Die Seligpreisungen der Bergpredigt provozieren. Sie sagen: Das Evangelium Jesu ist gute Nachricht für die Armen. Was ist mit den Jünger/innen Jesu, die nicht zu den Armen gehören? Was ist mit denen, deren Gottesbezug nicht die Spiritualität der Armen ist?
Selig, die…
Text: Peter Hundertmark – Photo: silviarita/pixabay.com
„Selig, die Armen vor Gott“ – so beginnt die Bergpredigt Jesu im Matthäusevangelium. Die Formulierung „die Armen vor Gott“ spielt wahrscheinlich auf eine gesellschaftlich-religiöse Wirklichkeit in Israel an: die „anawim“. Die „anawim“, wie im Alten Testaments auf sie Bezug genommen wird, sind die Armen und Armgemachten – all diejenigen, die für ihr physisches Überleben auf Gott allein und auf die Mildtätigkeit der Frommen angewiesen sind. Sie haben kein Eigentum, können nicht lesen, leben von der Hand in den Mund, gehen geächteten, unrein machenden Tätigkeiten nach… Gesellschaftlich und auch religiös sind sie deshalb aus allen Zugehörigkeiten herausgefallen oder ausgegrenzt worden. Dennoch haben sie mit der Zeit eine eigene Spiritualität entwickelt und weitergegeben.
Die prophetischen Schriften nehmen immer wieder Bezug auf die Spiritualität der „anawim“ und künden von Gottes besonderer Wertschätzung für diese Armen. Sie werden den Besitzenden als Mahnung vorgestellt und als Aufgabe ans Herz gelegt. Vor allem aber werden sie den Gottsuchenden als Vorbild gegeben, weil sie ihr Leben ganz in Gottes Hand legen (müssen). Die Spiritualität der „anawim“ wird auf diese Weise kanonisch und nimmt neben den Spiritualitäten des Opferkultes und des Gesetzes einen zentralen Platz in der alttestamentlichen Überlieferung ein.
Das Schicksal der „anawim“ teilten nicht wenige Menschen in Israel und auch zur Zeit Jesu stellen die „anawim“ eine große Gruppe der Bevölkerung. Ob die Familie Jesu selbst zu den „anawim“ zu zählen ist, lässt sich nicht abschließend klären. Sicher aber ist, dass Jesus der spezifischen Spiritualität der „anawim“ nahesteht. Wenn er in den Evangelien aus den Schriften des Alten Testaments zitiert, dann greift er bevorzugt auf die Lieblingsautoren der „anawim“ zurück. Seine Ansage: „Wenn ihr nicht werdet wie diese Kleinen (Kinder), werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen“, der Vergleich mit dem Kamel und dem Nadelöhr oder das Bildwort vom armen Lazarus in Abrahams Schoß sprechen eine eindeutige Sprache. Jesus sieht sich in der Linie der Propheten der „anawim“.
Der umfangreichste Text des Neuen Testaments mit eindeutigem Bezug auf diese Spiritualität ist die Bergpredigt. Die Seligpreisungen sind direkter Ausdruck der Werte und der Gotteserfahrung der „anawim“: Glückselig die Armen, Trauernden, Verfolgten, ungerecht Behandelten, Beschimpften… Ihnen gehört das Himmelreich. Prostituierte und Zöllner werden vor den Frommen in das Reich Gottes kommen. Für alle anderen Gottsuchenden ist diese Festlegung eine Provokation: Anfrage und Ansporn.
Wie schon die Propheten vor ihm weist Jesus den „anawim“ jedoch auch eine moralische Überlegenheit zu. In ihnen sieht er die Friedensstifter – die dem großen Shalom Gottes dienen, die Menschen mit reinem Herzen und die Barmherzigen. Das dürfte auch zur Zeit Jesu für die meisten Armen eine kontrafaktische Zuweisung gewesen sein. Schon immer konnte der, der mittellos ist, keine große Rücksichten nehmen, wollte er überleben. „Unten“ wird oft nach unten getreten.
Es kann sein, dass Jesus damit eine Einschränkung des Adressatenkreises vornimmt: die unter den Armen, die der Spiritualität und der Gottsuche der „anawim“ – hier im engeren Sinne einer religiösen Gruppe – folgen: Diejenigen also, die trotz ihrer Armut ein reines Herz haben. Denkbar ist aber auch, dass er damit eine Erweiterung einführt: Diejenigen, die die Armen gesellschaftlich und religiös in die Mitte stellen, mit ihnen und für sie nach Gerechtigkeit, Frieden, Barmherzigkeit streben. Die entscheidende Frage ihrer Lebensführung und Spiritualität ist dann, ob gute Nachrichten – Evangelium – für die Armen dabei herauskommen. Wenn Papst Franziskus die Kirche auffordert an die Ränder zu gehen, folgt er vielleicht dieser Interpretationslinie.
Jesus setzt damit einen eindeutigen Maßstab. Das Evangelium ist zuerst Evangelium für die Armen. Für sie muss es sich nach Evangelium, nach guten Neuigkeiten anfühlen. Für die Menschen des Evangeliums gibt es hier kein Ausweichen. In diesem Sinne ist Selbstevangelisierung und Evangelisierung der Gesellschaft immer die erste Aufgabe der Kirche als Gemeinschaft derer, die zu Jesus gehören und ihm nachfolgen. Gelingen wird es, wenn die Gottsuchenden immer wieder und insbesondere in Entscheidungssituationen vom Ort der Armen und mit ihren Augen in die Welt schauen. Für alle, die nicht selbst arm, trauernd, beschimpft, verfolgt… sind, beginnt deshalb das Evangelium jeden Tag neu mit dem Ruf in die Umkehr: „metanoiete“: denkt anders – und glaubt an das Evangelium.
Die gesellschaftliche Ausrichtung der Spiritualität der „anawim“ ist auch die Zielrichtung des Evangeliums. Sie ist für alle verbindlich.
Aber die Evangelien führen auch andere Personengruppen ein, die zum Glauben an Jesus kommen und wohl auch in den ersten Gemeinden wichtige Funktionen übernehmen. Josef von Arimathäa und Nikodemus, die beiden Ratsherren, Maria, Martha und Lazarus aus Bethanien, Simon der Pharisäer… sie alle gehören jedenfalls durch ihre Lebensumstände nicht zu den „anawim“. Die Pharisäer habe zudem ihre eigenen spirituellen Traditionen. Zu den Jüngern gehören auch Zeloten mit ihrer Spiritualität des Kampfes. Ein Schriftgelehrter fragt Jesus nach dem wichtigsten Gebot und kommt zum Glauben. Maria aus Bethanien und der Jünger, den Jesus liebte, stehen für eine Zugang, den wir heute kontemplativ nennen würden. Einzelne Nicht-Juden, wie der römische Hauptmann, bekehren sich… Sie alle bringen eine spirituelle Vielfalt in die Gruppe um Jesus.
Für diese Anderen gibt es keine Seligpreisungen in der Bergpredigt. Das hat wahrscheinlich in der engen Bindung Jesu an die Spiritualität der „anawim“ seinen Grund. Wie aber gehören sie zum Reich Gottes, von dem es in der Bergpredigt heißt, dass es den Armen gehört? Eine Verstehensmöglichkeit öffnet sich, wenn man probehalber die Beschreibungen der Seligpreisungen auch als spirituelle Zuschreibungen und Qualitäten auffasst. Selig, deren innerer Zugang zu Gott, der der Armen ist, die ihre Hoffnung ganz auf Gott setzen. Selig, die in der Verfolgung nicht von Gott lassen. Selig, die reinen Herzens sind.
Dann ließe sich für Maria von Bethanien sinngemäß formulieren: Selig die, die ganz auf das Wort Gottes und seinen Gesandten ausgerichtet ist. Das Johannesevangelium kennt sogar ausdrücklich eine solche Formulierung, wenn der Auferstandene zu Thomas sagt: Selig, die nicht sehen und doch glauben. Mit Rückgriff auf die Psalmenfrömmigkeit legt es sich nahe, eine weitere Seligpreisung nach dem gleichen Muster zu bilden: Selig, die Gott den ganzen Tag über preisen. Oder in der Traditionslinie der Johannesbriefe: Selig, die Gott und die Schwestern und Brüder lieben. Viele biblische Erzählungen lassen sich so zum Ausgangspunkt nehmen: Selig, denen es zuerst um das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit geht. Selig, die Gottes Wort hören und es auch tun. Selig, die sich mit ganzer Kraft für das Evangelium einsetzen. Selig, die alle Zeit beten. Immer aber ist es diese Qualität, ganz auf Gott ausgerichtet zu sein, die sich mit Seligpreisungen verbinden lässt.
Damit weitet sich der Raum, um auch heutige spirituelle Erfahrungen und Zugänge in Seligpreisungen mit hineinzunehmen: Selig, die sich mit ihrem Wissen und politischen Engagement für Gottes Schöpfung einsetzen. Selig, die das kontemplative Schweigen vor Gott einüben. Selig, die Gott einen Ort in der säkularen Welt sichern (M. Delbrel). Selig, die ihr Leben in den Dienst der Verkündigung stellen. Selig, die ihr Leben als Lösegeld für einen anderen geben (M. Kolbe). Selig, die Gott in allen Dingen suchen.
Diese Linie lässt sich bis zu einer personalisierten Fragestellung weiter ausziehen: Was ist meine Ausrichtung auf Gott? Mit welchen Worten kann ich es für mich fassen? Wie will ich diese Qualität der Seligpreisungen – ganz auf Gott ausgerichtet zu sein – für mich beschreiben? In welche innere Bewegung auf Gott hin bin ich mit meinem Leben und Glauben gerufen?
Eine Hilfe, um auf die Spur der eigenen Ausrichtung zu kommen, kann ein Gebet sein, das Ignatius von Loyola in den Exerzitien jeder Gebetszeit voranstellt: „Bitten, um was ich will und wünsche“. Wenn ich mir eine umfassende Zugehörigkeit zu Gott und seinem Reich wünsche, was entsteht dann in mir als Bild und Wort für meine Berufung und die persönliche Verheißung, die Gott über mich ausgerufen hat? Was ist mein Weg der Seligkeit?
Dadurch wächst eine noch viel größere spirituelle Vielfalt, aber keine Beliebigkeit, denn jede christliche Spiritualität misst sich am Evangelium. Das Evangelium aber ist gute Nachricht für die Armen. „Der Herr hat mich gesandt, dass ich den Armen eine gute Nachricht bringe; damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde und den Blinden das Augenlicht; dass ich die Zerschlagenen in Freiheit setze und ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe.“ (Lk 4, 18f) Jesus steht in der Tradition der „anawim“ und verpflichtet auch alle, die zu ihm gehören wollen auf das Evangelium für die Armen.
Die Seligpreisungen der Bergpredigt geben für alle Spiritualitäten die Qualität und die Richtung vor. Nicht jede/r ist ein/e „anawim“ oder muss ein „anawim“ werden und ihrer Spiritualität folgen, aber jede/r ist mit seiner/ihrer Gottsuche auf die Option für die Armen verpflichtet.