Friede – mit einem Ausrufezeichen gesprochen, verändert dieses Wort die Welt: ein Beispiel für die Kraft des Wortes. Über das Reich der Worte, mittels dieses intersubjektiven Gedächtnisses, gestalten wir Welt, begegnen wir einander, den Dingen und Gott, schaffen wir Sinn.

Von der Kraft des Wortes

Text: Peter Hundertmark – Photo: GDJ/pixabay.com

Geschichten unterscheiden Menschen von allen anderen Lebewesen. Durch die Erkenntnisse der Verhaltensforschung haben die Menschen nahezu alle zuvor so stolz behaupteten Sonderstellungen gegenüber den Tieren verloren. Tiere kennen Emotionen, erkennen sich selbst und vertraute Artgenossen, verfügen also über eine Bewusstheit ihrer selbst, handeln sozial und planerisch, nutzen Werkzeuge… Die Unterschiede sind graduell und der Übergang zum Menschsein ist es auch. Dennoch scheint es einen Faktor zu geben, der den entscheidenden Unterschied macht: Geschichten. Menschen sind in der Lage aus Worten etwas zu schaffen, was weder ein Ding ist, noch einfach Ausdruck ihrer Subjektivität. Sie erschaffen fiktionale Wirklichkeiten, kommunizieren über deren Muster miteinander und nutzen sie, um auf Objekte, wie auf subjektives Erleben Einfluss zu nehmen.

Geschichten und Geschichte, Ideen und Ideologien, Gedankenwelten und Weltbilder, Erinnerungen und Visionen… Der Historiker Yuval Harari benennt in seinem Buch „Homo Deus“ diese dritte Dimension neben Objektivität und Subjektivität mit „Intersubjektivität“. Intersubjektivität ist eine eigene, wahrscheinlich nur uns Menschen zugängliche Wirklichkeitsform. Sie ist eine Wirklichkeit ohne materielles Objekt – auch wenn wir sie nur nutzen können, indem wir sie materialisieren: Schallwellen, Textträger, Hirnaktivitäten – und doch wirkt sie bis in die Welt der Dinge hinein. Sie besteht aus Sprache, Bildern, Symbolen, Erinnerungen, Kunst, Musik… aus allen Produktionen dessen, was wir Kultur nennen. Wir Menschen nutzen die Welten der Intersubjektivität, um unser Leben, uns selbst und alles was uns begegnet, zu deuten, ihm einen Verstehensrahmen zu geben und zugleich uns über die Dinge und Begegnungen hinaus zu erheben in eine Sphäre des Gemeinsamen und des Bedeutungsvollen. Intersubjektivität ist die Bedingung unter der wir Menschen über den unmittelbaren Kontakt hinaus in Beziehung sein, Austausch organisieren, lernen, zusammenarbeiten können. Mittels dieses „Zwischen“, das wir erschaffen haben, überschreiten wir die Grenzen von Raum und Zeit. Die Fähigkeit zur Intersubjektivität macht uns zu Menschen.

Harari deutet an, dass er auch das Göttliche als menschliche Produktion und Teil dieser Intersubjektivität auffasst. Richtig und theologisch unproblematisch daran ist, dass das Göttliche weder ein Objekt in dieser Welt ist, noch einfach nur eine Funktion innerhalb der Subjekte. Ob es jedoch nur eine intersubjektive Produktion ist, oder ob ihm eine eigene nicht-dingliche, nicht-subjektive, aber auch nicht nur intersubjektive Wirklichkeit entspricht, entzieht sich der Beurteilung, so dass auch Hararis Option in Anschluss an die klassische Religionskritik nur als Entscheidung, nicht als „Wissen“ zu verstehen ist.  Mit der gleichen Autorität der Überzeugung und gestützt ausschließlich auf Entscheidung kann auch eine vierte Wirklichkeit der Transzendentalität angenommen werden.

So dass es gute Gründe gibt, von vier Dimensionen des Wirklichen zu sprechen: die Materie der Objektivität, das Erleben in der Subjektivität, den Verständigungsraum der Intersubjektivität und das Geheimnis der Transzendalität. Verbunden jedoch sind die drei anderen Dimensionen für uns Menschen ausschließlich durch die Intersubjektivität. Wir haben keinen anderen menschlichen Zugang zu den Welten. In diesem „Zwischen“ schaffen wir uns Vergegenwärtigungen des Objektiven, des Subjektiven und des Transzendenten, die es uns erst ermöglichen, Beziehung aufzunehmen, die Ereignisse einzuordnen und ihnen Sinn zu geben, Gemeinschaft zu erleben und gemeinschaftlich zu handeln. Das „Zwischen“ ermöglicht uns Zugänge zu den Welten, steuert und begrenzt sie jedoch auch. Nur was gedacht wurde und denkbar ist, kann auch gedacht und damit in uns verarbeitet werden. Wir sind intersubjektive Wesen.

Menschen kommunizieren zwar auch über Bewegungen, Gesichtsausdruck, Duftstoffe, Laute… vor allem aber über Worte, mittels dieser komplexen kulturellen Produktionen der Intersubjektivität. Die Sphäre der Bedeutung verbindet uns miteinander, mit dem „Etwas“ der Dinge und sogar mit unserem „Selbst“, unser Subjektivität. Sie verbindet uns auch mit der Dimension der Transzendentalität, mit dem „Jenseits“ Gottes. Alles, was wir erleben, ist kulturell durchformt, unser Selbstverstehen, auch die unbewussten und unterbewussten Anteile unserer Seele, auch unsere mystischen Erfahrungen, auch unser Herangehen an die  „Dinge“, deren „An Sich“ uns ja nicht zugänglich ist, wie Immanuel Kant zeigen konnte. Und dennoch ist die Intersubjektivität kein Objektbereich. Sie ist nicht Ausdruck überzeitlicher, „platonischer“ Ideen, kein metaphysischer Seinsbereich. Es sind Produktionen menschlichen Geistes, von uns geschaffen und wie wir selbst veränderlich und vergänglich.

Jede neue Kombination aus ihren Elementen, jeder neue Gedanke, jedes gesprochene Wort, jede erzählte Geschichte… verändert den Bestand der Intersubjektivität. Jeder Mensch nimmt ständig Einfluss auf dieses „Zwischen“, entwickelt es weiter, schreibt sich dem kollektiven Gedächtnis ein. Allerdings geht das Meiste unmittelbar wieder verloren, wird nicht über den konkreten Kontext hinaus gespeichert. Aber auch Geschichten, die einmal Millionen bewegten, können vergessen werden. Ganze Sprachen – und mit ihnen eine unauslotbare Komplexität des Weltverstehens – sterben. Obwohl jede/r an diesem „Zwischen“ mitwebt, werden die Muster und Elemente des Intersubjektiven doch zuerst als dem/der Einzelnen vorgegeben erlebt. Er/sie wird in sie hineingeboren, und schon die Art wie seine/ihre Mutter die allererste Kontaktaufnahme gestaltet, ist von den im Umfeld aktiven intersubjektiven Mustern geprägt.

Über die intersubjektive Wirklichkeitsebene – über das „Zwischen“ nehmen wir auch Einfluss auf die „Etwas“ der materiellen Welt, auf das „Selbst“ menschlichen Erlebens und – zumindest wird das versucht – auch auf das „Jenseits“. Die Intersubjektivität ist nicht nur der Raum des Deutens, sondern auch des Wirkens. Wir geben den Dingen Form, Name und Funktion. Wir sehen uns als Teil von Geschichte und größerer Wirklichkeit – und formen uns selbst und einander, unser Leben und bis in unseren Körper hinein, wir erzählen uns und erschaffen unsere Identität in Abhängigkeit von diesen intersubjektiven Mustern und Deutungen. Gebetserfahrung kann auf diese Weise vielleicht als Begegnung von „Selbst“ und „Jenseits“ im Raum des – in beide Richtungen? – wirkenden „Zwischen“ verstanden werden.

Das „Zwischen“ ist das machtvollste Werkzeug, über das wir Menschen verfügen. Die Intersubjektivität vervielfacht unsere individuelle Kraft um ein Tausendfaches. Erst sein Wirken ermöglicht uns auch das Ferne, nie Gesehene, längst Vergangene oder erst nach uns Kommende, aber auch den seelischen Innenraum der Anderen und sogar die Transzendentalität Gottes „zu erreichen“. Es ist zugleich die einzige Möglichkeit wie sich die „Etwas“, die anderen „Selbst“ und das „Jenseits“ in unser „Selbst“ hinein abbilden. Das „Zwischen“ aber ist das Reich der Worte. Worte vervielfachen unsere Kraft. Worte schaffen uns Zugang zu Dingen, Menschen und Gott. Über Worte kommen Dinge, Menschen und Gott zu uns. Worte wirken auf uns und sind Wirkkräfte für uns.

Über die Dimension des Zwischen – der geteilten Intersubjektivität – bekommen singuläre Ereignisse überindividuelle, die Zeiten überschreitende, manchmal sogar universale Bedeutung. Wir setzen sogar gezielt Ereignisse, die die universale Bedeutung aktivieren, holistisch abbilden, inkarnieren. Auf diese Weise verlängern wir die intersubjektiven Muster in die Zukunft, gestalten sie aber auch um, passen sie neuen „Etwas“-, „Selbst“- und „Jenseits“-Begegnungen an. So eignet dem „Zwischen“ eine paradoxe Wirklichkeit: es ist uns unbedingt vorgegeben und formt noch den banalsten Gedanken und das privateste Erleben und ist uns zugleich ganz in die Hand gegeben, wird durch jedes Wort, jedes Bild, jede Tonfolge… aktiviert, weiterentwickelt und verändert. Es ist ein „ehernes Fließen“.

Das „Zwischen“ ist dabei reine Potentialität. Es wirkt, indem es aktiviert wird, dann aber oft weit über die aktivierenden Worte hinaus, indem es aus der ihm eigenen, dann in Kraft gesetzten Energie ein Plus schafft, das nicht abzusehen war, als das Wort gesprochen, das Bild gemalt, die Musik gespielt wurde. Das Wirken des „Zwischen“ geschieht quasi aus dem Nichts – ex nihilo – indem durch kulturelle Re-Produktionen seine Potentialität in Realität überführt wird. Wir sprechen und es wird und wirkt. Dabei beobachten wir himmelweite Unterschiede in der Wirkung. Manches Wort verklingt sofort und hat nur für einen Wimpernschlag eine punktuelle Bedeutung. Manches Wort allein aber, obwohl ihm weder Millionen noch Divisionen zur Verfügung stehen, bewegt die Nationen und verändert den Lauf der Geschichte.  

Was genau den Unterschied macht, ist nicht abschließend zu ergründen. Wieso manches Wort die ruhenden Energien des gesamtmenschlichen „Zwischen“, der universalen „Etwas“, der unzähligen „Selbst“ und des Mysteriums des „Jenseits“ zusammenbringt und ins Wirken hebt, ist nicht vorherzusehen. Das wirkmächtige Wort fügt die Sehnsüchte der Menschen, die Selbstoffenbarung Gottes, die Geschichte gewordenen Geschichten und die unbändige Kraft des Faktischen zusammen. Manchmal entstehen plötzlich energetische Interferenzen bis hin zu globaler Bedeutung. Die Religionen, die Ideologien und Weltbilder, die Wissensparadigmen und großen Visionen, all diese großen Erzählungen haben diese Kraft entfaltet und entfalten sie immer aufs Neue – sogar die große Erzählung vom Ende der großen Erzählungen.

In der biblischen Erzählung der Welt, einer der wirkmächtigsten Erzählungen, die wir kennen, schafft Gott durch sein Wort. Er kreiert das erste „Zwischen“ und durch dieses „Zwischen“ hebt er das Sein aus dem Nichts, gibt er allem undifferenzierten „Etwas“ Gestalt und Leben. Er legt dann sein Wort in den Menschen und bewirkt so das „Selbst“-Werden dessen, der zuvor ebenso nur „Etwas“ war wie die ganze Natur, die ihn/sie umgibt. Er schließt den Menschen an das große, erste „Zwischen“ an und gibt das wirkmächtige Wort in seine/ihre Verantwortung. In Jesus wird dieses Wort, mit dem Gott sich über das „Zwischen“ erreichbar machte, selbst „Etwas“ und „Selbst“, Materie und Mensch. Und mit ganz einfachen Worten setzt Jesus eine neue Schöpfung, das Reich Gottes, eine Welt der besten Hoffnung… in Kraft und Wirklichkeit. Er bündelt mit seinen Geschichten die universalen Energien zu globaler und überzeitlicher Bedeutung und Wirkung. Dann legt er sein Wort, seinen Geist, seine Vollmacht in die Hand und den Mund derer, die ihm folgen. Ihr Wort „in ihm gesprochen“ bekommt die Macht, das neue große „Zwischen“, den neuen Äon des Evangeliums je neu zu aktivieren, wirkmächtig zu setzen und so die Welt zu formen.

Die einzelnen Worte dieses wirkmächtigen Wortes jedoch können ihre Energie verlieren. Sie „sterben“ und führen nur noch ein Schattendasein im lebendig pulsierenden „Zwischen“ der Menschen. Sie haben ihren Anschluss an die Energien des „Jenseits“, der „Etwas“ und der „Selbst“ verloren. Manche Worte wurden auch getötet. Das Neue Testament deutet den Tod Jesu am Kreuz als Versuch, sogar das Wort Gottes selbst zu töten. Auch dazu ist der Mensch fähig. Die Kraft des „Jenseits“ aber schafft das Wort neu, gibt ihm neues Leben, setzt es über alle anderen Worte, gibt ihm einen Namen, die der alle Namen übersteigt, gibt ihm Macht über alles Leben. Dieses Wort ist im „Himmel“, von jedem Ort der Erde aus ist es deshalb erreichbar. Es ist im Herz aller, die sich von ihm formen lassen. Worte der Zugehörigkeit zu diesem auferstandenen Wort lassen seine Kraft für „Selbst“ und „Etwas“ jeder Zeit wirkmächtig werden. Was damals geschah, hat universale Bedeutung, denn es geschieht auch jetzt. Und indem es jetzt geschieht, geschieht alles: das ganze „Zwischen“ Gottes, der Schöpfung und der Menschen ist im Zeichen gegenwärtig – nicht objektiv, nicht subjektiv, aber intersubjektiv mächtig.

Worte, Sprache, auch Bilder, Kunst und Musik, sind die wirkmächtigsten Werkzeuge derer, die sich dem Wort Gottes anvertrauen – wirkmächtiger als alle „Etwas“ – Strukturen, Gebäude, Abläufe, Regeln, Finanzmittel…, die sie schaffen könnten. Aber die konkreten Worte sind endlich, sie können sterben. Sie können ihre Qualität als Worte des Wortes verlieren. Sie müssen je neu gefunden und gesprochen werden. Voraussetzung ist, dass diejenige, die sie sprechen wollen, zuerst hören: Hören auf das große Wort, sich von ihm in ihrem „Selbst“ formen lassen und so immer mehr zu Menschen des Wortes Gottes werden; hören auf die Herausforderung des „Etwas“ und auf die Sehnsüchte und Bedarfe der „Selbst“, die sich stets wandeln; hören in das heute geteilte „Zwischen“, die großen und kleinen Erzählungen, hören auf die Traditionen, hinhorchen auf das Kommende – und auf die in all dem schlummernden Energien. Nur Mitmenschen und Zeitgenossen finden die Worte, die heute das Wort wirksam werden lassen. Als Menschen Gottes sprechen sie die Worte und setzen die Zeichen, die heute das neue „Zwischen“ des Reiches Gottes Realität werden lässt.

Jedes „Zwischen“ ist weich und fließend, es lässt sich gestalten, lenken, verbreitern und vertiefen – zum Guten, wie zum Schlechten. Der Zugang sind Worte, der Stoff Geschichten, die Zugkraft Visionen. Visionen einer besseren Welt, Geschichten von Mitmenschlichkeit und Wohlwollen, Gerechtigkeit und Frieden, Worte, die das heilende und heiligende Wort Gottes suchen, bewegen das geteilte „Zwischen“ der Menschen zu jeder Zeit in ihre Richtung. Sie nutzen seine Wirkmacht und schaffen so Erfahrungen der neuen Welt, von der sie sprechen.

Die Glaubenden, diese Menschen des Wortes Gottes, werden also gut daran tun, die Kunst der Worte, Geschichten und Visionen zu pflegen. Das verdichtete, erfahrungssatte, menschenfreundliche, zugleich durchlittene, gebrochene, gestammelte, das tastende, das gewagte Wort, das Wort, das Gott, Mensch und Welt verbindet, verändert die Welt. Das gewogene und erprobte Wort, das die Energie der früheren Geschichten hebt, das zugleich heutig ist und Menschen in ihrer Sehnsucht berührt, das tröstet und von Hoffnung singt, dieses Wort bringt das Wort Gottes zum Klingen. Oft springt ein solches Wort aus dem Schweigen, immer aber aus dem Hören.

Hören, sich vom Wort Gottes formen lassen, die Menschen und die Dinge spüren, dann die eigenen Worte verdichten, sie anschließen an die Geschichten der anderen, das gemeinsame „Zwischen“ mitgestalten, Worte suchen, die Geist und Leben sind. Das ist auch Kirchenentwicklung: Anteilnehmen am Werk Gottes, der durch sein Wort erschafft, tröstet und erlöst – heute und hier, durch Menschenwort.  

Diesen Beitrag teilen: