Hinter den Verbrechen sexuellen Missbrauchs in der Kirche ist eine neue Art des Missbrauchs sichtbar geworden: geistliche Emprise – die Übernahme einer Persönlichkeit durch eine andere Person. Der Artikel erschien zuerst in „Les cahiers de chemin de dialogue“, Marseille 2021.

Manipulation, Ausbeutung und Gewalt: Emprise

Text: Balu, Veronique/Charentenay, Pierre de et al. in: Cahiers des chemin de dialogue, 11, 2021; Übersetzung: Peter Hundertmark – Photo: GregMcMahan/pixabay.com

Seit einigen Jahren wird die katholische Kirche in vielen Teilen der Welt durch die Aufdeckung von Skandalen sexuellen Missbrauchs überrollt. In den letzten Jahren ist dahinter eine neue Art des Missbrauchs sichtbar gemacht worden: geistliche „Emprise[1]“ – ein über längere Zeit stabiles System von Manipulation, Ausbeutung und Gewalt.

Gründer[2] von Gemeinschaften, die als charismatische Persönlichkeiten galten und von den Gläubigen bewundert wurden, erscheinen nun in einem neuen Licht. Sie so wahr zu nehmen ist ebenso unerwartet wie schockierend. Die Grenze zwischen geistlichem und sexuellem Missbrauch jedoch ist oftmals wechselseitig durchlässig. Dieses Artikel soll die psychologischen und institutionellen Mechanismen der spirituellen Emprise beleuchten.

1. Die missbrauchende Person und ihre Falle. Die Taktik der Missbrauchenden

Einige Definitionen vorab:

Missbrauch ist eine Perversion, bei der sich jemand durch Manipulation und absichtlich erzeugter Faszination die Autonomie und Freiheit einer anderen Person aneignet und sie seiner Emprise unterwirft.

Der Täter ist die Person, die – bewusst oder unbewusst – diesen Handlungen ausführt, die darauf abzielen, über den Geist, das Bewusstsein oder sogar den Körper einer anderen Person zu herrschen. Die Täterin wirkt auf den ersten Blick wie eine ganz „normale“ Person, extrovertiert oder zurückhaltend, meist altruistisch, mit einer Persönlichkeit, die markant oder unauffällig sein kann; Er kann gut kommunizieren. Um ihr Ziel zu erreichen, wird der Täter manipulativ alle erdenklichen Mittel einsetzen, um sein Opfer in seine Fänge zu ziehen.

Das Opfer eines solchen Missbrauchs wird nicht „zufällig“ ausgewählt. Die Täterin hat ein nahezu unfehlbares Gespür für die geheimsten Schwächen ihrer Opfer und wird diese geschickt ausnutzen. Das Opfer kann zum Beispiel ein Teenager sein oder eine junge Erwachsene, die sich nach einem sinnvollen, engagierten Leben sehnen, auf der Suche nach dem Absoluten sind oder ein Ideal leben wollen. Es kann sich auch um eine Person handeln, die ihren bisherigen Lebensentwurf gerade in Frage stellt oder sich nach einer Veränderung oder Bekehrung sehnt.

Der Prozess der Emprise

Die Anbahnung einer Emprise verläuft nicht schematisch immer auf die gleiche Weise, aber man findet stets ungefähr die gleichen Schritte:

Vertrauen

Eine Emprise beginnt meist mit dem Aufbau eines Vertrauensverhältnisses zwischen dem Täter und seinem zukünftigen Opfer. Die Täterin schenkt dem Opfer besondere Aufmerksamkeit und hört ihm aufmerksam zu, aber es geht um nichts anderes als um Verführung, zunächst um intellektuelle und/oder geistige Verführung, die später in psychologische und emotionale Verführung umschlägt. Der Täter versucht, eine Art Komplizenschaft mit seinem Opfer aufzubauen. Das Opfer ist vielleicht angenehm überrascht, fühlt sich dann aber geschmeichelt, vor allem wenn die Täterin eine höhere hierarchische Position innehat als es selbst oder in seinen Augen wichtig ist. Das Opfer wird sich also von der Feinfühligkeit, der Aufmerksamkeit und dem Verständnis des Manipulators verführen lassen. Ihre Sehnsucht wird scheinbar von der Täterin erfüllt: moralische und/oder emotionale Unterstützung, Ratschläge, Fürsorge, intellektuelle Entwicklung, Gelegenheit, sich zu engagieren. Schmeicheleien und Komplimente ermöglichen es dem Täter, eine Art Einverständnis mit seinem Opfer herzustellen, so dass diese privilegierte Beziehung von anderen Personen wahrgenommen werden kann, was sie nur noch verstärkt.

Das Geheimnis

Paradoxerweise wird die Täterin meist darauf bestehen, dass die innere Wirklichkeit der Beziehung, die sie als außergewöhnlich, selten, privilegiert oder gottgewollt bezeichnet, geheim gehalten werden muss – mit dem Argument, dass sie vor jedem Eindringen von außen geschützt werden muss, das sie beschädigen oder sogar verfälschen könnte. Das Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem Opfer und dem Täter wird immer enger, je mehr sich andere Bindungen nach „außen“ – sei es in der Familie oder mit Freunden – lösen. In diesem Stadium ist der Betroffene taub für die Warnungen seiner Angehörigen. Die Täterin gibt der Betroffenen die Illusion, einen Mangel oder einen Durst zu stillen, – ähnlich wie bei einer Droge. Von da aus kann der Missbrauch weitergehen.

Die Faszination

Das Opfer fühlt sich als „Auserwählter“ geehrt und beginnt, den Täter zu bewundern, es wird seine Nähe suchen, bis es nach und nach buchstäblich von ihm fasziniert ist. Die Täterin wird sich dann schleichend in sein Leben, seinen Geist und sein Bewusstsein einmischen, bis es ihrem Willen unterworfen ist.

Die Desorientierung

So setzt sich der Täter nach und nach an die Stelle des Willens, der Freiheit und des Gewissens seines Opfers. Dieses ist dann nicht mehr in der Lage, zwischen seinem eignen Innenleben und dem, was die Täterin ihm aufzwingt, zu unterscheiden.

Die Abhängigkeit

Wenn die Falle zuschnappt, kann die missbrauchte Person nicht mehr reagieren. Aus dem Vertrauensverhältnis ist ein Abhängigkeitsverhältnis geworden. Das Opfer spürt, dass etwas nicht stimmt, kann es aber nicht definieren. Es mag sich einer Form von Ambivalenz in dem, was es erlebt, bewusst sein, aber es ist wie betäubt. Es ist in einem Spinnennetz aus Manipulation gefangen.

Die Manipulation

Wenn die Täterin ihr Ziel erreicht hat, kann sie mit ihrem Opfer „spielen“, indem sie die Beziehung „heiß und kalt“ werden lässt, sich über ihr Opfer lustig macht, Ironie einsetzt und auch nicht davor zurückschreckt, es sogar in der Öffentlichkeit zu demütigen. Er glaubt, dass er sich alles erlauben kann und empfindet dabei eine starke Befriedigung. Menschen, die unter dem Einfluss eines „Gurus“ standen, beschreiben, dass sie abwechselnd Wertschätzung – bis hin zu der Überzeugung, dass sie der Liebling des Gurus sind – und kleine oder große Erniedrigungen erfahren haben. Vanessa Springora[3] sagt: „Es gibt viele Arten, eine Person ihrer selbst zu berauben“, und fügt hinzu: „Manche scheinen zunächst ganz harmlos zu sein“. Dazu gehört auch, dass man die Fähigkeiten einer Person herunterspielt. Der Wechsel zwischen Aufwertung und Abwertung trägt zum Prozess des Selbstverlusts bei. Die Person verliert alle ihre Bezugspunkte und jede Orientierung. Sie wird alles tun, um die ideale Beziehung vom Anfang wieder herzustellen. Und genau dadurch aber sie wird immer weiter geschwächt.

Die Zerstörung

Die Abhängigkeit vom Guru in dieser Situation der Emprise, in der keine innere Freiheit übrig ist, führt zu einer Zerstörung der Identität des Abhängigen, der nicht mehr in der Lage ist, seinen Gefühlen zu vertrauen: Sein Denken und seine Auffassungsgabe werden dadurch negativ verändert. Das Leid des Opfer speist sich aus Nichtverstehen, Enttäuschung und (Selbst-)Infragestellung. Am meisten leidet das Opfer jedoch unter dem Eindringen in seine Intimsphäre, das viele als Vergewaltigung bezeichnen. Es wird wirklich in das Bewusstsein eingedrungen. Die Täterin herrscht nun dort.

Es ist ein Gesamt von Fakten, Ereignissen und Worten, die zur Vernichtung der Person und ihrer Freiheit führen. Es ist ein sehr feines Geflecht, das eine Person nach und nach dazu bringt, jeden klaren Gedanken zu verlieren. Jedes einzelne Element, jeder einzelne „Faden“, hat nur geringe Auswirkungen – außer bei sexuellen Übergriffen, wo ein einziger Missbrauch ausreicht, um die Person zu zerreißen. Erst wenn die Fäden des spirituellen Missbrauchs „zusammengestrickt“ werden, entfalten sie ihre volle Schädlichkeit.

Schuld- und Schamgefühle

Hinzu kommt für die Abhängige ein schmerzhaftes Gefühl von Schuld und Scham. Scham ist das Gefühl, nicht würdig zu sein, das Gefühl dem Ideal, das man sich wünscht, nicht entsprochen zu haben. Was in der Emprise geschieht, wird als Verletzung des Schamgefühls wahrgenommen, das eigentlich die körperliche, geistige oder psychologische Intimität einer Person schützt.

Scham und Schuld sind dabei zwei Empfindungen, die sich oft gegenseitig „antworten“ und negativ stabilisieren. Die Scham darüber, dass man sich in diese Beziehung hat hineinziehen lassen, dass man nicht widerstehen konnte, dass es „so weit gekommen ist“, kommt zur Scham über den Missbrauch selbst hinzu. Unweigerlich entsteht daraus das Gefühl der Schuld: Wenn ich mich schäme, habe ich etwas falsch gemacht. Schuld setzt zwar eigentlich eine tatsächliche Schuld voraus, doch bei Missbrauch empfindet das Opfer in sich das schmerzhafte Gefühl vor, schuldig zu sein, ein Gefühl, das sich oft diffus und unklar äußert. Der Täter hingegen empfindet nie Scham. Er sorgt dafür, dass sich das Opfer schämt. Das Opfer gibt sich fast immer selbst die Schuld an der Situation, weil es nicht auf sich selbst aufgepasst hat, die Missbrauchende nicht durchschaut hat, der Beziehung zugestimmt oder sie sogar provoziert hat. Die Geschicklichkeit des perversen Täters besteht darin, die Scham, die eigentlich seine eigene sein sollte, auf sein Opfer zu projizieren. Der Missbrauchte nimmt die Scham und die Schuld der Täterin auf sich, die sie selbst jedoch nicht empfindet.

Die komplexe Persönlichkeit des Täter

Nicht alle Fälle geistlichen Missbrauchs wurzeln in einer schwer gestörten Persönlichkeit. Dennoch weisen alle Missbrauchsfälle als persönliche und/oder kollektive Fehlentwicklung auf mehr oder weniger schwere psychische Störungen hin. Wenn die Täterin sehr schwer gestört ist, ist sie sich nicht bewusst, was sie tut, und handelt aus einer unbewussten psychischen Dynamik heraus. Aus diesem Grund leugnet er seine Taten immer und kann sie auch dann nicht zugeben, wenn sie bewiesen sind. Indem sie den Missbrauch begeht, sucht sie unbewusst tief in seinem Inneren nach etwas Verlorenem, tief Verschüttetem, das als unerträgliches Leid oder Trauma empfunden wird und für das sie sich rächen will. Diese Rache kann als eine Art unverhältnismäßige Reaktion auf eine erlittene Kränkung verstanden werden. Der Täter hat keine Gefühle, und sein Opfer ist für ihn nur ein Mittel zu Befriedigung seiner unbewussten Bedürfnisse. Sie reproduziert damit einen Teufelskreis, den sie sich selbst aufgebaut hat und aus der sie nicht herauskommt. Für ihn existiert der Andere als Subjekt nicht.

2. Das schwierige Problem der Zustimmung

Die missbrauchte Person empfindet oft eine hartnäckige Scham bei dem Gedanken, bei etwas „zugestimmt“ zu haben, was sie eigentlich nicht wollte. Um sich aus der Emprise zu befreien und nach und nach zu gesunden, muss sich die missbrauchte Person dem stellen, dass sie (scheinbar) zugestimmt hat. Die daraus resultierenden Schuldgefühle stehen in direktem Zusammenhang mit dem Bewusstsein, manipuliert worden zu sein.

Um das Phänomen der Emprise zu verstehen, müssen wir zwischen respektvollen Beziehungen zwischen einwilligenden Erwachsenen einerseits und missbräuchlichen, d. h. nicht einwilligungsfähigen Beziehungen und Situationen andererseits unterscheiden. Die Frage der „Einwilligung“ ist ein zentrales Element im Phänomen der Emprise.

Ein sozialer Akt

Einwilligung bezeichnet eine Übereinstimmung, Konformität oder Gleichförmigkeit der Meinung in vielen Bereichen des täglichen Lebens. Eine Zustimmung zu geben bedeutet, mit demjenigen übereinzustimmen, der die Zustimmung einfordert.

In Frankreich wurde die rechtliche Frage der freien und informierten Zustimmung im Code Civil (1804) zum Schutz der Unterzeichner eines Vertrags eingeführt. Gestützt auf das in der Aufklärung vorherrschende Prinzip der Willensautonomie schützt es die Vertragspartner vor Verfälschungen des Einwilligung: durch Irrtum, Täuschung (Manipulation) und Gewalt.

Die entscheidende Frage ist also, wie es um den freien Willen derjenigen, die zustimmt, bestellt ist. Der Begriff der Einwilligung hat sich dabei in den letzten Jahrzehnten stark gewandelt und den rein wirtschaftlichen Rahmen verlassen. Der Begriff wird heute auch auf ethische Fragen angewandt. Die Fragestellung hat sich mit der zunehmenden Autonomie des Individuums erweitert. Eine Einwilligung muss, um gültig zu sein, frei, aufgeklärt und kompetent sein. Letzteres bedeutet, dass ein Individuum psychologisch und rechtlich in der Lage sein muss, dem, was ihm vorgeschlagen wird, zuzustimmen.

Ein intimer Akt

Jeder Mensch ist ein Beziehungswesen. Sein Leben wird von seinen zwischenmenschlichen Beziehungen genährt, aber auch von seinen Beziehungen zu Gruppen, zu denen er gehört, seiner Beziehung zur Welt, zu den Kulturen und zur Natur. Es ist der andere, der mich mir selbst offenbart und es mir ermöglicht, zu existieren.

Die missbrauchte Person befindet sich in einem Dilemma: Sie spürt zugleich die Anziehungskraft der missbrauchenden Person, die sie so sehr bewundert, die ihr das intensive Gefühl gibt, „auserwählt“ zu sein, und hört zugleich die leise Stimme in sich, die flüstert, dass etwas nicht stimmt. In ihrer tiefen Verwirrung erscheint ihr zunächst das Einverständnis und dann die Verdrängung der einzige Ausweg zu sein.

Es ist daher wichtig, sich zu fragen, was bei einem Missbrauch, sei es spiritueller oder sexueller Natur, passiert. Der Missbrauch eignet sich die vitale Dynamik der „Selbstwerdung“ an. Aus diesem Grund sind Jugendliche und junge Erwachsene besonders betroffen. Selbstwerdung ist ein Grundbedürfnis, das sich aus einem doppelten Bedürfnis entwickelt: dem Bedürfnis nach Bindung und Vertrauen und dem Bedürfnis nach Trennung und Selbstständigkeit.

Der Täter spielt genau mit dieser doppelten Wirklichkeit: Zunächst trennt sie das Opfer von seinen bisherigen Bindungen, dann pervertiert sie das Bedürfnis nach Bindung und lenkt es auf sich selbst, indem sie jegliche Trennung zu verhindern sucht. Um eine Trennung unmöglich zu machen, zeigt die missbrauchende Person abwechselnd Zuneigung und Verachtung. Auf diese Weise wird das Opfer nach und nach in Selbstzweifel verstrickt, die es in einen extremen Zustand der Verwirrung stürzen. Dieser Zustand der Verwirrung, Ohnmacht und Selbstabwertung ist unerträglich. Um ihm zu entkommen, willigt das Opfer lieber ein.

Ein moralische Akt

In der Ethik ist Einwilligung ein freier Akt des Denkens, durch den sich das Individuum verpflichtet, etwas zu akzeptieren oder zu vollbringen. Einwilligung setzt Freiheit voraus: die Freiheit zu wählen. Um wählen zu können, muss man die Wahl haben und somit die Möglichkeit, „Nein“ zu sagen. Es ist diese Selbstverständlichkeit, die in der Situation der Emprise vernebelt ist. Eine informierte Einwilligung erfordert die gleiche Würde und Augenhöhe zwischen zwei Erwachsenen. In einer asymmetrischen Beziehung – wie der zu einem Vorgesetzten, einer geistlichen Begleiterin, einem Beichtvater, einer Erzieherin… – wird diese Augenhöhe dadurch hergestellt, dass dieser Vorgesetzte, die Erzieherin, der Begleiter den anderen, für den er verantwortlich ist, aufklärt, zum Denken anregt und zur Autonomie erzieht. Auf der spirituellen Ebene begleitet sie die Beziehung zu Gott und muss sich dabei als Mensch komplett zurücknehmen, wie es beispielsweise Philippus gegenüber dem äthiopischen Kämmerer in der Apostelgeschichte tut (8,39). Diese gleiche Würde und Augenhöhe wird in Situationen der Emprise verneint und aufgehoben, wenn die Vorgesetzte, der Erzieher oder die Begleiterin ihren Einfluss nutzt, um die Sehnsucht des anderen auf sich selbst zu lenken. Ein solche manipulative Situation macht die Einwilligung immer ungültig.

In ihrem Buch zu diesem Thema, das auf ihren eigenen Erfahrungen beruht, macht Vanessa Springora  hinter dem Begriff „Einwilligung“  mit seiner Ambivalenz die Wirklichkeiten von „Verletzlichkeit“ und „Opfer“ sichtbar: „Verletzlichkeit ist dieser winzige Spalt, durch den Täter eindringen können. Da scheinbar kein Schmerz vorliegt, kein Zwang geschieht, kann also keine Vergewaltigung geschehen sein. Das ist es, was das Phänomen der Einwilligung so gefährlich macht. Sehr häufig findet man bei sexuellem Missbrauch oder Ausbeutung die gleiche Realitätsverweigerung: die Weigerung, sich selbst als Opfer zu betrachten. Denn wie kann man zugeben, dass man missbraucht wurde, wenn man nicht leugnen kann, dass man einverstanden war? (…) Jahrelang kämpfte ich mit dem Begriff des Opfers und war unfähig, mich darin wiederzuerkennen.“ Die Autorin erklärt, wie sie jahrelang gebraucht hat, um sich selbst als Opfer zu erkennen. Der Begriff störte sie, weil es ihr so vorkam, als hätte sie zugestimmt. Sie brauchte Hilfe, um sich als Opfer zu erkennen. Sie weigerte sich jedoch, in diesem Zustand zu verharren: „Worte zu finden, Tatsachen zu beleuchten, Wahrheiten auszusprechen und sie aus dem Nichts herauszuholen, in dem sie sich bis dahin befunden hatten, bedeutet nicht, sich zum Opfer zu machen. Für mich war es ein Schritt, mich als Opfer zu wissen, aber ich fühle mich nun nicht mehr als Opfer.“

Der Weg der Gesundung und Befreiung ermöglicht es, das Selbstwertgefühl und die verlorene Würde wiederzuerlangen. Diese Überlegungen sind wichtig, um den Weg der Opfer und die lange Zeit zu verstehen, die sie benötigen, um von der toxischen Erfahrung, die sie durchlitten haben, erzählen zu können.

3. Die Merkmale einer spirituellen Emprise

Die Ausübung von Autorität, sowohl im religiösen Leben als auch in der spirituellen Begleitung, kann zu Entgleisungen und Fehlentwicklungen führen, ohne dass es sich dabei immer um echten Machtmissbrauch oder Missbrauch des Gewissens handelt.

Mögliche Arten von Fehlentwicklungen

Im Ordensleben kann es beispielsweise vorkommen, dass ein Vorgesetzter seine Macht oder sein Wissen dazu nutzt, die Personen, für die er verantwortlich ist, bewusst oder unbewusst zu unterwerfen. Sie kann ihre Verführungskraft, ihre Ausstrahlung nutzen, um andere zu beeinflussen und Entscheidungen allein zu treffen.

In der spirituellen Begleitung ist der banalste Fall, vor dem niemand gefeit ist, dass man Entscheidungen anstelle der Person trifft, die man begleitet. Wenn jemand um Rat oder Hilfe bei einer Entscheidung bittet, ist die Versuchung groß, der Bitte nachzukommen und eine Lösung zu finden, ohne dem anderen die Mittel an die Hand zu geben, die Entscheidung selbst zu treffen.

Andere mögliche Entgleisungen in der Begleitung: der Begleiter versucht dem Bild zu entsprechen, das sich der Begleitete von einem Experten für das geistliche Leben macht; oder es wird eine Beziehung emotionaler Anhänglichkeit aufrecht erhalten, bei der die Begleiterin oder die Begleitete versuchen, der anderen zu gefallen oder ihre Erwartungen zu erfüllen…

Von der Einflussnahme zum Missbrauch

Von geistlichem Missbrauch spricht man, sobald es zu einer Einmischung oder einem gewaltsamen Eindringen in das Gewissen einer anderen Person oder in ihre engste Beziehung zu Gott kommt. Der Missbrauch gibt ist die Übernahme der Macht über das Gewissen eines anderen. Niemand aber hat legitim Macht über das Gewissen einer anderen Person. Im geweihten Leben zum Beispiel muss das Gelübde des Gehorsams immer in einer guten Balance mit Gedankenfreiheit und Gewissensfreiheit stehen.

Missbrauch findet statt, wenn die Rollen verwechselt werden. Dies ist zum Beispiel der Fall, wenn sich eine Vorgesetzter (Forum externum) sich als geistliche Begleiterin (Forum internum) aufdrängt -wie man an Fehlentwicklungen innerhalb einiger Gemeinschaften sehen konnte – oder wenn eine Begleiterin oder ein Beichtvater sich Autorität über das Intimleben der begleiteten Person anmaßt. In manchen Gruppen kommt es vor, dass der Gründer oder Vorgesetzte in gewisser Weise die Stelle Christi einnimmt: Die Mitglieder verehren sie, leisten ihr unbedingten Gehorsam und nehmen ihre Worte und Schriften als „Wort Gottes“ entgegen. Dies öffnet Missbrauch aller Art Tür und Tor. Die Verantwortlichen aber verstehen in einem solchen System jeden Widerspruch und jeden Hinweis auf Missbrauch als persönlichen Angriff auf sich selbst und auf Gott, sowie als ungerechtfertigte Verfolgung ihrer Person.

Die verschiedenen Stufen der Emprise

Erste Stufe

Der geistliche Leiter spricht vermeintlich im Namen Gottes, er behauptet, von Gott inspiriert zu sein. Dies ist besonders gefährlich, wenn ein junger Mensch sich Gedanken über seine Zukunft und seine Berufung macht. Aus Angst, das zu verpassen, was Gott von ihr erwartet, läuft sie Gefahr, sich auf ein Wort der Autorität zu verlassen, das illegitim über ihre Suche entscheidet. Einige Gemeinschaften verhalten sich so, sie nutzen (bewusst oder unbewusst) diesen Moment großer Verletzlichkeit aus, um ihre Mitglieder zu rekrutieren. Sie stützen sich auf die Großzügigkeit und die Sehnsüchte der Menschen, setzen psychologischen Druck und Verführung ein, um die Reaktion der Person zu beeinflussen, und sprechen dabei angeblich im Namen Gottes und nehmen in gewisser Weise seinen Platz ein. Der Prozess der Einflussnahme beginnt also mit der Verführung: Der Vorschlag, der der Person gemacht wird, entspricht auf den ersten Blick ihrem spirituellen Wunsch und ihren Sehnsüchten. Danach aber entsteht ein emotionales Abhängigkeitsverhältnis, das jeden kritischen Geist erstickt.

Zweite Stufe

Die Leiterin, die Vorgesetzte oder der Beichtvater verlangen von der geführten Person eine völlige Öffnung ihres Innenlebens, er verpflichtet sie zu uneingeschränkter Transparenz. Das Innerste der begleiteten Person wird in Besitz genommen. Dies wird immer als Gewalt empfunden. Es gibt aber bereits im Erleben keinen geschützten, für andere unzugänglichen Raum der Beziehung der begleiteten Person zu Gott mehr.

Dritte Stufe

Die geforderte Transparenz geht in der Regel mit der Forderung nach völliger Unterwerfung unter die Anweisungen des Täters einher. Die Forderung nach totalem Gehorsam ist leugnet die Gewissensfreiheit und betäubt sie nach und nach. Da die Vorgesetzte oder der geistliche Begleiter davon ausgeht, dass sein Wort Gottes Wort ist, bedeutet ihr zu gehorchen, Gott zu gehorchen. Auf Seiten der begleiteten Person kann es so zu der Überzeugung kommen, dass eine eigene geistliche Unterscheidung nicht mehr notwendig ist: Gehorsam und „den Willen Gottes tun“ sind durch den Täter in manipulativer Absicht miteinander identifiziert worden. Es kommt zu einer Aufgabe des eigenen Urteilsvermögens und zu einem blinden Vertrauen in die Autorität. Wenn in einem solchen Kontext eine Person es wagt, Zweifel zu äußern oder zögert zu gehorchen, wird ihr gesagt, dass dies eine Versuchung des Teufels ist, dass sie das Werk des Versuchers tut.

Marie-Laure Janssens[4] berichtet aus der Zeit, als sie noch Ordensfrau war, von einer ständigen Ambivalenz zwischen aufrichtiger Zustimmung zu einem anspruchsvollen Lebensprojekt und anhaltenden Zweifeln über ihre Berufung. Es wurde ihr jedoch untersagt, ihre Fragen irgendjemandem – sei es einem Priester oder Beichtvater – mitzuteilen. Ihr wurde gesagt, dass der Teufel in diese Lücke stößt und sie davon abhalten wird, den steilen Pfad der Heiligkeit weiterzugehen. Man ließ sie glauben, dass jede Frage vom „Bösen“ kommt.

Die manipulative Autorität profitiert von der emotionalen Unreife des anderen oder von seiner vertrauensvollen Großzügigkeit. Gerade im Kontext des Geweihten Lebens ist es leicht, die Sehnsucht einer jungen Person nach dem Absoluten, nach Selbsthingabe und Heiligkeit zu instrumentalisieren.

Vierte Stufe

Der letzte Grad ist der der eigentlichen Emprise, die eine Machtübernahme über die Person auf emotionaler, psychologischer, spiritueller und manchmal auch körperlicher Ebene darstellt.

Das Prinzip der manipulativen Gedankenumbildung

Wie ist es dazu gekommen? Eine Aussteigerin sagt im Rückblick auf ihre Erfahrungen: „Ich wäre nie Anhängerin dieser Gemeinschaft geworden, wenn ich nicht zuerst einen gewissen Nutzen daraus gezogen hätte. Die Sekte ist gleichzeitig diejenige, die raubt und diejenige, die gibt, sie verabreicht abwechselnd das Gift und das Gegengift“. Es findet ein regelrechter Prozess der manipulativen Gedankenumbildung statt. Die Prinzipien des spirituellen Lebens werden verdreht: Gehorsam wird zur Unterwerfung des Verstandes, einer Unterwerfung, die das Risiko mit sich bringt, jeden persönlichen Gedanken zu verlieren; Demut wird zur Erniedrigung; Selbsthingabe wird zur Selbstverleugnung. Die Aufforderung, Gott überall, immer und für alles zu danken, ohne unterscheiden zu dürfen, macht blind für die tatsächliche Situation und führt dazu, Gott auch für Unmenschliches zu loben, da er uns durch das erlebte Leid mit der Passion Christi vereint. Es wird bedingungslose Vergebung gefordert, auch wenn der Täter nicht bereut. Es wird der Eindruck erweckt, dass nicht zu vergeben bedeutet, das Risiko einzugehen, Gottes Vergebung nicht zu erhalten. Das Schweigen kann unter verschiedenen Vorwänden zu einem Sprechverbot werden: um angeblich die empfangenen Gnaden nicht unangemessen öffentlich zu machen, oder um die Einheit der Gemeinschaft zu bewahren. Das Schweigen, das eigentlich ein Sprechverbot ist, kann auch als Fortschritt im geistlichen Leben dargestellt zu werden. Die Abfolge von widersprüchlichen Anweisungen führt zu einer intellektuellen und emotionalen Verwirrung, die die Person unfähig macht, zu unterscheiden. In diesem Fall kann man von geistiger (Selbst-)Entfremdung sprechen: Jegliche Unterscheidung ist unmöglich, das Bewusstsein selbst ist betäubt.

4. Der institutionelle Umgang mit Missbrauch

Wie gehen die Institutionen – Diözesen, Gemeinschaften … – mit dem Thema des geistlichen Missbrauchs um? Ein häufig vorgebrachtes Argument ist, dass man „schmutzige Wäsche in der Familie waschen“ müsse. Es gibt eine unglückliche, nicht dem Evangelium entsprechende Tendenz, die Institution zu schützen und das Opfer zu missachten, obwohl Jesus uns auffordert, uns um die Schwächsten zu kümmern.

Die Risiken für die Person, die den Missbrauch anzeigt

Wie lässt sich erklären, dass beispielsweise die Mitglieder eines Provinzrates nicht reagieren und der Rat einstimmig der Nichtbehandlung eines Missbrauchs zustimmt? Die künstliche Einstimmigkeit in einer Gruppe kann dadurch erklärt werden, dass keines ihrer Mitglieder bereit ist, die heiligen Bande, die sie verbinden, zu zerreißen; denn wer sich widersetzen würde, würde seinerseits zum Feind aller werden. Die Person, die sich beispielsweise gegen die mobbende Vorgesetzte auflehnt, um ein anderes Mitglied der Gemeinschaft zu verteidigen, würde selbst zum Opfer und ausgegrenzt. Wenn die Mitglieder einer Gruppe nicht ein so idealisiertes Bild von sich selbst hätten, würden sie sich sofort auf die Seite des Opfers schlagen. Allzu oft herrscht jedoch ein Clan- oder Korpsgeist, sei es innerhalb einer Gemeinschaft oder innerhalb des Klerus: Alles wird getan, um das Image der Gruppe nicht zu beschädigen.

Das Problem verschieben, um es nicht lösen zu müssen

Viel zu lange wurde die Lösung darin gesehen, die Missbrauchende zu versetzen, aber das Problem wird dadurch nicht gelöst. Der Täter erhält zu wenig Unterstützung, obwohl er dringend Hilfe benötigt, um einen Rückfall und eine Wiederholung der Tat zu vermeiden. Indem man sie einfach nur versetzt, führt man sie in ihre eigene innere Gefangenschaft, zu ihren inneren Dämonen und ihre Einsamkeit zurück: Anstatt mit ihm, die ihm vorgeworfenen Taten anzusprechen, eventuell auch die Taten aus Verantwortung für künftige Prävention öffentlich zu machen, kettet man den Missbrauchenden an seine Taten, indem man um ihn herum eine Mauer aus Lügen aufbaut. Die Person ist immer größer als das, was sie tut: Indem man die Tat nicht öffentlich verurteilt, lässt man die Person in ihrer Einsamkeit gefangen und verhindert, dass sie aus ihrem Teufelskreis ausbricht. Die Missbrauchende nicht zu bestrafen, bedeutet, der Bekehrung keine Chance einzuräumen. Eine Bekehrung ist jedoch notwendig. Sie muss anschließend unbedingt von einer therapeutischen Betreuung begleitet werden. Strafe und Wiedergutmachung in der einen oder anderen Form sind notwendig. Vergebung kann nur nach einer Strafe erfolgen, die die Taten und das Leid des Opfers anerkennt.

Eine Kultur der Lüge

Wenn eine Gemeinschaft mit der Entgleisung eines ihrer Mitglieder konfrontiert ist, kommt es vor, dass man die Fakten, die den ganzen „Körper“  der Gemeinschaft beflecken, vor den jungen Mitgliedern, vor Novizen oder Seminaristen verbirgt. Anstatt die Dinge beim Namen zu nennen und die Wahrheit zu sagen, erfindet man eine Geschichte, die sie vernebelt. Dies ist umso schlimmer, als die Mitglieder, die so im Unklaren gelassen werden, Gefahr laufen, später die Kultur der Lüge zu reproduzieren, wenn sie ihrerseits in Verantwortung stehen. Das Verschweigen der Wahrheit führt zu einer pervertierten Wirklichkeit: Das Opfer wird negiert, wird zu einem „Nichts“ gemacht, was eine neuerliche Gewalt zur ursprünglichen Gewalt hinzufügt; gleichzeitig wird der Täter nicht nur von seiner Schuld entlastet, sondern erscheint in den Augen der Gemeinschaft als Opfer, wenn zum Beispiel die Oberen aus einem fadenscheinigen Grund darum bitten, für ihn zu beten.

Ohne Gerechtigkeit kann es keine persönlichen Gesundung – sowohl beim Opfer als auch bei der Täterin – geben. Die Gemeinschaft verstrickt sich auf diese Weise hartnäckig in Lügen, anstatt ihre innere Funktionsweise zu hinterfragen. Das Problem ist also systemisch: Es ist ein System, eine Struktur der Sünde entstanden, die es unverzüglich aufzuklären und aufzulösen gilt.

Jede Geschichte, die konstruiert wird, um die Wahrheit zu verbergen, bedeutet, die Perspektive des Missbrauchers einzunehmen. Die einzige Möglichkeit, diesem Mythos ein Ende zu setzen, besteht darin, die Perspektive des Opfers einzunehmen.

Das Heilige auf Abwegen

Der klerikale Stand dient oft als Brandbeschleuniger für Missbrauch. Er führt tatgeneigten Personen ständig eine potentiell zu beherrschende „Klientel“ zuführt. Er gibt eine Autorität, die Missbrauch ermöglicht, einen sozialen Status, der den Täter schützt und ihm eine Illusion von Allmacht und Straffreiheit vermittelt. Wie können wir als Jüngerinnen Jesu einen solchen Klerikalismus akzeptieren? Priester oder Leiterinnen und Leiter von Gemeinschaften werden nach wie vor ungesund idealisiert und sakralisiert, was sie unantastbar macht. Jesus ist gekommen, um diese Unterscheidung zwischen profan und heilig neu zu definieren: Was in der neuen Ordnung des Evangeliums heilig ist, ist die menschliche Person und nicht mehr ein bestimmter Status oder eine bestimmte Funktion.

5. Befreiung aus der Emprise

Die Person, die unter Emprise steht, ist wie in einem Gefängnis, in dem es weder Türen noch Fenster gibt. Sie ist eingesperrt, kann und will nicht ausbrechen, ist wie geblendet.

Das Umfeld der Person, die unter Emprise steht

Die Person unter Emprise lebt gleichzeitig in mehreren sozialen Kontexten. Den ersten Kontext bilden die Angehörigen, Freunde und die Familie, zu denen sie seit Jahren ganz selbstverständlich gehört. Der zweite Kontext ist die religiöse Gruppe, in der sie sich engagiert hat, zu der auch der Missbrauchende gehört. Der dritte Kontext ist das kirchliche Umfeld (Diözese, Kongregation …), zu dem die Gemeinschaft oder Gruppe gehört. Bei diesem kirchlichen Umfeld liegt die Verantwortung für die Qualität des pastoralen und geistlichen Lebens in seinem Zuständigkeitsbereich.

Manchmal haben Freunde und Familie der Person unter Emprise versucht, ihr die Augen zu öffnen. Sie haben alle Register der Überzeugungsarbeit gezogen und unzählige rationale oder emotionale Gründe angeführt. Nichts hat geholfen! Sie hört nichts, sie wehrt sich sogar gegen die Vorstellung, in einer Emprise eingesperrt zu sein: Sie ist sich dessen noch nicht bewusst. Menschen guten Willens haben versucht, sie abzulenken, sie auf andere Gedanken zu bringen, ihre Beziehungen und ihren Tagesablauf umzukrempeln. Nichts hat geholfen!

Für die Angehörigen ist es schwer, sich das Scheitern zuzugeben. Aber Fachleute bestätigen aufgrund zahlreicher Erfahrungen: Eine Person unter Emprise kann nur aus eigener Kraft aus diesem Zustand auszusteigen beginnen. Die Frage, die sich stellt, ist: Wie kann dieser Ausstieg gelingen?

Ein heilsamer Auslöser

Wenn man sich die verschiedenen Berichte anhört, stellt man fest, dass es jedes Mal eine Art Auslöser gab, der nach und nach den Ausbruch aus diesem Gefängnis ermöglicht hat. Manchmal geschieht dies einige Jahre nach der Verstrickung, in anderen Fällen muss eine viel längere Zeit abgewartet werden. Die Auslöser können sehr unterschiedlich sein. Es kann sein, dass die offensichtliche Lüge der Missbrauchenden ans Licht kommt. Das kann passieren, wenn der Täter zu weit geht, zu viel von der Missbrauchten verlangt oder zu gewalttätig wird.

Wie viel es braucht, damit der Prozess der Befreiung beginnt, kann niemand vorher sagen. Es kann mit einer winzigen Kleinigkeit beginnen oder mit einem schwerwiegenden Ereignis, das dem Missbrauchten endlich die Augen öffnet. Der Auslöser selbst kann nicht absichtlich herbeigeführt werden, und wer es versuchen wollte, würde Gefahr laufen, gegen die Mauer der Täteridentifikation zu laufen, die die missbrauchte Person dazu bringt, den Täter zu verteidigen. Es ist verständlich, dass es die Angehörigen der missbrauchten Person in Verzweiflung stürzt, aber die Initiative zur Befreiung kann nur in der Person selbst entstehen.

Ist aber ein Anfang gemacht, wird die Person die ganze Hilfe der ihr nahestehenden Menschen brauchen, denn sie verfügt selbst nicht über die Mittel, sich zu befreien. Vielleicht wird sie von der neuen Freiheit, die sich auftut, wie geblendet sein, so dass sie nicht ahnt, welchen Weg sie einschlagen soll und auch nicht, welche Unterstützung sie wirklich braucht. Diejenigen, die ihr am nächsten stehen, sind vielleicht nicht diejenigen, die am besten helfen können. Aber sie sollten sich bereithalten. Denn niemand weiß, in welchem Zustand sich die missbrauchte Person befindet: Hat sie noch Ressourcen, um neu zu starten? Ist sie innerlich so zerstört, dass er sich keinerlei Orientierung mehr hat?

Die Verbindung mit der missbräuchlichen Person und dem toxischen Kontext abbrechen

Eine Bindung, vor allem wenn sie sehr tief war und lange angedauert hat, kann nicht mit einem Schlag durchtrennt werden. Rückfälle aber bergen immer die Gefahr, dass die Emprise wieder auflebt und erneut schwer zu durchtrennen ist. Die Trauer über den Bindungsverlust kann vom Missbraucher genutzt werden, um die Emprise wieder aufzubauen. Und da das Opfer immer auch etwas Positives für sich in der Emprise gefunden hat, kann es sogar in sich massive Widerstände entwickeln, die Missbrauchende zu verlassen.

Wenn es darum geht, sich aus der Emprise einer Gruppe zu lösen, ist es für die betroffene Person entscheidend wichtig, sich sehr schnell und vollständig von der Gruppe zu distanzieren. Jedes Zögern ist für die Gruppe eine Gelegenheit, die Emprise wieder herzustellen. Sollte nachträglich noch ein Treffen notwendig sein, um einige praktische Probleme zu besprechen, sollte dies immer in Anwesenheit einer dritten Person geschehen, die das Wiederaufleben der Emprise verhindert. Je tiefer die Wunden sind, je umfassender die psychologische Störung ist, desto schwieriger wird der Ausstieg sein. Aber ohne konsequenten Ausstieg aus der Emprise, ihrem Umfeld und den sie tragenden Beziehungen, ist eine Gesundung nicht möglich. Gleichzeitig ist jeder Fortschritt in der Gesundung wie eine Bestätigung dafür, dass man aus der Emprise herausgekommen ist. Es braucht Zeit, bis sich die Person auch innerlich aus der Emprise löst, die Fesseln lockert, die sie an den Missbraucher binden, bis sich der „Zauber auflöst“. Vanessa Springora spricht in einem Wortspiel von „Déprise“ – zu Deutsch „Ent-eignung“ oder „Entfesselung“. Nach der „Entfesselung“ wird die Person im Laufe der Gesundung nach und nach zu ihrer eigenen Emotionalität, zu ihrer Würde und ihrer wirklichen Identität zurückfinden. Ein wirklicher Neuanfang ist möglich, auch wenn immer ein „Abdruck“ bleibt, assoziativ vergleichbar den Stigmata des Auferstandenen.


[1] Für das Wort „emprise“ gibt es in diesem Kontext keine einfache deutsche Entsprechung. Es bedeutet Einflussnahme, Umklammerung oder Zugriff. Verwendet wird es, um eine systemische Gesamtsituation aus Manipulation, Ausbeutung und Gewalt zu beschreiben, Der Vorteil des Wortes „emprise“ ist, dass es auf die Tatperson und ihre Verantwortung verweist, während „Abhängigkeitsbeziehung“, zwar die gleiche Situation beschreibt, aber die Betroffenen ins Licht rückt und ihnen eine „Verantwortung“ nahelegen kann. „Emprise“ wird deshalb im Folgenden als Fremd- und Fachwort beibehalten.

[2][2] Um einer besseren Lesbarkeit willen werde ich abwechselnd männliche und weibliche Zuschreibungen verwenden. Es sind aber immer alle Personen, unabhängig von ihrer geschlechtlichen Identität, gemeint.

[3] Springora, Vanessa: Die Einwilligung. München 2020.

[4] Janssens, Marie-Laure: Le silence de la Vierge. Paris 2017

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