Synodalität in der Kirche tritt mit dem Anspruch auf, potentiell alle Christinnen und Christen in die Beratung zu integrieren, die ein Thema betrifft. Die gewohnten kirchlichen Gremien alleine können das nicht leisten. Die Infrastruktur synodaler Beratung muss neu entworfen werden.

Vom Zauber der Exponentialfunktion – Beratung neu denken

Text: Peter Hundertmark – Photo: Maren Winter/istockphoto.com

Unsere Erde ist nicht für exponentielles Wachstum gemacht. Exponentielles Bevölkerungswachstum, exponentieller Ressourcenverbrauch, exponentieller Anstieg der CO2 Emissionen… haben unseren Planeten an den Abgrund gebracht. Endlichkeit und Exponentialfunktion passen nicht zusammen. Die Frage ist nur, wie wir die Kurve abflachen können.

Das Faszinierende an Exponentialfunktionen ist, dass in wenigen Schritten sehr große Zahlen erreicht werden können. Schon der alte Mathematik-Kalauer mit den Reiskörner auf einem Schachbrett, die bei jedem Feld verdoppelt werden und noch vor der Spielbrettmitte bereits bei mehr Reis angekommen sind, als auf der Erde geerntet wird, zeigt diese rasante Entwicklung schon bei der einfachsten Funktion 22.

Synodale Beratung

Szenenwechsel: Mit dem Ansatz der Synodalität versucht Kirche das mittelalterliche theologische Prinzip „Was alle angeht, muss von allen beraten werden“ neu zu interpretieren und umzusetzen. Zur Vorbereitung der Weltsynode wurde eine weltweite Befragung durchgeführt. Dafür standen knapp sechs Monate zur Verfügung. In Deutschland rieb man sich ungläubig die Augen. Sofort war klar, mit den repräsentativen Gremienstrukturen war das nicht zu machen. Natürlich haben auch die deutschen Diözesen Voten abgegeben, aber die Zahl der beteiligten Personen dürfte überall recht überschaubar gewesen sein. In anderen Ländern scheint es hingegen gelungen zu sein große Gruppen der katholischen Bevölkerung zu beteiligen  – aber nicht weil die Situation dort weniger komplex wäre. Und hier kommt die Exponentialfunktion wieder auf die Bühne.

Eine Gruppe, die gut und unkompliziert, ohne viel Regeln und ausgewiesene Leitung miteinander im Gespräch sein kann, umfasst fünf bis zehn, maximal zwölf Personen. Danach braucht es Moderation, ein strukturiertes Verfahren, ein Protokoll… Das ist weltweit so. Nimmt man ein Mittel bei sieben oder acht Personen an, so kann man ein System schaffen, das der Exponentialfunktion 72 oder 82 folgt. Zur Veranschaulichung: Wenn ein Gremium mit fünfzehn Personen, das eine Entscheidung formulieren soll, dafür nochmals eine Beratung in Anspruch nimmt und sich jedes Gremienmitglied eine Gruppe mit sieben Personen sucht, so erreicht man in einem Schritt – einem zweiten Beratungs“ring“ – eine Beteiligung von 120 Personen. Wenn die 100 neuen Leute sich wieder eine Gruppe mit sieben Personen suchen, sind im zweiten Schritt bereits 820 Personen involviert. Die Reihe geht weiter: 4900, 28560, 165620, 959420… in nur sechs Schritten zu nahezu einer Million. Das ist der Zauber der Exponentialfunktion.

Veranschlagt man nun, dass für jeden Schritt ein Monat erforderlich ist, um die Menschen einer Gruppe zusammen zu bringen, kann also potentiell innerhalb eines halben Jahres eine Million Menschen an der Beratung beteiligt werden. Dazu ist sogar nur ein vergleichsweise geringer Aufwand erforderlich – wenn nämlich die jeweiligen Gesprächskreise im Stil der holokratischen „Tische“ miteinander verschränkt werden. Die Personen, die sich im äußersten „Ring“ engagieren, müssen etwa drei Stunden (eine Stunde, um sich sachkundig zu machen und zwei Stunden für die Beratung) investieren. Die Verbindungspersonen zwischen zwei „Ringen“  nehmen am weiter „außen“ gelegenen „Tisch“ die Beratung entgegen und beraten selbst im nächsten, weiter nach „innen“ gelegenen „Tisch“ mit.  Sie bringen folglich fünf Stunden (eine Stunde, um sich sachkundig zu machen und da sie an zwei „Tischen“ teilnehmen, zweimal zwei Stunden für die Beratung) ein.

Das System funktioniert, indem das gleiche Gespräch in jedem Beteiligungsring oder an jedem „Tisch“ wiederholt wird – jedoch auf der Basis der vorherigen Gespräche, die alle dann Beteiligten schon geführt haben und von denen sie Notizen mitbringen. In jedem neuen Gespräch sind dabei alle Teilnehmenden dreidimensional – sowohl der entsendenden Gruppe wie ihrem eigenen Gewissen und dem aktuellen Dialog – verpflichtet. Auf diese Weise werden nicht „politische“ Mehrheiten generiert und es ist auch kaum möglich, eine Position unverändert über die verschiedenen Ringe zu transportieren. An jedem neuen Tisch wird die bisherige Meinungsbildung nämlich wieder dialogisch anderen Beiträgen ausgesetzt. So bereichern sich die Beiträge gegenseitig, relativieren sich aber auch, werden sie präzisiert und vertieft, bekommen sie aber auch immer mehr argumentatives Gewicht. Einzelmeinungen, Partikularinteressen, durch besondere Umstände oder Erfahrungen begrenzte Beiträge werden eingebunden in ein nach und nach entstehendes gemeinsinniges, konsensorientiertes, wohlabgewogenes Ergebnis. Die Weisheit und Erfahrung, der Glaube und die Hoffnung unzähliger Menschen kumulieren zu einer machtvollen Willensäußerung.

Auf diese Weise wird in gewissermaßen der Glaubenssinn aller Gläubigen, die theologische Grundlage jeglichen Lehramtes und sogar der Unfehlbarkeit des Papstes, aus der Symbolik in Realität überführt. Dem dient auch die Tatsache, dass in den Gruppengesprächen keine hierarchischen Unterschiede zum Tragen kommen. Wird das Gespräch nämlich nach den Regeln des „Gesprächs im Geist“ strukturiert, so zählt dort jeder Beitrag gleich viel, so wie auch jedem*r Beteiligten gleich viel Redezeit zustehen. Das gemeinsame Ergebnis überschreitet damit immer jede Einzelmeinung, wie autoritativ auch immer sie vorgebracht wurde.

Gespräch im Geist

Gespräch im Geist heißt dabei, dass ein fester Ritus des Dialogs eingehalten wird. Es beginnt immer mit einer längeren persönlichen Zeit. Diese dient dem Nachdenken, dem Zugang zu den eigenen inneren Regungen, der Unterscheidung und dem Gebet. Danach findet sich die Gruppe zusammen. In einer ersten Runde können alle Teilnehmer*innen etwa gleich lang von ihrer persönlichen Zeit, von Gedanken, Einsichten und Gebetserfahrungen erzählen. Die Erzählungen werden von den anderen kontemplativ aufgenommen und nicht kommentiert. Vielmehr geht es darum, das Wort Gottes in den Worten der Glaubensgeschwister zu erlauschen. In einer zweiten Runde können sich wieder alle in gleicher Weise auf das beziehen, was in der ersten Runde eingebracht wurde. Das geschieht im Modus des „Dazu-Legens“, also eben nicht als Debatte, argumentative Auseinandersetzung oder gegenseitige Korrektur. Auf diese Weise vollzieht sich ein Übergang vom „Ich“ und seinen Erfahrungen zu einem „Wir“, das aus dem Dialog herauswächst. In einer dritten Runde suchen alle Beteiligten nach der besten Antwort auf die gestellte Frage, nach dem besten Weg in die Zukunft – getragen von der Überzeugung, dass das Beste, was dem Gottesvolk geschehen kann, mit dem Willen Gottes identisch ist. Auch in dieser praxisorientierten Runde geht es nicht darum, eigene Meinungen und Präferenzen durchzusetzen. Durch den betenden Anweg  gelingt es meist, dass diese Versuchung von allen vermieden werden kann.

Diese Grundstruktur wird sinnvoll ergänzt, indem die Gruppe zuerst auf das Wort Gottes in der Heiligen Schrift hört und dieses überlieferte Wort Gottes betend-kontemplativ mit in die persönliche Zeit und den Austausch mit hinein wirken lässt. In der Regel wählt die Gruppe dabei das Evangelium des Tages.

Soll das Ergebnis in weitere Gesprächsrunden eingebracht werden, wie in diesem holokratischen Vorgehen angedacht, muss zudem das gemeinsame Ergebnis formuliert werden. Dies geschieht durch den*diejenige*n, der*die die Gruppe am nächsten „Tisch“ vertritt. Einmal formuliert, prüft er*sie seine Formulierung noch einmal mit der Gruppe: Ist das gemeinsinnige Ergebnis richtig abgebildet und haben eventuell weiterbestehende Minderheitsmeinungen ihren angemessenen Platz? Das Gespräch im Geist endet dann mit einer Zeit des ausdrücklichen Gebets – in Stille, frei formuliertem Gebet, Gesang, Vater unser oder einer Segensbitte.

Erwünschter Nebeneffekt wäre es, wenn die Teilnehmer*innen eines Tisches entdecken, dass diese Form des Beisammenseins sie im Leben und Glauben stärkt. Dann werden sie vielleicht sich jenseits der angeforderten Beratung zu weiteren Gesprächen im Geist – jeweils um die Tagestexte oder um eine Fragestellung des (gläubigen) Lebens herum – versammeln. Idealtypisch entstehen so kleine Glaubensgruppen, die sich über die Verbindungspersonen zwischen zwei „Ringen“ zu Kleinen Christlichen Gemeinden vernetzen könnten.

Thema und Fragen

Damit diese Gesprächstische autonom funktionieren und dennoch auf ein gemeinsames Ergebnis hin beraten, muss ein einziges Thema präzise beschrieben und in maximal drei Fragen so aufgegliedert werden, dass jede Gruppe sie als Ausgangspunkt nutzen kann. Damit die Beratung auch sachlich fruchtbar werden kann, müssen der Themenformulierung und den Fragen zudem Sachinformationen oder Alternativmodelle mitgegeben werden. Hier präszise, knapp und verständlich zu formulieren, ist die eigentliche Kunst dieser Beratungsform.

Alle Anregungen müssen für alle Gruppen in allen „Ringen“ und über die ganze Beratungszeit gleich bleiben. Sie zu lesen und aufzunehmen darf nicht mehr als eine Stunde in Anspruch nehmen und muss von Menschen mit durchschnittlicher Schulbildung gut bewältigbar sein. Alle, unabhängig von Vorkenntnissen, Status oder Stand beziehen sich also auf die gleichen Informationen, auf die gleiche Themenformulierung und die gleichen Fragen.

Wie entsteht aber ein zu beratendes Thema? Es kann von der Weltkirche vorgegeben werden, wie anlässlich der letzten Weltsynoden. Es kann von der Leitung einer Ortskirche aus ihrer Verantwortung heraus auf den Weg gebracht werden. Oder es kann auf dem linearen Weg der verfassten Räte auf die entsprechende gemeinsame Ebene transportiert worden sein. Die Räte sind potentiell der Ort der Kreativität, wo verschiedene Optionen und Lösungsalternativen entwickelt werden. Die Kürze des holokratischen Verfahrens und seine notwendig strenge Struktur haben nämlich den Nachteil, dass sie kreative Ansätze verarbeiten, aber nicht umfänglich entstehen lassen können.

Die Räte werden durch ein solches holokratisches Verfahren ja nicht überflüssig. Zum einen verantworten sie weiterhin jeweils das kirchliche Leben ihres Zuständigkeitsbereichs – sie könnten natürlich dafür bei Bedarf in gleicher Weise ein exponentielles Beratungsgeschehen in Gang setzen. Zum anderen macht es natürlich viel Sinn, dass die gewählten Repräsentant*innen in den inneren „Ringen“ in die Gesprächsgruppen integriert sind. Ihre Erfahrung und Sachkenntnis sind unerlässlich für ein tragfähiges Gesamtergebnis der Beratung. Und sie sind diejenigen, die Themen auf den Weg bringen, die über ihren Zuständigkeitsbereich hinaus ragen – und diejenigen, die die gemeinsinnige, holokratisch ermittelten Ergebnisse aufgreifen und in Praxis umsetzen werden.

Teilnahmebedingungen

Für die Teilnahme an den Tischen müssen nur sehr wenige Bedingungen erfüllt sein. Die Beteiligten müssen bereit sein, sich vorab über das Thema zu informieren. Sie müssen die Vorgehensweise des Gesprächs im Geist akzeptieren und bereit sein, sich persönlich mit ihrer Erfahrung und ihrem Gebet einzubringen. Und sie dürfen, außer sie werden delegiert, nur jeweils an einem Tisch Platz nehmen. In der Regel werden viele Beteiligte der katholischen Kirche angehören. Angehörige anderer Konfessionen – auch Konfessionslose oder Angehörige anderer Religionen – bleiben aber keineswegs per se außen vor. Wer immer bereit ist, die Regeln zu akzeptieren und sich für die Zukunft der katholischen Kirche zu engagieren, kann auch in den Beratungsprozess integriert werden.

Vor dem ersten Einsatz muss das System der holokratische Tische – angeordnet in mehreren Ringen – zuerst aufgebaut werden. Dazu muss festgelegt werden, wie viele Ringe, abhängig von der Größe des zentralen Beratungsgremiums und der Größe der zu beteiligenden kirchlichen Wirklichkeit, mindestens angestrebt werden. Die Mitglieder des zentralen Gremiums suchen dann Tischmitglieder, die sich selbst verpflichten und in der Lage sehen, jeweils einen weiteren Tisch im nächsten „Ring“ aufbauen zu können. Auch in diesem „Ring“ werden wieder Beteiligte gesucht, die weitere Tische um sich versammeln können. Erst im letzten angezielten Ring fällt diese Bedingung, was aber nicht ausschließt, dass einzelne Mitglieder dennoch einen weiteren „Tisch“ und damit einen selbstorganisierten weiteren „Ring“ auf den Weg bringen. Auf diese Weise gleicht sich aus, dass an manchen Stellen der Aufbau der Ringe stecken bleiben kann, weil nicht alle Beteiligten, entgegen ihrer Absicht, eine weitere Gruppe zusammen führen können. So kommt es zu dem beabsichtigten exponentiellen Effekt.

Was alle angeht, soll von allen beraten werden. Die Exponentialfunktion ist der Schlüssel zu wirklich „alle“ umgreifender Synodalität.

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