Konfroniert mit Missbrauchs-Betroffenen sollten die Seelsorgenden einige zusätzliche Vorsichtsregeln im Gespräch beachten, um nicht gesellschaftlichen Unterstellungen aufzusitzen und unter der Hand dem eigenen Anspruch zu widersprechen. Der Artikel ist zuerst in der Zeitschrift „Lebendige Seelsorge“ im Heft 3/2023: „Geistlicher Missbrauch“ erschienen.
Vorsicht Falle! Möglicher Täter-Opfer-Umkehr in der Seelsorge wehren
Text: Peter Hundertmark – Photo: alexas_photos/pixabay.com
Bei einem Raubüberfall ist es – zumindest auf den ersten Blick – einfach: Es gibt einen oder mehrere Täter, es gibt Opfer. Normalerweise kommt niemand auf die Idee, die Opfer für den Überfall verantwortlich zu machen. Geht es aber um den Vorwurf sexualisierter Gewalt und ist der/die Klageführende zum Tatzeitpunkt erwachsen gewesen, scheint oft nichts mehr einfach zu sein.
Wenn es um sexuelle Handlungen unter Erwachsenen geht, ist Einvernehmlichkeit die gesellschaftlich gestützte erste Vermutung. Sexualisierte Gewalt macht sich diese Erstvermutung zu Nutzen und versteckt sich dahinter. Durch die Vermutung der Einvernehmlichkeit entsteht Unsicherheit: Gibt es im konkreten Fall wirklich Opfer und Täter? Oder sind es zwei Erwachsene, die sich freiwillig aufeinander eingelassen haben? Unter der Hand dreht sich damit oft die Beweislast um: Der/Die Klageführende sieht sich genötigt, die Nicht-Einvernehmlichkeit zu belegen.
Noch schwieriger wird es, wenn das, was als schädigend erlebt wurde, durch die gesellschaftlichen und kirchlichen Rechtssysteme nicht abgebildet wird. Spiritueller Missbrauch als solcher ist bisher kein Straftatbestand. Auch fehlt in der Regel bei den Täter*innen jegliches Unrechtsbewusstsein. Vielmehr geben sie vor, und das ist schon der innere Kern des spirituellen Missbrauchs, ausschließlich im Sinne Gottes und zum Wohl des Opfers gehandelt zu haben. Und wieder greift die Umkehrung: Das Opfer muss das Gegenteil rechtssicher belegen, was nahezu unmöglich ist.
Gänzlich verwirrend wird es, wenn die Opfer die Taten selbst rechtfertigen und den/die Täter*in verteidigen. Missbrauch jeglicher Art wird jedoch angebahnt, indem eine stabile Täter*innenidentifikation bei den potentiellen Opfern aufgebaut wird. Wenn beide – Täter*in und Opfer – eine Illusion von Einvernehmlichkeit teilen, ist Missbrauch ohne physische Gewalt möglich und für die Täter*innen sicher.
Seelsorger*innen teilen diese gesellschaftlichen Verunsicherungen. Im seelsorglichen Gespräch mit Menschen, die zu Opfern von Übergriffen geworden sind, ist deshalb besondere Wachsamkeit erforderlich. Denn jegliche Form der Täter-Opfer-Umkehr widerspricht der seelsorgerlichen Ethik und schadet den Betroffenen. Im schlimmsten Fall kann es zu Retraumatisierungen kommen und die Betroffenen werden durch ein gut gemeintes, aber schlecht gemachtes seelsorgliches Gespräch erneut zu Opfern.
Für die Seelsorge sind dabei zwei unterscheidbare Dimensionen, die sich unmittelbar wechselseitig beeinflussen zu bedenken: die Haltung und das Verhalten.
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Haltungen
Eine professionelle seelsorgliche Haltung ist vielfach beschrieben: wohlwollend, hörend, geduldig, freilassend, solidarisch, grenzrespektierend, unvoreingenommen, möglicher Übertragungen bewusst usw. Seelsorge will Leiderfahrung und Schuld nicht relativieren. Dieses Ethos kann jedoch im Gespräch mit Betroffenen auf die Verunsicherung treffen, ob es sich nicht doch um Einvernehmlichkeit handelte und wer wirklich Täter*in und wer Opfer ist.
Neben kontinuierlicher Selbstreflexion und regelmäßiger Super- oder Intervision hilft es das eigene Zielbild für die Begleitung von Missbrauchsbetroffenen zu schärfen*und kompromisslos die seelsorgerliche Haltung zu bewahren. Ziel und Aufgabe der Seelsorge ist es ausschließlich, dem/der Gesprächspartner*in beizustehen. Überlegungen zum Sachverhalt, ob etwas wirklich so gewesen sein kann, wie es mir erzählt wird, wer welche Anteile im Geschehen hat, juristische Plausibilisierung usw… haben in der Seelsorge nichts zu suchen. Die Loyalität des/der Seelsorger*in gehört nur dem*der Gesprächspartner*in. Seelsorger*innen sind keine Staatsanwält*innen und keine Richter*innen. In der Seelsorge gibt es deshalb auch keine Unschuldsvermutung. Jegliches Urteilen und Beurteilen muss draußen bleiben. Als Seelsorger*in muss ich nicht verstehen, wie es gewesen ist. Ich muss Verständnis für den Menschen haben, der vor mir sitzt. Mehr nicht – und nur das.
Unter dem Label Seelsorge finden sich ganz verschiedene Formen helfender Gespräche. Manchmal ist in der Seelsorge auch Beratung und Hilfe beim Finden einer Lösung gefragt. Der*Die Seelsorger*in muss deshalb stets sorgfältig in Rollenklarheit investieren. Der Kernbereich der Seelsorge ist jedoch die solidarische Zuwendung zu einem Menschen in seiner Lebenssituation, eine Zuwendung, die die Zuwendung Gottes zu jedem Menschen erlebbar macht. Im Kontext von Traumatisierungen und Missbrauchserfahrungen ist es die erste Aufgabe der Seelsorge, mit auszuhalten, was eigentlich nicht auszuhalten ist.
Ist Seelsorge als Zuwendung und des Verständnisses angefragt, kann es nur das „Ich glaube Ihnen“ geben – unabhängig davon, ob auf der Verstehensebene Zweifel und Vorsicht angebracht wären. Diese eindeutige Solidarität mit dem/der Gesprächspartner*in darf und muss nicht in eine naive Gutgläubigkeit führen. Auf der Sachebene – im Nachgang zum seelsorglichen Gespräch – muss der/die Seelsorger*in sehr wohl sorgfältig unterscheiden und in der Regel dafür weitere Personen beratend hinzuziehen.
Zielbild und Ethik der Seelsorge bedeuten konkret für die angemessene Haltung: Jede Person, der*die sich einer/m Seelsorger*in als Opfer, Betroffene*r oder Überlebende*r von Missbrauch vorstellt, wird als solcher akzeptiert. Dieser Mensch erlebt sich als geschädigt und sucht das Verständnis und die Zuwendung eines*r Seelsorger*in.
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Verhalten
Das hat auf der Verhaltensebene eine ganze Reihe von Konsequenzen. Seelsorger*innen stellen nie Nachforschungen an. Wer, was, warum… wird erzählt oder geht den/die Seelsorger*in nichts an. Verstehen ist für Verständnis zweitrangig. Da bei Missbrauchsbetroffenen zudem immer mit Traumatisierungen zu rechnen ist, verbietet sich ein Nachfragen nach Details umso mehr. Seelsorge ist weder berufen noch qualifiziert, ein Nacherleben oder auch nur ein detailliertes Erzählen traumatischer Erlebnisse zu stimulieren.
Die Selbstaussage des*der Gesprächspartner*in ist also bleibend die einzige Basis für das Gespräch. Die Selbstqualifizierung als Betroffene*r darf nicht hinterfragt werden. Unterbleiben müssen deshalb unbedingt alle Warum-Fragen, die sich auf das Verhalten des/der Gesprächspartner*in beziehen. Warum haben Sie sich so verhalten? Warum sind Sie nicht weg gegangen? Warum haben Sie den*die Täter*in nicht angezeigt? Warum haben Sie sich nicht gewehrt?… Alle diese Fragen kehren das Täter-Opfer-Verhältnis um und zwingen die/den Betroffene*n in Rechtfertigung und Verteidigung.
Bei einem missbräuchlichen Übergriff liegt die Verantwortung für das Geschehen ausschließlich bei dem*der Täter*in. Es ist hier nicht wie bei einem Konflikt, wo beide Seiten meist ihren Anteil haben. Folglich haben alle Interventionen, die eine Beteiligung des**er Betroffenen voraussetzen, keinen Platz in der Seelsorge mit Missbrauchsbetroffenen. Ich muss als Seelsorger*in auch nicht darüber nachdenken, welche persönlichen Bedingungen, Verhaltensweisen oder Beeinträchtigungen meines Gegenübers eventuell dazu beigetragen haben, dass er*sie Opfer von Missbrauch geworden ist. Das alles hält mich nur vom Verständnis für diesen Menschen und von der Solidarität mit seinem Erleben ab.
Das durchzuhalten ist besonders herausfordernd, wenn der*die Betroffene noch ganz oder teilweise täteridentifiziert ist. Wird gleichzeitig die Tat und die Schädigung erzählt und der*die Täter*in in Schutz genommen, gilt die Solidarität des*der Seelsorger*in dem*der Leidenden bzw. dem leidenden Anteil des/der Gesprächspartner*in und nicht dem täterlegitimierenden Anteil. Gleiches gilt, wenn Einvernehmlichkeit behauptet wird, obwohl Schädigung erlebt wurde – sogar dann, wenn nicht eindeutig feststeht, dass eine Einvernehmlichkeit wegen gegebener Abhängigkeit von vornherein ausgeschlossen werden kann. In dieser Situation macht es keinen Sinn, der täterlegitimierenden Ideologie zu widersprechen. Das würde die Gesprächsbasis zerstören. Als Seelsorger*in erkenne und ertrage ich die Täteridentifikation, bleibe aber mit meinem Mitfühlen konsequent auf der Seite des erlebten Leids. Während ich also Fragen der Legitimität des Geschehens für den Moment „unter den Tisch fallen lasse“, fokussiere ich mit meinen Interventionen auf die körperlichen, psychischen und sozialen Folgen des erzählten Übergriffs.
Betroffene haben – bevor sie mit einem*r kompetenten Seelsorger*in sprechen – nahezu immer bereits Erfahrungen damit, dass sie in Gesprächen mindestens der Mittäterschaft verdächtigt wurden. Täter-Opfer-Umkehr ist im Kontext sexualisierter Gewalt gegen Erwachsene und spirituellen Missbrauchs nach wie vor gesellschaftlicher Normalfall. Um der Solidarität mit der betroffenen Person und um der Gerechtigkeit willen, wird der*die Seelsorger*in also allen erzählten Verantwortungszuschreibungen an das Opfer zu widersprechen versuchen.
Wenn die Täteridentifikation gebrochen ist oder zumindest Risse bekommen hat, kann ein erklärender Gesprächsteil sehr hilfreich und entlastend sein. Der*die Seelsorger*in setzt dann das Erzählte in den Kontext ihrer*seiner Kenntnisse über Missbrauch und der Täter-Opfer-Umkehr. Auf diese Weise gibt er*sie der*dem Gesprächspartner*in Möglichkeiten an die Hand, sich und das Erlittene selbst besser zu verstehen und noch eindeutiger Position zu beziehen. Die betroffene Person wird auf diese Weise darin unterstützt, sich gegen die eigenen Bedürfnisse der Legitimierung des Geschehens, gegen den Verdacht der Einvernehmlichkeit, gegen die eigenen Versuchungen zur Täter-Opfer-Umkehr zu verhalten. So kann eine Basis dafür entstehen, dass der*die Betroffene eigene Scham- und Schuldgefühle wahrnehmen, thematisieren und perspektivisch auch relativeren kann.
Denn wegen der allgegenwärtigen und oft internalisierten Täter-Opfer-Umkehr entwickeln fast alle Betroffenen von Missbrauch starke Scham- und Schuldgefühle. Diese halten noch an, wenn die wirkliche Verantwortung und die missbräuchlichen Abläufe längst offen zu Tage liegen und der/die Betroffene sich rational von Vorstellungen eigener Mitverantwortung distanziert hat. Die wohlmeinende Pastoral-Sprech-Aufforderung, die Scham „los zu lassen“, nützt nicht nur nichts: Sie verletzt. Scham- und Schuldgefühle gehören vielleicht zu meiner*m Gesprächspartner*in. Also haben sie Platz zwischen uns im Gespräch. Ich werde versuchen, Verständnis für die Person und ihr Erleben zu haben, auch wenn ich vielleicht die Scham nicht nachvollziehen kann. Mein*e Gesprächspartner*in darf Scham und Schuldgefühle empfinden und verdient als solche mein Mitgefühl – ohne dass daraus in irgendeiner Weise folgen würde, dass er*sie doch wieder in die Mittäterschaft mit dem Missbrauch gerückt wird.
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Täterstrategien aufdecken
Missbrauchstäter*innen arbeiten mit Vernebelungen, um die harte Realität des Übergriffs und die Schädigung vor sich und vor dem Opfer zu verbergen. Im Raum der Kirche werden dafür häufig Spiritualisierungen genutzt. Es wird sorgsam und über längere Zeit eine Sonderwelt aufgebaut, in der das Verbrechen Gnade und der Missbrauch Ausdruck der göttlichen Liebe ist. Die Täter*innen erscheinen als diejenigen, die sich aufopfern, um den anderen eine besondere Wohltat zukommen zu lassen. Das kann so weit gehen, dass sie sich selbst für den Aufwand bedauern. In ihrer Sonderwelt werden die Täter*innen zu Opfern, die sich ganz in der Hingabe an die Begnadung der Menschen verausgaben. Werden solche Ideologisierungen durch die Betroffenen berichtet, ist es Aufgabe der Seelsorger*innen solche Trugbilder aufzuklären und daran mitzuwirken, sie hoffentlich aufzulösen.
Dazu ist eine Unterbrechung in der rein seelsorglichen Zuwendung erforderlich. Der*Die Seelsorger*in rekapituliert dann mit eigenen Worten, was er*sie vom Tathergang verstanden hat, was der reale Kern des Übergriffs ist, und mit welchen Strategien, die Wirklichkeit umgedeutet wurde. Sie*Er entlarvt dabei die aber-theologischen Konstrukte (zum Beispiel Sex als Quasi-Sakrament der göttlichen Liebe – so von Thomas Philippe und Jean Vanier als missbrauchslegitimierende „Theologie“ entwickelt) und setzt ihnen biblisch und dogmatisch gesicherte Vorstellungen von Gottes Wirken entgegen. Der*die Seelsorger*in arbeitet an dieser Stelle ausdrücklich theologisch. Er*Sie dekonstruiert die missbrauchslegitimierende, spiritualisierende Ideologie, trennt dabei Elemente bewährter Spiritualität von den interessegeleiteten, häretischen Verdrehungen und zeichnet die Manipulationen detailliert nach. Durch diese Dekonstruktionsleistung werden die Täter*innen als solche für die Betroffenen sichtbar. Die Täter*innen stehen nun mit ihrem Lustgewinn, in ihrer Verantwortung und ihrem missbräuchlichen Handeln deutlich vor Augen.
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Professionalität
Täter-Opfer-Umkehr ist oft subtil und schleicht sich immer wieder auch in scheinbar ganz harmlose Standard-Interventionen von Seelsorgenden ein. Um professionell agieren zu können, müssen Seelsorgende deshalb die Missbrauchsmuster und Missbrauchsfolgen – Anbahnungswege, Manipulationsstereotypen, Schuldumkehr, Schein-Einvernehmlichkeit, Täterintrojekte, posttraumatische Belastungen usw. – kennen und durchschauen lernen. Kontinuierliche Weiterbildung ist die Basis.
Seelsorger*innen kommen nicht umhin, im Kontakt mit Missbrauchsüberlebenden adäquat handlungsfähig zu sein, an ihren Haltungen zu arbeiten und angemessenes Verhalten in Rollenspielen gründlich zu trainieren. Traumasensible und die Opfer schützende Kommunikation sollte ihnen in Fleisch und Blut übergegangen sein. Denn viele Interventionen – zum Beispiel Distanzierung von dem*der Täter*in – müssen sehr schnell, quasi automatisch und vorreflexiv, ins Wort gebracht werden.
Wer von Überlebenden von Missbrauch als Seelsorger*in angefragt wird, ist nicht zuletzt auf sorgfältige Selbstreflexion und zeitnahe Super- bzw. Intervision angewiesen. Erzählungen von Missbrauch überfordern jede*n. Missbräuchliches Verhalten infiziert das ganze System und alle die davon hören mit seiner verbrecherischen Gewalt. Dieser Ansteckung, die sich dann z.B. in versteckter Täter-Opfer-Umkehr äußert, kann nur durch radikale Ehrlichkeit vor sich selbst und Offenheit für kritisches Feed-back begegnet werden.
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Literatur:
Der Untersuchungsbericht zu Jean Vanier ist auf der Homepage der Untersuchungskommission abrufbar: https://commissiondetude-jeanvanier.org/commissiondetudeindependante2023-empriseetabus/wp-content/uploads/2023/02/Zusammenfassung-des-Berichts-der-Studienkommission-de-2023_DE.pdf
Kerstner/Haslbeck/Buschmann, Damit der Boden wieder trägt – Seelsorge nach sexuellem Missbrauch, Schwabenverlag 2016.