Kirche steht unter dem Druck massiver Veränderungsprozesse. Allerorten wird gefordert, dass sie ihre Entwicklung nicht nur strukturell vorantreibt, sondern als „geistliche Prozesse“ angeht, ihre Entscheidungen geistlich trifft. Der Text von Peter Hundertmark benennt einige Vorbedingungen, damit geistliche Prozesse beginnen.

 

 

Voraussetzungen geistlicher Prozesse der Kirchenentwicklung

Beitrag von Dr. Peter Hundertmark – Photo: Elaine Rudolphi

 

Muße

Anhalten, im Körper ankommen, miteinander sein, Entspannung, Freiräume, überzählige Zeit und Kraft… sind die notwendige Vorbedingungen für geistliche Prozesse. Diese Voraussetzung ist jedoch in den meisten Fällen des pastoralen Alltags sowohl der Hauptamtlichen, wie der Engagierten, nicht gegeben. Es braucht deshalb die ausdrückliche Erlaubnis und reale Veränderungen für Muße.

Wer geistliche Prozesse der Kirchenentwicklung will, muss sehr grundsätzlich umdenken und umkehren. Kirche vor Ort hat oft nicht einmal genug Zeit und Kraft für alles Notwendige, geschweige denn für alles Sinnvolle. In Situationen menschlicher Überforderung ist aber wenig Platz für das Wirken des Geistes Gottes. Wer geistliche Prozesse will, muss den Weinberg der Pastoral beschneiden – nicht ein paar Stunden im Monat frei räumen, sondern radikal herunterschneiden! Wie im Januar in den Weinbergen…

„Jede Rebe an mir, die keine Frucht bringt, schneidet er ab, und jede Rebe, die Frucht bringt, reinigt er, damit sie mehr Frucht bringt.” (Joh 15,2)

Jede Rebe trägt Frucht, nur ein Weinstock, an dem alle Reben bleiben, trägt keine Frucht. In einem überwucherten Weinberg wächst jedenfalls nichts Schmackhaftes, nichts was dann irgendwann das Herz erfreut. Aus der Überlastung führt kein Weg in geistliche Prozesse. Erst müssen wir aufhören zu rennen, müssen wir Tagesordnungen, Aufgabenkataloge, die inneren und äußeren Antreiber bändigen, brauchen wir Muße, Zeit zu hören, auszuschauen, zu spüren, zu denken, zu träumen…

 

Gebet

Zweite Bedingung ist, dass die Muße auch für Gebet – über die Liturgie hinaus – genutzt wird. Schweigen, freies Gebet, die persönliche Gottsuche, Nachfolge… sind aber nicht überall integraler Bestandteil kirchlicher Abläufe. Persönliches Beten, Stille, Achtsamkeit, geduldiges Hören auf den Geist Jesu… ist oft „nur“ dem privaten Vollzug überantwortet – wo sie geübt werden oder eben nicht.

Fehlt Gebet als zentrales Element der Kirchenentwicklung sind Stillstand, Widerstand, Abstand… die Folgen. Dann verschwindet die Wahrnehmung des Wirkens des Geistes Gottes. Kirche, Gruppen, Einzelne werden kraftlos, müde, desorientiert, blockiert. Ohne Gebet brauchen wir aber keine Versuche machen, geistliche Entwicklungsprozesse auf den Weg zu bringen. Wer geistliche Prozesse der Kirchenentwicklung will, muss Gebet in die institutionellen Abläufe, Sitzungen, Treffen, seelsorgerlichen Handlungen hinein organisieren.

„Darum legt die Rüstung Gottes an, damit ihr am Tag des Unheils standhalten, alles vollbringen und den Kampf bestehen könnt. Seid also standhaft: Gürtet euch mit Wahrheit, zieht als Panzer die Gerechtigkeit an und als Schuhe die Bereitschaft, für das Evangelium vom Frieden zu kämpfen. Vor allem greift zum Schild des Glaubens! Mit ihm könnt ihr alle feurigen Geschosse des Bösen auslöschen. Nehmt den Helm des Heils und das Schwert des Geistes, das ist das Wort Gottes. Hört nicht auf, zu beten und zu flehen! Betet jederzeit im Geist;“ (Eph 6,13-18)

Die Priester, Diakone, Pastoralreferent/innen, Gemeindereferent/innen sind hier gerufen, zuerst und vor allem Vorbild, dann auch Anleiter/innen und Begleiter/innen zu sein – für persönliches geistliches Leben und pastorale Praxis. Das gelingt nur, wenn Gebet selbstverständliche Kultur wird. Das beginnt beim Leitungshandeln und endet bei nachbarschaftlichen Treffen noch nicht.

In bestehenden Gruppen, Teams, Gremien gelingt es dennoch nur dann, wenn intern mehrere Personen die geistliche Suche stützen. Eine Möglichkeit für kommunitäre oder institutionelle geistliche Entwicklungsprozesse könnte es deshalb sein, gezielt betende, spirituell erfahrene Menschen (zwei oder mehr) für einige Zeit Teams und Gremien zuzumischen, um dort eine kritische Masse für geistliche Veränderung zu schaffen.

 

Sendung

Geistliche Prozesse der Kirchenentwicklung sind keine Selbstbeschäftigung, keine Nabelschau, keine Entweltlichung… Es geht im ganz konkrete Dinge, die überlegt, entschieden und getan werden müssen. Dabei ist zu beachten, dass der Geist Gottes der Geist Jesu ist und er es deshalb leichter hat, wenn die Suchrichtung, die er unterstützen soll, sich mit der Lebensausrichtung Jesu deckt.

Jesus aber ist gekommen, „zu retten, was verloren ist“, „Armen das Evangelium zu verkünden“, „Kranke zu heilen“… Er ist strikt außenorientiert. Seine Sendung ist nicht der Aufbau eines frommen Kreises, sondern die Rettung der Menschen aus Sünde und Tod. Daran beteiligt er andere – die Apostel, die seine Sendung übernehmen, sich mit hinein stellen, weitertragen, was er tun will. Kirche ist auf das Fundament der Jesu und der Apostel gegründet. Von diesem Fundament her ist sie vor allem und zuerst Sendung für das Heil der Welt und der Menschen – und erst der zweite Blick gilt ihr selbst und was sie intern für ihre Sendung nach außen braucht.

Kirche ist Sendung – Zeichen und Werkzeug der Erlösung, Befreiung, Rettung, Gerechtigkeit. Sie findet sich selbst aus den Fragen der Menschen. Partizipation, partizipative Kirche, ist zuerst Teilhabe der Getauften an der Sendung, und daraus und an zweiter Stelle Beteiligung an der Verwaltung, Leitung und Gestaltung von Kirche.

Durch radikale Außenorientierung werden sich die internen Blockaden eher lösen, denn durch Nachdenken und Umstrukturieren. Kirche ist Sendung, Mission, Sakrament. Und erst dann und darauf ausgerichtet Gemeinschaft, Institution… Und Kirche ist nicht Sendung, damit die Menschen zu ihr zurückkommen, sondern damit sie dort auf ihre Weise Christus nachfolgen. In dieser Perspektive gelingen dann auch geistliche Prozesse der Kirchenentwicklung, denn der Geist Gottes ist da in seiner Kraft und seinem gewohnten Schwung. Er nimmt die mit, die sich ihm öffnen und das umso leichter, wenn sie schon in die gleiche Richtung blicken.

Geistliche Prozesse der Kirchenentwicklung kann man eher mit Segeln, denn mit Rudern vergleichen. Der Geist Gottes bläst in die Segel und treibt das Boot dahin, wo er will – und das ist immer dahin, wohin Jesus auch wollte. Natürlich kann man auch rudern, immer den eigenen Ideen, der eigenen Sicherheit, dem (Gruppen)Egoismus nach, aber dann ist es anstrengend, kommt nicht recht voran und ein geistlicher Prozess ist es wahrscheinlich auch nicht – siehe die biblischen Erzählungen vom Sturm auf dem See.

 

Begleitung

Geistliche Prozesse der Kirchenentwicklung benötigen immer eine Person, die auf den Prozess achtet, Muße offenhalten hilft, Beten anregt und einfordert, die Außenorientierung der Sendung und das Segeln vor dem Wind des Geistes Gottes im Blick behält.

Dafür gibt es zwei Möglichkeiten: ein/e externe/r Begleiter/in, dem/er die Gruppe, das Team, das Gremium diese Aufgabe überträgt; oder ein Mitglied (das kann sogar immer mal wechseln!), dem die anderen Mitglieder diese Position übertragen. Je mehr diese/r „Spiritual/in“ über Erfahrung und ein reflektiertes Wissen über geistliche Prozesse, ihre Dynamik, Abfolge, Interventionsmöglichkeiten verfügt, desto effektiver ist er/sie für die Gruppe. Minimale Bedingung aber ist, dass der/die „Spiritual/in“ glaubt: glaubt, dass Gott durch seinen Geist aktiv und aktuell in die kirchlichen Abläufe hinein handelt, dass Gott mit eigenem Willen und eigener Vision – oft überraschend – in das Geschehen eingreift, dass dieses Handeln Gottes wahrnehmbar und verstehbar ist, dass Gottes Handeln notwendend ist für Kirche und gut für Menschen und Schöpfung.

Der/die „Spiritual/in“ hilft dem Team, dem Gremium, der Gruppe dem Geist eine konkret handlungsleitende Führungsrolle in den Entscheidungsprozessen einzuräumen. Der Geist aber ist der Geist Jesu, den wir aus den Evangelien kennen. Durch seinen Geist leitet Jesus Christus seine Kirche. Er ist der Herr. Das hat massive Konsequenzen dafür, wie Kirche ihr Leben gestalten kann.

 

Offenheit

Geistliche Prozesse der Kirchenentwicklung haben eine doppelte Eigenart: Sie schaffen innerhalb einer Gruppe in der Regel breiten Konsens, aber es entstehen in den verschiedenen Gruppen sehr unterschiedliche Konkretisierungen. Der Geist Gottes ist nämlich immer konkret. Er bezieht die Situation am Ort ein, die handelnden Personen, die konkreten Bedarfe… und das führt zwangsläufig zu unterschiedlichen Ergebnissen. Manchmal sieht es so aus, als würden sich die Ergebnisse widersprechen, wüssten wir nicht, dass sie alle Frucht des einen Geistes Gottes sind.

Da gilt ein spiritueller Grundsatz: „Je mehr der Geist Gottes ganz unterschiedliche Gestalten des Glauben(leben)s hervorbringt, desto mehr eint er. Denn in allem ist es der gleiche Geist.“ Eine Gestalt von Kirche, ein Angebot… für alle, war gestern. Alles, was auf Diversität setzt, verschiedene, auch konkurrierende Gestalten kreativ hervorbringt, offene Prozesse anstößt, die Begegnung der Kulturen in der Weltkirche nutzt, um alle zu verändern, geht in die richtige Richtung. Kirche aus geistlichen Prozessen wird bunt, kantig, profiliert, schwierig, unregierbar, anders…

„Es gibt verschiedene Gnadengaben, aber nur den einen Geist. Es gibt verschiedene Dienste, aber nur den einen Herrn. Es gibt verschiedene Kräfte, die wirken, aber nur den einen Gott: Er bewirkt alles in allen. Jedem aber wird die Offenbarung des Geistes geschenkt, damit sie anderen nützt. Dem einen wird vom Geist die Gabe geschenkt, Weisheit mitzuteilen, dem andern durch den gleichen Geist die Gabe, Erkenntnis zu vermitteln, dem dritten im gleichen Geist Glaubenskraft, einem andern – immer in dem einen Geist – die Gabe, Krankheiten zu heilen, einem andern Wunderkräfte, einem andern prophetisches Reden, einem andern die Fähigkeit, die Geister zu unterscheiden, wieder einem andern verschiedene Arten von Zungenrede, einem andern schließlich die Gabe, sie zu deuten.“
(1 Kor 12, 4-10)

Geistliche Prozesse der Kirchenentwicklung sind in sich schon Charismenförderung und drängen auf Charismenförderung. Durch geistliche Prozesse entstehen die Gestalten kirchlicher Präsenz je neu aus den Charismen. Die Charismen formen und gestalten dann die Kirche – und nicht die tradierten Aufgabenkataloge. Der Dienst der Einheit ist dann jedoch umso notwendiger.

 

Mut

Geistliche Prozesse der Kirchenentwicklung beginnen nur, wenn sie gewollt werden. Geistliche Prozesse wollen, heißt aber, bereit zu sein, die Kontrolle über die Ergebnisse aus der Hand zu geben, andere Geschwindigkeiten einzuplanen und vor allem auch, bereit zu sein, dass was sich unter dem Wirken des Geistes Gottes zeigt, auch in die Praxis umzusetzen. Geistliche Prozesse bringen Charismen zum Vorschein, lassen Lösungen entdecken, lassen neue Formen von kirchlichem Leben aufblühen. Geistliche Prozesse sind aber auf Jahre tot und desavouiert, wenn ihre Ergebnisse ausgehebelt werden.

Wer geistliche Prozesse sagt, sagt Risiko, sagt Umkehr, sagt Überraschendes. Wer geistliche Prozesse will, rechnet damit, aus der kirchlichen Wohlfühlzone herausgeführt zu werden. Nur wenn die jeweils verantwortliche Ebene/Person will, gehen geistliche Prozesse als bewusstes Handeln der Kirchenentwicklung auch los.

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