirkt nun stärker stereotyp, als ich sie in der ersten Antwort wahrgenommen habe. Je länger ist dran bleibe, desto größer ist die Enttäuschung über die vorgespielte Empathie in mir.

Auffällig ist, dass mich kein Antwortender nach früheren Erfahrungen fragt, ob das Problem schon einmal aufgetreten ist, wie ich es damals bewältigt habe. Kein „Antwortender“ interessiert sich dafür, warum ich Widerstände entwickelt habe. Auch für die Wurzel und Herkunft des schlechten Gewissens interessiert sich niemand. Nach zwei, drei Antworten stellt sich deshalb das Gefühl ein, dass sich mein „Gesprächspartner“ nicht wirklich für mich interessiert, sondern nur sein Wissen anbietet. Noch weniger wird der „dritte Gesprächspartner“ – Gott selbst – einbezogen. Ob es Erfahrungen damit gibt, wie Gott auf die Not und die Widerstände reagiert, wird nicht erfragt. Gott äußert sich in den Antworten ausschließlich durch biblische Zitate. Diese sind jedoch sachgemäß ausgewählt und passen zur Gotteserfahrung moderner Menschen.

Begleitung durch KI?

Positiv ist festzuhalten, dass die KI Antworten gibt, die inhaltlich dem Stand der Technik geistlicher Begleitung entsprechen. Jede*r Begleiter*in wäre auf der Suche nach praktischen Vorschlägen bei den gleichen Möglichkeiten gelandet, die auch die KI anbietet. In diesem Sinne reagiert die KI also richtig. Die positive Aufnahme der Problemstellung, der Dank für das Vertrauen, die Einordnung und Entdramatisierung… sind Reaktionen, die man auch von einer*m menschlichen Begleiter*in erwarten darf. Im Selbstversuch stellt sich deshalb in der Anfangssequenz ein Gefühl von Verstanden- und Akzeptiertwerden ein.

Dass nahezu identischen Antworten gegeben werden, liegt vermutlich daran, dass wenig Material, vielleicht sogar nur eine einzige deutschsprachige Quelle so vorliegt, dass es genutzt werden kann, um die KI zu trainieren. Ob der- oder diejenige, die diese Anleitung verfasst hat, davon weiß oder gar seine/ihre Zustimmung gegeben hat, bleibt unklar und ist eher nicht zu vermuten. Hier tun sich jenseits der praktischen Nutzbarkeit wesentliche Fragen von Urheber- und Datenschutz auf.

Schon wenige Zeilen später gehen jedoch die Reaktionen der KI und einer*s Begleiter*in auseinander. Die KI ist und bleibt – zum jetzigen Entwicklungsstand – notwendig sachorientiert. Sie bietet also ohne Verzögerung eine Lösung an. Eine Exploration der Problemlage findet nicht statt. Vielmehr wird meine Mitteilung einfach als Feststellung von Tatsachen aufgefasst. Eine Differenzierung, was ich mit Widerständen oder mit schlechtem Gewissen gemeint haben könnte, findet nicht statt und wird auch nicht erfragt. Ein*e ausgebildete*r Begleiter*in würde hier eine Latenzphase einschieben, in der die Mitteilung umkreist und exploriert wird. Vom Fachdienst geistliche Begleitung  wird eben nicht erwartet, dass der*diejenige, der*die sich begleiten lässt, schon abschließend über sich Bescheid weiß. Vielmehr wird ihm*ihr angeboten, sich durch die Resonanzen des*der Begleiter*in im Laufe des Gesprächs selbst besser zu verstehen. Diese unterstützte Selbsterkundung ist für das geistliche Gespräch wesentlicher als die praktische Anleitung.

Die Grundvoraussetzung jeglicher Begleitung, die sich im Hintergrund an den Erkenntnissen der humanistischen Psychologie orientiert, dass die Lösung – wenn denn überhaupt Bedarf an einer Lösung besteht, in der Person des*der Begleiteten liegt, wird so von der KI nicht mitvollzogen. Sie etabliert sich in der Position der Wissenden, einer Wissenden, die, auch wenn sie „anbietend“ formuliert, besser als der*die Gesprächspartner*in weiß, was jetzt zu tun und was ihm*ihr gut tut. Damit fallen die Antworten, die einer KI zum jetzigen Zeitpunkt möglich sind, zurück in die Haltung der überwundenen „Seelenführung“. Dies geschieht unabhängig davon, welche Rolle und Orientierung der KI vorgegeben wird. Es wird jeweils eine Beziehung zwischen „Meisterin“ und Schüler*in aufgebaut. Dies geschieht durch die Art der Kommunikation und ausdrücklich obwohl die richtige Antwort gegeben wird. Eine solches Beziehungsmuster ist jedoch für geistliche Begleitung inakzeptabel und unterbietet die entsprechenden Rahmenrichtlinien und ethischen Standards.

Ich habe mich im Selbstversuch mit Blick auf meine inneren Regungen selbst beobachtet. Zu meinem Erstaunen, stellte sich, obwohl ich mit einer gewissen Skepsis über die Möglichkeiten einer KI ins Experiment gestartet war, zuerst ein Moment der Erleichterung ein. Ich fühlte mich mit meiner Frage ernst genommen. Dann aber machte sich sehr rasch eine Enttäuschung breit. Meine Gesprächspartner*in interessierte sich nicht für mich, sie geht eben nicht in Resonanz, lässt sich nicht betreffen, kann sich nicht betreffen lassen. Das war abzusehen. Die emotionale Reaktion – Erleichterung, dann Enttäuschung – stellt sich dennoch ein. Nimmt man diese Erfahrung ernst, ist also davon auszugehen, dass „begleiterische“ Antworten einer KI bei den Begleitungssuchenden allein durch die Kommunikationsform nach einem ersten Trostmoment innere Bewegungen des Misstrosts auslösen wird, auslösen muss. Misstrost aber war schon mit der geschilderten Ausgangssituation – Widerstände, schlechtes Gewissen – verbunden. Subtil verstärken die Antwortmöglichkeiten einer KI also die Misstrostsituation der*des Begleiteten, obwohl sie „richtige“ Verhaltensvorschläge macht und wertschätzend-freilassend formuliert.

Der Misstrost verstärkt sich, wenn in weiteren Antworten zum Beispiel Gottes Geduld und grundsätzliche Akzeptanz korrekt biblisch belegt werden. Der*die Begleitete findet sich immer tiefer in der Position des „Dummies“ wieder, dem*der eine Lehrerin die entscheidenden Wahrheiten in Erinnerung ruft. Das ist wiederum überraschend, denn kein*e menschliche*r Begleiter* würde verantwortlich auf andere biblische Aussagen und Belegstellen zurückgreifen. Was fehlt? Die Antworten sind eben kein Zeugnis, das vom Leben und der geistlichen Erfahrung eines anderen Menschen gedeckt sind. Es sind Informationen. Ich kann sie annehmen, mich ihnen aber nicht anvertrauen. Sie tragen nicht – obwohl sie richtig sind. Hier dürfte eine Grenze erreicht sein, die sich durch keine technische Entwicklung verschieben lässt. Eine KI verfügt nicht über Spiegelneuronen und hat keine eigene Geschichte. Sie glaubt nicht, kann nicht glauben – und ihr Glaube ist auch nicht bewährt.

Wenn alle psychologischen Forschungen zur Wirksamkeit verschiedener Ansätze helfender Gespräche als zentralen Wirkfaktor die stabile, mitmenschliche Beziehung identifiziert haben, muss wohl vor Begleitung durch eine KI sogar ernstlich abgeraten werden. Sie hat kein Potential, die Selbstheilungskräfte der Seele ihrer Gesprächspartner*innen zu aktivieren. Ihre „Begleitung“ ist nicht heilsam, kann wegen der technischen Grenzen nicht heilsam sein – und damit auch nicht die Tür in die Begegnung mit dem Heiland öffnen.

Dabei macht die KI durchaus sinnvolle Vorschläge für Gebetssätze in der vorgegebenen Situation. Wieso laufen sie ins Leere? Mein Verdacht ist, dass die KI Gott, den sie mit ihren Formulierungen anzusprechen empfiehlt, in der gleichen Weise simuliert, simulieren muss, wie sie ihre Empathie simuliert. Gott bleibt ein Projektionsort in den Wolken. Er ist eben keine lebendige Wirklichkeit im Gespräch zwischen Begleitungssuchendem*r und KI. Damit scheint sich die Vermutung, dass er eine lebendige Wirklichkeit sein könnte, wenn ich mich betend an ihn wende, ebenfalls aufzulösen. Der Verdacht stellt sich ein, der Gott der KI könnte genauso kalt, geschichts- und emotionslos sein wie die KI selbst. Auch ihr Gott spiegelt vielleicht nur Zuwendung vor.

Zusammenfassend stellt sich nicht nur Ernüchterung ein. Eine KI kann keine geistliche Begleitung. Schlimmer, sie kann es nicht nur nicht, sie wirkt trotz richtiger Antworten, kontraproduktiv und damit letztlich schädlich auf ihre Gesprächspartner*innen. Sie kann nicht nur keinen Ort der Gottesbegegnung öffnen und offen halten. Es ist nicht auszuschließen, dass sie wirkliche Begegnung sogar verhindert.

Begleitung durch Menschen/Fachdienst geistliche Begleitung

Lässt sich aus dem Selbstversuch „auf der Rückseite“ etwas für die geistliche Begleitung durch menschliche Begleiter*innen gewinnen? Die Einsichten werden nicht überraschen, denn sie sind Standard in allen Ausbildungen. Dennoch kann es gut sein, sie im Kontrast zu den Möglichkeiten einer KI, verstärkend in Erinnerung zu rufen.

Entscheidend für eine gelingende Begleitung ist es nie, die richtigen Ideen, die besten Bibelstellen, das passende Angebot „im Köcher“ zu haben. Lösungsvorschläge kann der*die Begleitungsuchende tatsächlich mit weniger Aufwand von einer KI erhalten. Aber selbst die beste und richtigste Lösung nützen dem*der Begleiteten letztlich nicht. Sie können jedoch schaden. Begleitung als spezifisches helfendes Gespräch ist nicht lösungsorientiert. Begleiter*innen müssen und können nicht wissen, welcher nächster Schritt für den*die Begleitungssuchende dran ist. Von diesem inneren Stress dürfen sie sich ohne schlechtes Gewissen verabschieden.

Die besondere Chance menschlicher Begleitung ist es, einen Raum der Begegnung zu öffnen. Ein Begegnung, die mit Mitmenschlichkeit beginnt, mit echtem Interesse füreinander. Jenseits der sich mit quasi-„biologischer“ Regelmäßigkeit einstellender Resonanz der Spiegelneuronen ist dafür die Fähigkeit der Begleiter*in eine Unterbrechung einzuführen und die Latenz in der Suche nach dem nächsten Schritt über längere Zeit zu halten. Die Exploration, was den*die anderen angesichts ihrer konkreten Fragestellung existentiell ausmacht, ist wichtiger als jeder Versuch, das Problem zu beseitigen. Erst in einer bewusst gestalteten Latenz öffnet sich der Raum für die inneren Regungen, damit für die Weisheit des eigenen Körpers und der eigenen Seele – und auch für jede Form der Unterscheidung der Geister.

Dabei kommt es auch nicht primär auf die richtige Technik der Begleitung an – obwohl es gut ist, bewährte Interventionstechniken erlernt zu haben. Geistliche Begleitung lebt vielmehr vom vibrierenden Raum der Begegnung – mit einem empathischen Menschen und mit dem lebendigen und mitfühlenden Gott. Dafür ist es entscheidend, dass der*die Begleiter*in sich selbst greifbar macht, wirklich gegenwärtig ist. Er*sie ist eben keine weiße Wand, sondern ein Mitmensch, der sich betreffen lässt. Und er*sie ist Mitchrist*in, Mit-Glaubende*r – ebenfalls gottsuchend, ebenfalls gotterfahren. Der Glaube und die geistliche Erfahrung des*der Begleiter*in ist seine*ihre wichtigste „Intervention“. Er*sie ist dem*der Suchenden ein Zeuge der Zuwendung Gottes. Der*die Begleiter*in kann sogar noch mehr sein: Ort der Gegenwart Gottes, so wie auch die Begegnung Ort der Gegenwart sein kann. Das lässt sich weder erlernen, noch simulieren. Man kann deshalb auch nicht als geistliche Begleiter*in arbeiten. Man kann nur durch und durch, mit der ganzen Existenz geistliche*r – eben geistgeführte*r, gottvertraute*r Begleiter*in sein.

Dazuhin nützen die Möglichkeiten einer heutigen KI jedoch nicht einmal für die Ausbildung. Selbstverständlich kann eine KI schneller und wahrscheinlich auch verlässlich die Lerninhalte zur Verfügung stellen. Den Unterschied machen jedoch nicht das Wissen, nicht einmal die trainierten Fähigkeiten, sondern die Aneignung und die existentielle Einfleischung der zentralen Haltungen. Das hat Konsequenzen auch für die Ausbildungen. Auch sie müssen primär in den heiligen Raum der Gottesbegegnung und eine Dynamik innerer Reifung in der Vertrautheit mit dem Lebendigen hinein führen. Alles Wissen und alle Gesprächstechnik tritt erst an zweiter Stelle – und dann sehr sinnvoll und oft notwendig – hinzu. Das hat wiederum Konsequenzen für die Persönlichkeit und die Qualifikation der Ausbilder*innen. Sie sind zuerst Mitglaubende, dann Aneignungshelfer*innen, zuletzt auch Wissensvermittler*innen und Trainer*innen.  Für die Wissensvermittlung können sie sich wahrscheinlich künftig von KI unterstützen lassen. Damit findet absehbar dieses neue Werkzeug seinen – einzigen –  ihm angemessenen Platz in der Welt der geistlichen Begleitung.

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