Eine ungewöhnliche Begegnung, die ein Fenster öffnet auf eine tiefe spirituelle Erfahrung, die sich auf jedem Glaubensweg auftun kann: Das Mitfühlen mit Jesus – in seinem Leben, in seiner Passion und in seiner Auferstehung. Verheißung einer wirklich wechselseitigen geistlichen Beziehung.

Ostern bei L.

Text: Martina Patenge – Photo: watcharaph/pixelio.com

Er hat bessere Zeiten gesehen in seinem langen Leben. Krawatten und Sakkos an den Türen der winzigen Wohnung erzählen von seiner Zeit als Geschäftsmann. Viel Geld hat er verdient – und viel ausgegeben. Er war in fast allen Ländern der Erde, oft mehrmals. Ich drücke mich an Bücherstapeln, Bildern, Kisten mit Wäsche und an Andenken vorbei, um an seinem Bett sitzen zu können. „Das ist alles, was ich noch habe“, sagt er und sinkt erschöpft in sein zerwühltes Bett. Ein schwerkranker, alter, zahnloser, kindlich gewordener Mann. Alle vier Wochen besuche ich ihn, höre seinen Lebenserzählungen zu,  seinen Glaubensfragen. Manchmal beten wir miteinander. Oft, sehr oft hat er entsetzliche Angst und ruft laut nach Jesus. Dann gebe ich ihm ein kleines Kreuz in die Hände, das er neben sich liegen hat, das hilft. Oder ich lenke seinen Blick auf ein Jesusbild an der Wand – „der barmherzige Jesus“, sagt er dann, ganz weich, fast wie ein Kind. Und wird ruhiger.

Ob wir heute die Passion hören können? Es ist ein paar Tage nach Ostern. Er deutet auf eine abgegriffene CD-Hülle: „The Jerusalem Passion“ von Murray Wylie. Die hat er in Sydney zweimal gehört, damals, im Opernhaus in Sydney, in seinem früheren Leben. Sogar die Uraufführung. Ich finde einen verstaubten, aber hervorragenden CD-Spieler und lege die CD ein – gespannt auf die Musik. Ob ich auch gut höre, fragt er noch, und dann versinken wir beide in diesem Oratorium. Kerzengerade sitzt er im Bett, lauscht, singt mit, bewegt Hände und Arme, ist ganz aufgeregt, und sucht immer wieder meinen Blick. Gefällt es dir?

Aber ja! Und wie! Ich bin begeistert von der Musik.  Sitze da wie ein glückliches Kind und lächle. Die Musik überwältigt mich. Es ist ein bisschen schwierig: diese Musik zu hören, die so stark auf mich wirkt, aber noch mehr auf ihn zu achten, seine Fragen zu beantworten,  und zwischendrin dem ehemaligen Absolventen eines humanistischen Gymnasiums die Texte aus dem Booklet vom Englischen ins Deutsche zu übersetzen. Er ist hin und weg und kann sich nicht satthören. Nicht an den Worten, nicht an den Tönen. Ich spüre, wie er sich löst.

Aber dann, als sich die Kreuzigungsszene nähert, wird er unruhig. Er lebt so unmittelbar wie ein Kind, Gefühle überwältigen ihn einfach, er hat keine Distanz zu sich selbst.  Da ist wieder diese Angst in seinen Augen, der Schmerz.  Sein Jesus – in Not! Sein Jesus – in Todesangst! Ich sehe das helle Entsetzen und beruhige ihn: Du bist nicht allein, wir hören ja zusammen. Und erinnere ihn daran, dass danach die Auferstehung kommt.  Das hatte er fast vergessen. Andächtig hören wir weiter, die Musik zur Auferstehung, das Halleluja, die Freude, die monumentalen Schlusschöre, die ganze wundervolle Musik vom Leben……und in seinem Gesicht sehe ich zum ersten Mal für einen kurzen Moment auch: Leben. Noch einmal einen Anflug von Leben. Er ist glücklich, dass diese Musik, die ihm so viel bedeutet, auch mich berührt und aufwühlt. „Musik ist die Nabelschnur, die uns mit dem Göttlichen verbindet“, zitiere ich Nicolaus Harnoncourt. Weil ich weiß: er, der früher so klug war, liebt es, wenn man kluge Leute zitiert. Er sieht mich lange an und nickt.

Als ich kam an diesem Tag, wollte er sterben. Aber jetzt zum Abschied lässt er sich segnen.

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