Papst Franziskus fordert von der Kirche, an die Ränder zu gehen. Er weiß, dass die Kirche vom Rand und von den Randständigen her evangelisiert wird. Am Beispiel der Arbeit mit Gefangenen wird die notwendige Bekehrung, aber auch die Chance gezeigt.
Kirche als Betroffenenbewegung
Text: Angelika Lang – Photo: Leroy_Skalstad /pixabay.com
In Zeiten in denen Terroranschläge unsere Welt scheinbar so unsicher machen und diese Form von Kriminalität in aller Munde ist, beschäftigt sich dennoch kaum jemand mit Randgruppen. Es gibt ein allgemeines Interesse, das da anfängt, wo Menschen geängstigt werden oder zu Schaden kommen, das aber nicht die möglichen Gründe für diese Entwicklung hinterfragt. Man überlässt das Problem den Professionellen und Wissenschaftlern, die eigentlich nur herausfinden sollen, was getan werden kann, damit wir alle besser geschützt sind, ohne dass wir selbst etwas damit zu tun haben wollen. Im Fall Dschaber al-Bakr, der sich in der JVA Leipzig suizidierte, nahm dieses Interesse menschenverachtende Züge an. In den öffentlichen Debatten ging es ausschließlich darum, dass dieser Terrorverdächtige hätte nützliche Informationen liefern können. Es schien niemand zu interessieren, dass hier ein junger Mensch, der noch sein ganzes Leben vor sich gehabt hätte, entschied, es zu beenden.
Mein Lebensthema – mich für „Randgruppen“ und insbesondere Menschen, die eine Haftstrafe verbüß(t)en, zu engagieren – spielt auch kirchlich nur eine geringe Rolle und ist eine „Randerscheinung“. Je nachdem in welchen Kreisen ich mich befinde, erlebe ich mich selbst mitunter am Rand, ohnmächtig und nicht mehr sprachfähig. Durch Papst Franziskus, der das Anliegen der Armen nicht an seinen „Hilfsreferenten“ delegierte, sondern es zur „Chefsache“ erklärte und der es sich nicht nehmen lässt, selbst in Gefängnisse, Einrichtungen für Drogenabhängige, Slums und soziale Brennpunkte zu gehen, flackert das Thema jedoch immer wieder mal auf.
Kriminalität ist nicht nur ein individuelles, sondern vor allem ein gesellschaftliches Problem. Nährboden für kriminelles Handeln sind soziales Unrecht, ungleiche Chancen, Stigmatisierung und Ausgrenzung. Die staatlichen Organe versagen hier regelmäßig. Wäre es nicht beeindruckend, wenn gerade die Kirche „Wege und Lösungen“ anbieten könnte? Würde dies nicht auch die Möglichkeit bieten, dass Menschen und gesellschaftliche Instanzen hellhörig werden, dass Glaube und Kirche als gesellschaftsrelevant wahrgenommen werden?
Die Magdalenas und Levis von heute
Es gibt sie, die Magdalenas und Levis von heute. As Beispiel dafür will ich das von „SET-FREE – Das Netzwerk für Gefangene“ aufgebaute Gefängnisarbeit in der JVA Straubing heranführen. Dort sind mehrere Gefangene (i.d.R. zwischen 8 und 12 Personen) mitverantwortlich für die Gruppenarbeit. Sie führen selbständig Kleingruppen auf ihren Abteilungen durch, motivieren Mitinhaftierte zur Teilnahme an den Gruppen, gestalten Impulse für die offene Gruppenarbeit und bringen sich bei Gottessdiensten aktiv mit ein. Sie beten für die Anstaltsleitung, Bedienstete und andere Gefangene. Gemeinsam bilden sie so etwas wie „Kerngemeinde“ im Gefängnis.
Wenn sog. Schwerverbrecher, wie sie in der JVA Straubing inhaftiert sind, aufbrechen, sich auf Gott einlassen und ihre Gaben entdecken und sichtbar wird, wie aus Straftätern Täter der Liebe werden, dann wird darin etwas von Auferstehung erfahrbar. Im Gefängnis können sie ihre Berufung leben. Ihr Selbstwert wird gestärkt, weil sie handlungsfähig werden und anderen Menschen etwas zu geben haben. In der Kerngemeinde im Gefängnis haben sie geistlich und menschlich Heimat gefunden. Sie werden gebraucht und geachtet und unterstützen sich gegenseitig.
Spätestens zwei Jahre nach der Entlassung ist dann von Berufung nur noch wenig zu spüren, der tägliche Überlebenskampf hat alles verschlungen und die Ausgrenzung der Gesellschaft den Selbstwert wieder zunichtegemacht. Nur ganz wenige halten dem stand und können auch nach der Entlassung etwas von Berufung leben. Ihr Potential verkümmert, weil es keinen Raum bekommt und nicht weiter gefördert wird. In der Kirche, in der es scheinbar an Berufungen mangelt, gibt es doch keinen wirklichen Platz für ihre Berufung. Muss Kirche da nicht hellhörig werden? Sind es nicht von Gott geschenkte Berufungen? Müssen wir nicht Räume schaffen, damit diese Berufungen Raum bekommen?
Ja, es stimmt, sie bleiben meistens unbequem, so unbequem wie das Leben, das sie hinter sich haben. Vielleicht sind „diese Unbequemen“ aber auch ein Geschenk Gottes? Hat Gott selbst nicht auch einen unbequemen Weg für sein Erlösungswerk gewählt? Die Gaben, die Straftäter einzubringen haben, sind u.a. Echtheit und Direktheit. Sie sind diejenigen, deren „böse Taten“ vor Gericht und im Gefängnis immer wieder schonungslos aufs Tablett kamen. In der gleichen Schonungslosigkeit sprechen auch sie Dinge an, die sie bei anderen nicht in Ordnung finden. Und sie reden über ihre Veränderung, was Gott für sie getan hat, wie sie mit ihm leben, manchmal so als würde er persönlich neben ihnen stehen. All das erregt immer wieder Anstoß, es könnte die Kirche aber auch bereichern.
Berufung fördern statt Almosen geben
Das zuvor beschriebene Engagement von Gefangenen aufrecht zu erhalten, ist nicht immer leicht. Im Gefängnis braucht verantwortliche Mitarbeit einen Rahmen, wie die Forderung nach solidarischem Leben und Engagement für andere, Abgrenzung zur Subkultur und entsprechend klares Leben. Andernfalls besteht die Gefahr, dass Gefangene die Vorteile einer Beteiligung an Verantwortung für eigene Zwecke missbrauchen bzw. Macht über andere ausüben. Immer wieder werden diese Regeln aber auch von einzelnen Gefangenen und mitunter auch von Ehrenamtlichen aufgeweicht. Die Versorgungsmentalität sitzt bei allen tief.
In einer Reihe von außergewöhnlichen Projekten für schwererziehbare Jugendliche oder Straftäter wird ein Dualismus von Forderung und Achtung als Schlüssel „für den Erfolg“ betrachtet. F. Lüpke beschreibt beispielsweise, wie in den Gorki Kolonien für verwahrloste und kriminelle Jugendliche des Erziehers Makarenko, die sehr stark auf Selbstverwaltung aufgebaut waren, Anspruch und Achtung miteinander verschmelzen und die Forderung zugleich die Achtung und das Vertrauen in die Fähigkeiten der Jugendlichen darstellt.
Als Seelsorgerin beschreibe ich die Botschaft des Evangeliums ganz ähnlich. Jesus lädt uns nicht zu einem „Kuschelclub“ ein, sondern fordert bis an die Grenzen des Machbaren heraus:
- Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, ist meiner nicht würdig, und wer Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, ist meiner nicht würdig (Matth. 10, 37)
- Wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt und mir nachfolgt, ist meiner nicht würdig (Matth. 10, 38)
- Wer sein Leben retten will, wird es verlieren, wer aber sein Leben um meinetwillen verliert, wird es gewinnen (Matth. 10, 39)
- Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen, damit ihr Söhne eures Vaters im Himmel werdet (Matth. 5, 44)
Partizipation an Verantwortung schließt mit ein, dass Verantwortlichkeit bewusstgemacht und eingefordert wird. Betrachtet man die vorgestellten Textpassagen aus dem Evangelium, so scheint es, dass die Pädagogik Jesu sich sehr ähnlich darstellt. Er stellt sehr hohe Anforderungen an diejenigen, die ihm nachfolgen und Berufung leben (wollen). Gleichzeitig bietet er an, mit IHM zusammen, über sich selbst hinauszuwachsen.
In den zuvor benannten Projekten haben sich Verantwortliche immer auch mit ihrem eigenen Leben eingelassen und wurden Teil des Ganzen. Konnte Jesus diesen hohen Anspruch fordern, weil er sich auch ganz eingelassen hat und als Gott Mensch wurde?
Kirche als Betroffenenbewegung
Kürzlich war ich zu einer offenen Tagung mit dem Titel „Pastoral hinter dem Horizont“ auf dem Mont Sainte Odile im Elsaß. Mir gefiel der Gedanke, der im Laufe der Tage auftauchte, die Zeit auf dem Mont Sainte Odile als Laboratorium zu betrachten und zu erproben, wie Aushandlungsprozesse gestaltet werden könnten. Als Ergebnis derartiger Aushandlungsprozesse würde ich mir vorstellen, dass jede(r) vorkommt, dass jede(r) bekommt was sie/er braucht, um das je eigene Charisma zu entfalten, und jede(r) auch zum Wohl von anderen die eigenen Gaben einbringen und damit die/den anderen bereichern kann.
Die Runde des ersten Tages, der ich mich angeschlossen hatte, war dann für mich ein echtes Highlight. Das Thema der Gruppe habe ich längst vergessen. Was hängenblieb war die Art und Weise des Umgangs miteinander. Wir kamen aus ganz unterschiedlichen Arbeitsfeldern, die wenig miteinander zu tun hatten. Jeder berichtete, was ihm in Bezug auf das Thema ganz persönlich auf dem Herzen lag. Die anderen hörten aufmerksam und achtsam zu, übersetzten das Gehörte auf ihr eigenes Arbeitsfeld und brachten ihre Erfahrungen mit ein. Vom Erleben war, als würden durch dieses aufeinander Hören nicht nur Brücken, sondern ein gemeinsames größeres Ganzes entstehen. Ich fühlte mich „empfangen“ mit dem was mir auf dem Herzen lag und war bemüht in gleicher Weise auch die anderen mit ihren Fragen ankommen zu lassen. Das Besondere war, dass trotz dieser großen Unterschiedlichkeit scheinbar jeder dem anderen etwas zu geben hatte.
Kirche verstanden als geistliches Haus, das von lebendigen Steinen erbaut ist, heißt auch, dass jeder Einzelne „Betroffener“ ist. Egal in welcher Position sich jemand befindet, sie/er ist immer auch lebendiger Baustein und damit „Betroffene/r“. Der Begriff „Betroffene“ stammt aus der Selbsthilfebewegung und gründet sich auf die „Kompetenz der Betroffenen“. „Betroffenenkompetenz“ meint die besondere Fähigkeit, die Menschen durch die Auseinandersetzung mit der eigenen Problematik entwickeln. Daraus erwächst ein Spektrum an Bewältigungsstrategien, das sowohl eine Hilfe darstellt, künftige eigene Probleme besser zu meistern, als auch dazu beitragen kann, anderen Menschen in entsprechenden Lebenssituationen beizustehen. Das war´s. Die erste Runde hatte genau diesen Charakter. Wir sprachen miteinander als Betroffene über unsere Schwierigkeiten und über Lösungswege, die wir schon entdeckt hatten und genau das bereicherte dann den anderen.
Im späteren Verlauf machte ich auch die am Anfang erwähnte Erfahrung von Ohnmacht, Sprachunfähigkeit und mich selbst als Person und mit meinem Lebensthema am Rand zu erleben. Kirche der Betroffenen ist kein Selbstläufer. Ständig muss investiert werden, sonst finden sich, totz alles guten Willens, die Randgruppen wieder am Rand.
Fazit
Aus diesem Erleben würde ich schließen, dass es verschiedene Ebenen braucht. Da es der Kirche vermutlich nicht an einer Hierarchie- und Strukturebene fehlt, will ich hier den Schwerpunkt auf die Betroffenenebene legen.
Charakterisieren wir Kirche als Betroffenenbewegung, dann setzt dies eine Begegnung auf Augenhöhe voraus. Die spannende Frage dabei ist, inwieweit sich eine Betroffenenebene mit der Ebene der Struktur- und Hierarchie verbinden lässt. Eine interessante Meinung vertritt hier J.-O. Wittern, der als Professioneller Selbsthilfegruppen initiierte. Entgegen der Meinung der meisten Vertreter von Selbsthilfeansätzen sieht er keinen Widerspruch zwischen Anleitung und Selbsthilfe. Wittern beschreibt dabei die Aufgabe von Professionellen: Professionelle wurden nicht nur auf Wunsch einer Selbsthilfegruppe als Berater tätig, sondern nahmen von Anfang an als Experten mit Wissen und Autorität an den Gruppen teil. Die Aufgabe der Professionellen sieht er darin, das Selbsthilfepotential zu aktivieren und die Gruppenkohäsion zu fördern. Um beide Funktionen, die des Anleiters und die des Betroffenen zu vereinen verlangt er, dass der Helfer sein Expertenpodest verlässt und sich selbst als unvollkommene Person mit Schwächen und Schwierigkeiten in die Gruppe einbringt, um auf diese Weise als Modell förderlich zu wirken.
Übertragen wir diese Kriterien auf die Kirche würde es bedeuten, dass Verantwortliche der Kirchenverwaltung und in Gemeinden ihre Fachkompetenz dahingehend einbringen, Dinge zu initiieren und Menschen zu aktivieren, während sie sich gleichzeitig auch auf eine Betroffenenebene und damit auf Augenhöhe begeben und sich mit ihren persönlichen Anliegen einbringen. Das erfordert die Fähigkeit eine professionelle Nähe herzustellen, d.h. sich selbst einzubringen, ohne dabei die Distanz zu verlieren, die notwendig ist, um etwas anzuleiten und korrigierend einzugreifen. Wer sich so einbringt und damit Teil des Ganzen wird, wird Freund, Schwester/Bruder … und vermag es dann viel leichter Dinge zu fordern, sofern sie/er das Geforderte auch selbst lebt.
Kirche braucht uns alle als Betroffene, weil wir Glieder an dem einen Leib sind und der Leib nur dann voll funktionsfähig ist, wenn alle Glieder ihren Platz einnehmen:
„Denn wie der Leib eine Einheit ist, doch viele Glieder hat, alle Glieder des Leibes aber, obgleich es viele sind, einen einzigen Leib bilden: So ist es auch mit Christus. Durch den einen Geist wurden wir in der Taufe alle in einen einzigen Leib aufgenommen, Juden und Griechen, Sklaven und Freie; und alle wurden mit dem einen Geist getränkt. Aber der Leib besteht nicht nur aus einem Glied, sondern aus vielen Gliedern. … Der Kopf kann nicht zu den Füßen sagen: Ich brauche euch nicht. Im Gegenteil, gerade die schwächer scheinenden Glieder des Leibes sind unentbehrlich. Denen, die wir für weniger edel ansehen, erweisen wir umso mehr Ehre und unseren weniger anständigen Gliedern begegnen wir mit mehr Anstand, während die anständigen das nicht nötig haben. Gott aber hat den Leib so zusammengefügt, dass er dem geringsten Glied mehr Ehre zukommen ließ, damit im Leib kein Zwiespalt entstehe, sondern alle Glieder einträchtig füreinander sorgen. Wenn darum ein Glied leidet, leiden alle Glieder mit; wenn ein Glied geehrt wird, freuen sich alle anderen mit ihm. Ihr aber seid der Leib Christi und jeder Einzelne ist ein Glied an ihm“ (1. Kor. 12, 12-27).
Vielleicht geht es weniger um Visionen und Strategien als vielmehr darum, zu organisieren, wie wir miteinander auf dem Weg sein können? Und vielleicht müssen wir in den Fokus des Interesses das Bemühen darum stellen, dass alle Glieder des Leibes ihren Platz einnehmen können.
Randgruppen sind wie bei Paulus beschrieben, die schwächer scheinenden Glieder und um in den Worten von Paulus zu bleiben, „weniger edel und weniger anständig“ und doch sind sie „unentbehrlich“. Menschen am Rand sind sehr verletzt durch oft lange erlebte Stigmatisierung und Ausgrenzung. Sie werden den Weg in die Gemeinschaft der Glaubenden nicht schaffen, wenn wir uns nicht bemühen, sie in die Mitte zu nehmen. Kirche wird ohne sie und die Gaben, die sie einzubringen haben, nicht vollständig sein.
In Bezug auf Verantwortliche in der Kirche würde ich behaupten, dass sie nicht nur in ihrer Funktion, sondern auch als Betroffene als Bruder und Schwester in der Kirche gebraucht werden. Sich auf den Weg zu machen, professionelle Nähe zu leben ist sicher immer wieder neu eine Herausforderung aber es ist auch ein Weg, wie wir uns gegenseitig helfen können, im Glauben zu wachsen. Erst dann leben wir echte Augenhöhe so wie Gott selbst, der sich ganz auf die Niederungen des Menschseins einließ.