Das seelsorgerliche Gespräch mit Betroffenen von Missbrauch erfordert alle Empathie und Kompetenz und darüber hinaus noch einige spezifische Fähigkeiten. Es folgt eigenen Regeln. Der Artikel ist zuerst in der Zeitschrift „Theologie der Gegenwart, Heft 1/2023 der Theologischen Fakultät Erfurt erschienen.
Von Betroffenen herausgefordert. Seelsorge nach geistlichem Missbrauch
Text: Peter Hundertmark – Photo: darkmoon_art/pixabay.com
Seit etwa sechzig Jahren dringen immer wieder Berichte über schockierende Zustände und menschenverachtendes Verhalten in katholischen Gruppierungen in eine größere Öffentlichkeit. Meine persönliche Erstbegegnung mit solchen Schilderungen war Anfang der Neunzigerjahre das Buch von Klaus Steigleder „Das Opus Dei. Eine Innenansicht“. [1] Solche Bücher und Artikel wurden umgangssprachlich in eine eigene literarische Gattung zusammengefasst: „Aussteigerliteratur“ –der abfällige Duktus dieser Zuordnung ist bis heute zu spüren. Wer diese Berichte las, fühlte sich, je nach kirchenpolitischer Position, irritiert oder bestätigt. Aber eine eigentlich natürliche Reaktion hat sich weithin – auch bei mir – nicht eingestellt: den Autor*innen wurde keine Empathie entgegengebracht. Die schlichte Einsicht, dass da Menschen schreiben, die fürchterlich gelitten haben und auch nach dem Austritt noch immer an inneren Konflikten leiden, fand nicht statt. Es gab für das, was da beschrieben wurde, kein Wort. Das Leid der Betroffenen war und blieb unsichtbar, egal wie viel sie veröffentlichten. Man konnte darüber nicht reden und es wurde wenig mit ihnen gesprochen. Rückblickend muss hier von einem weiteren schwerwiegenden Versagen von Kirche gesprochen werden.
Seit Anfang der Zweitausenderjahre begegneten mir Menschen mit solchen Geschichten auch konkret in meinem Dienst der geistlichen Begleitung. Dass diese Menschen Unrecht erlebt hatten, war eindeutig da und konnte besprochen werden. Viele Bemühungen blieben dennoch fruchtlos. Die Begleitung konzentrierte sich auf die Stabilisierung der Betroffenen. Es fehlte noch immer der Begriff, für das was sie erlebt hatten. Es gab Betroffene, aber wovon sie betroffen waren, war nicht sagbar und schon gar nicht verallgemeinerbar. Ein Ruf nach Aufarbeitung und Gerechtigkeit konnte immer noch nicht hörbar werden.
Die Situation änderte sich erst, als im Nachgang zur Pressekonferenz im Canisius-Kolleg im Januar 2010 die spezifischen Bedingungen immer sichtbarer wurden, die den ungestraften Missbrauch von Kindern in der katholischen Kirche möglich gemacht hatten. Schritt für Schritt wurde immer deutlicher, dass die Anbahnungsstrategien zwar in allen Missbrauchshandlungen strukturell ähnlich sind, es aber eine spezifisch kirchliche Methode gab und gibt, die Verbrechen unsichtbar zu machen. Klerikalismus, die Überhöhung charismatischer Persönlichkeiten, aber auch ein verqueres Verständnis zentraler spiritueller Begriffe wie Hingabe, Gehorsam, Dienst und Demut trugen dazu bei, die Opfer an Widerstand, Flucht und Anzeige zu hindern. Kein halbwegs geschickter kirchlicher Täter benötigt(e) offensichtliche, körperliche Gewalt, um Kinder und auch Erwachsene gefügig zu machen. Nahezu alle sexualisierten Übergriffe fanden in einem überspiritualisierten „Nebel“ statt, in dem längst vor der ersten körperlichen Berührung das Verbrechen in besondere Gnade und das Leidempfinden der Opfer in Sünde umgedeutet waren.
In diese beginnende Sensibilisierung hinein, erschien 2014 „Nicht mehr ich. Die wahre Geschichte einer jungen Ordensfrau“[2], das erste Buch von Doris Reisinger, damals noch unter ihrem Geburtsnamen Wagner, veröffentlicht. Fünf Jahre früher hätte sich dieses Buch in die lange Reihe der Aussteigerliteratur eingereiht, einige wenige hätten es mit Bestürzung gelesen, Konsequenzen wären wieder ausgeblieben, zumal die beschuldigte Gemeinschaft nicht müde wurde, die Glaubwürdigkeit von Doris Wagner/Reisinger in der kirchenaufsichtlichen Wahrnehmung zu untergraben. So aber war plötzlich das fehlende Wort da: Spiritueller Missbrauch. Bei der nächsten Veröffentlichung von Reisinger fand es sich dann bereits auf dem Titelblatt.[3] Inzwischen sind zahlreiche Publikationen erschienen, wurden Tagungen durchgeführt, erste Gruppierungen aufgelöst. Für 2023 ist eine Stellungnahme und Orientierungshilfe der deutschen Bischöfe angekündigt.
Aber natürlich war damit der Widerstand gegen die Wahrnehmung einer verbrecherischen Wirklichkeit nicht einfach weg. Fünf Strategien des Widerstands tauchen dabei immer wieder auf: Das Problem wird regionalisiert – es findet in den jungen kirchlichen Bewegungen statt, in entlegenen Nischen der katholischen Welt; es wird mit einem „nur“ versehen – es war „nur“ spiritueller Missbrauch, obwohl inzwischen jeder nachlesen und wissen kann, dass dieser Missbrauch genauso tief in die Persönlichkeit eingreift und genauso verheerende Auswirkungen auf Selbstbild und Lebensfähigkeit der Betroffenen hat wie der sexuelle Missbrauch; es wird angeführt, spiritueller Missbrauch sein kein präziser Begriff, man könne gar nicht genau sagen, was das ist, keine Eindeutigkeit in der Diagnose herstellen; und in klassischer Täter-Opfer-Umkehr wird den Betroffenen die Verantwortung zugeschoben – „Warum bist du nicht weggegangen?“; und nicht zuletzt wird das Erleben immer noch wieder ins Lächerliche gezogen – „Jeder hat schon mal eine schlechte Predigt ertragen müssen.“ Alle diese Abwehrstrategien haben das Potential, die Betroffenen erneut zu traumatisieren. In der seelsorgerlichen Begleitung haben sie nichts zu suchen. Sie sind zutiefst menschenverachtend.
Geistlicher Missbrauch ist nicht die einzelne schlechte Predigt, nicht jeder Leitungskonflikt in der Kirche ist geistlicher Missbrauch, Gelübde auf die evangelischen Räte und Leben in hierarchisch strukturierten Gemeinschaften sind nicht in sich schon missbräuchlich, und auch schlechte Theologie ist erstmal nur schlechte Theologie. Entscheidend ist der systemische Kontext. Geistlicher Missbrauch ist ein System manipulativer Dominanz, Ausbeutung und Gewalt. Diesem System können die Opfer nicht entrinnen, denn ihr freier Wille ist absichtlich und systematisch außer Kraft gesetzt worden. Oft können selbst die Täter*innen und Profiteure dieses Systems es in seiner menschenverachtenden und zerstörerischen Wirkung nicht durchschauen. Im Französischen gibt es dafür den Begriff „emprise“. Wenn er im Folgenden aus der Perspektive von Gemeinschaften entwickelt wird, soll das nicht verschleiern, dass auch Zweierbeziehungen von spirituell verschleierter „emprise“ bestimmt sein können.
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Der Begriff der „Emprise“ ermöglicht einen synthetischen Blick, der die über einen längeren Zeitraum stabile Dimension des Missbrauchs sichtbar macht. Eindeutig missbräuchlich ist oft nicht die einzelne Handlung oder Entscheidung. Erst in einem Kontext ständiger manipulativer Dominanz, Gewalt und Ausbeutung bekommt sie ihre zerstörerische Wirkung. Der systemische Charakter dieser Dominanz erklärt auch, wieso manipulatives, toxisches Verhalten eines/r Ober*in von seinen/ihren Nachfolger*innen weitergeführt wird.
Das Werkzeug der „emprise“ ist die Manipulation. Alles – Sprache, Liturgie, Beziehungen, Seelsorge, ungeschriebene Regeln… – wird in den Dienst der Manipulation gestellt. In einem System der „emprise“ bekommen alle Lebensäußerungen eine Bedeutung und Funktion, die sich von der Bedeutung und Funktion der gleichen Lebensäußerung außerhalb unterscheidet. Es entsteht eine Art „Paralleluniversum“. Dabei geht es im Kern um manifeste Ausbeutung: Ausbeutung von Arbeitskraft, finanzielle Ausbeutung, Ausbeutung von emotionaler Zuwendung und geistlicher Motivation, Ausbeutung von Sexualität. Im Zugriff der „emprise“, im Binnenraum der Manipulation, ist das alles aber scheinbar schlüssig, gottgewollt, normal und Ausdruck der Nachfolge Jesu. Die Verdrehung der Wirklichkeit ist jedoch von innen nicht durchschaubar. „Emprise“ führt dazu, dass auch diejenigen, die unter dem System leiden, es öffentlich verteidigen.
Die Profiteure der „emprise“ investieren unentwegt in die Sicherung der manipulativen Dominanz. Zugriff auf unabhängige Informationsquellen wird unterbunden, unbeobachtete Gespräche unter den Leidtragenden untersagt, Selbstreflexion, emotionale Reaktionen und körperliche Empfindungen der Opfer in ihrer Bedeutung neutralisiert, Dissidenten bei der kleinsten Abweichung aus der Gemeinschaft entfernt… „Emprise“ ist immer gewaltförmig, selbst dann, wenn nie sichtbare, gar dokumentierbare Gewalt angewandt wird. Dominanz, Ausbeutung und Gewalt übersetzen sich auf Seiten der Betroffenen in Bindung, Identifikation, Unterwerfung, Unmündigkeit, Abhängigkeit und Selbstzweifel, minimales Selbstvertrauen, Schuldgefühle, Minderwertigkeitsvermutungen. Nicht die Leidtragenden sind für das System der Emprise verantwortlich. Aber in ihnen entstehen fast zwangsläufig selbstabwertende Haltungen und Empfindungen, die das manipulative System stützen und seine Weiterexistenz möglich machen. Um im Gewaltsystem überleben zu können, müssen die Leidtragenden gegen sich selbst die theologische Manipulation übernehmen, die toxischen Regeln gutheißen, ihre eigene Ausbeutung verteidigen. Nicht selten werden dafür regelmäßige Unterwerfungs- und Selbstbezichtigungsriten inszeniert.
Mitglieder, die erwägen die Gemeinschaft zu verlassen, werden ideologisch entmenschlicht, zu Schädlingen herabgewürdigt, mit der kompletten Vernichtung bedroht, in die Hölle verdammt. Der Teufel selbst, so die Botschaft, ist in den Dissidenten am Werk. Praktisch wird das dann so umgesetzt, dass mit dem Austritt seitens der Gemeinschaft jeglicher Kontakt abgebrochen wird. Die Dissidenten fallen damit oft tatsächlich in ein soziales, finanzielles, emotionales und geistliches Nichts. Die Angst vor diesem Nichts ist in den Betroffenen oft lange Zeit größer als das Leiden an den Folgen der „emprise“. Und so verwenden sie viel Energie darauf, in sich selbst die Zweifel am System zu verdrängen – zum Beispiel in dem sie sich selbst die Schuld am Leid geben, das sie erleben. Eine Gemeinschaft unter „emprise“ hat immer eine aggressiv gewaltförmige und eine depressiv gewaltförmige Dimension. Mit diesen Erfahrungen, inneren Konflikten, Ängsten und Selbstzweifeln kommen dann Menschen im besten Fall in eine wache, empathische und freisetzende Seelsorgebegegnung.
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Ausgangssituation der Seelsorge[5]
Für Seelsorger*innen lohnt es, sich einmal innerlich mit „allen Sinnen“ in eine solche Situation der „emprise“ zu versetzen, in diese tür- und fensterlose, schallschluckende schwarze Folterkammer, in der das eigene körperliche und psychische Leid von Tag zu Tag schlimmer wird, aber kein Verstehen möglich ist. Um dann die Angst vor der völligen und ewigen Vernichtung zu spüren, die eine Flucht angeblich nach sich ziehen würde. Unmündigkeit, Abhängigkeit, die völlige Abwesenheit von Vertrauen in sich selbst und andere, die Unfähigkeit Gefühle zu empfinden, psychische und körperliche Selbstverletzung, psychiatrische Phänomene aus dem depressiven oder psychotischen Symptomspektrum, Schlaf- und Essstörungen… sind häufige Folgen der andauernden und multiplen Traumatisierung unter „emprise“.
Mit dieser Beschreibung sollte unmittelbar offensichtlich sein, dass mit ein oder zwei, ja nicht einmal mit einer Serie von zehn Gesprächen in Monatsabstand eine durchgreifende Verbesserung erreicht werden kann. Seelsorger*innen treffen hier auf schwerstbelastete Gesprächspartner*innen, deren Seele bis in die Wurzel zerstört wurde. Mit ihrer Kompetenz können Seelsorger*innen bestenfalls ein Baustein in einem umfassenden und auf längere Zeit stabilen Netzwerk von Begleitung, Unterstützung und Therapie sein. Zugleich ist dieser Beitrag vielen Betroffenen geistlichen Missbrauchs nach eigener Einschätzung unbedingt notwendig. Es muss deshalb der Spagat ausgehalten werden, dass Betroffene sich an Vertreter*innen der gleichen Kirche wenden, in deren Einflussbereich sie missbraucht worden sind.
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Gespräche bei stabiler Täteridentifikation
Grundsätzlich sind zwei Ausgangsituationen des seelsorgerlichen Kontakts mit Betroffenen geistlichen Missbrauchs zu unterscheiden. Durch den geistlichen Missbrauch und unter „emprise“ entsteht unvermeidlich eine Identifikation mit dem/der Täter*in bzw. der missbräuchlichen Gemeinschaft. Zentrale manipulative Botschaften werden zu Introjekten, die reflexartig anspringen, wenn sie irgendwie zu passen scheinen – in jedem Fall aber, wenn die Gemeinschaft oder der/die Täter*in in Frage gestellt wird. Solange diese Täteridentifikation steht und stabil ist, macht es deshalb überhaupt keinen Sinn, die Manipulation aufdecken, den Missbrauch benennen oder die Ideologie der Gruppe dekonstruieren zu wollen. Das führt einzig zu Verteidigungsreaktionen seitens des Opfers und im schlechtesten Fall zum Kontaktabbruch. Intellektuell-denkerisch sind die Betroffenen noch nicht zu erreichen. Da sie aber dennoch leiden und deshalb das Gespräch suchen, ist dort auch der Ansatzpunkt.
Zuerst aber gilt es – in dem unverfängliche Themen und nebensächliche Probleme besprochen werden – die Beziehung zu stärken. In dieser Phase wird die/der Seelsoger*in einige Male unauffällig getestet. Besteht er/sie den Test, geht das Gespräch weiter und tiefer, andernfalls läuft es aus und wird nicht wieder aufgenommen. Auf der Basis einer schon ein wenig bewährten Beziehung, die mehrere Tests unbemerkt, aber erfolgreich bestanden hat, kann dann als erstes das Leiden angesprochen werden. Meist äußert es sich zuerst körperlich: Essstörungen, Schlafstörungen, Organbeeinträchtigungen, Blutdruckprobleme, Kreislaufzusammenbrüche, Beeinträchtigungen der Sinneswahrnehmung… Die mit diesen Symptomen verbundenen psychologischen, emotionalen Belastungen werden erst in weiteren Gesprächen angedeutet. Aufgabe des/der Seelsorger*in ist es in dieser Phase, Zeug*in der Belastungen zu sein und Raum zu geben, wo sie erzählt werden dürfen. Unter „emprise“ dürfen sie nämlich nicht zum Thema gemacht werden, denn sie könnten eine heimliche Kritik transportieren. Im Gegenteil, da wo ihre Wahrnehmung nicht verborgen werden kann, werden diese körperlichen, aber auch die seelischen Belastungen dem/der Betroffenen angelastet: Wenn ihr Glaube groß genug, ihre Berufung stark genug, ihr Vertrauen in den/die Täter*in tief genug wäre…, dann gäbe es diese Symptome nicht.
Körperliche und seelische Belastungen sind folglich schambelastet und werden nur zögerlich zugegeben. Der/die Seelsorger*in steht dann vor der Herausforderung eine gute Balance finden, einerseits die Belastung nicht dem/der Täterin anzulasten – das würde eine Verteidigungshaltung seitens des Opfers auslösen, andererseits aber auch die Täter-Opfer-Umkehr, die die Betroffenen nicht selten selbst anbieten, nicht zu verstärken. Das gelingt oft nur durch konsequenten Rückzug auf eine quasi-medizinisch-technische Sichtweise. Überhaupt brauchen Betroffene mit bestehender Täteridentifikation oft die ausdrückliche Erlaubnis und manchmal sogar eine Unterstützung eine*n unabhängige*n Ärzt*in aufzusuchen.
Im Hinterkopf behalten muss der/die Seelsorger*in – darf es aber niemals aussprechen – dass möglicherweise der/die Betroffene alle Einzelheiten aus den Gesprächen an den/die Täter*in weitergibt. Möglicherweise wird der/die Täter*in dann versuchen, die Glaubwürdigkeit, Katholizität, Kompetenz oder Relevanz des/der Seelsorger*in zu unterminieren – gegenüber dem/der Betroffenen oder auch über öffentliche Kanäle. Vorsicht und Standfestigkeit sind unerlässlich, wenn man versucht, Opfern von geistlichem Missbrauch beizustehen. Ebenfalls nicht aus dem Blick verlieren darf der/die Seelsorger*in, dass ihr*e Gesprächspartner*in möglicherweise unter dem Einfluss von Psychopharmaka, Schlafmitteln, psychotropen Schmerzmitteln, Drogen… stehen. Manche Täter*innen zwingen ihre Opfer zur Einnahme solcher Mittel, um sie ruhig zu stellen und „funktionstüchtig“ zu halten. Manche Betroffene greifen auch aus eigenem Antrieb zu solchen (Selbst-)Medikationen, weil sie sonst die „emprise“ nicht überleben könnten.
Der/die Seelsorger*in wird dann in winzigen Schritten und über viele Gespräche hinweg daran arbeiten, Risse in die Täteridentifikation einzutragen. Nach und nach kann die behauptete „Normalität“ der „emprise“ und des geistlichen Missbrauchs in Frage gestellt werden. Verbogene, manipulierte Vorstellungen von Gott, vom geistlichen Leben, von religiöser Gemeinschaft, Nachfolge, Gehorsam… können behutsam korrigiert in dem ihnen andere, menschenfreundlichere Konzepte gegenüber gestellt werden. Irgendwann ist der Punkt erreicht, an dem der/die Gesprächspartner*in – zuerst versuchsweise und unter Vorbehalt – die Identifikation bricht. Nun erst machen frontalere Auseinandersetzungen mit der Täterideologie Sinn. Manchmal wird jetzt zum ersten Mal durch die Betroffenen der/die Täter*in mit Namen bekannt gemacht.
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Gespräche bei (an-)gebrochener Täteridentifikation
Ist der Name genannt, kann es sein, dass Melde- und Anzeigepflichten gegenüber der kirchlichen Autorität greifen – wenn Gefahr im Verzug ist, Minderjährige und Schutzbefohlene betroffen sind, es Hinweise auch auf sexualisierte Gewalt oder andere Kapitalverbrechen gibt.[6] Der/die Gesprächspartner*in ist nach Möglichkeit vorab über diese Pflichten des/der Seelsorger*in zu informieren. Gemeinsam muss festgelegt werden, wie vorgegangen werden soll, damit nicht plötzlich eine Dynamik entsteht, die der/die Betroffene nicht mehr kontrollieren kann. Unbedingt sollten Seelsorger*innen in dieser Situation die Beratung durch Ansprechpersonen der Bistümer oder einer außenstehenden „Insoweit erfahrenen Fachkraft“ bzw. der juristischen und kirchenjuristischen Fachstellen in Anspruch nehmen. Dies kann in einem ersten Schritt unter Anonymisierung der Betroffenen, wie der Täter*innen geschehen.
Denn die wichtigste Botschaft, die wie ein ständig wiederkehrender Refrain in Wort und Verhalten seitens der/des Seelsorger*in vorgebracht wird, lautet: „Sie entscheiden!“ Es ist diese Autonomie und Selbstwirksamkeit, die unter der „emprise“ ausgehebelt war. Im Verhalten der Seelsorger*in darf es deshalb keine Spur geben, die so gedeutet werden könnte, als würde die Autonomie auch von ihr/ihm übergangen. Meldepflichten können aber genau solche Dynamiken auslösen. Die stete Förderung der Autonomie und Selbstbestimmung muss umso deutlicher und eindringlicher festgehalten und transportiert werden, wenn der/die Betroffene die in der Not gelernte Abhängigkeit versucht, auf die/den Seelsorger*in zu übertragen. Solche Übertragungsphänomene wird es immer wieder geben. Sie müssen offengelegt und ihnen muss mit aller Energie widersprochen.
Wird erstmals der Name der beschuldigten Person oder Gruppierung genannt verlangt das eine sehr schnelle Reaktion der Seelsorger*innen. Innerhalb von Sekundenbruchteilen, muss der/die Seelsorger*in die möglicherweise empfundene, eigene Loyalität zum Täter bzw. der Täterorganisation brechen. Ihre/seine Solidarität gehört ausschließlich dem/der Gesprächspartnerin. Dieser Loyalitätsbruch muss nicht nur vollzogen, sondern auch sofort ins Wort gebracht werden. Daran darf kein Zweifel, keine Einschränkung, kein „damals“ oder „aber“ bleiben. Andernfalls ist das Gespräch entweder zu Ende oder nimmt eine für den/die Betroffene*n schädliche Wendung. Seelsorger*innen müssen diesen Loyalitätsbruch unbedingt häufiger in intervisorischen Rollenspielen üben, um ihn bei Bedarf unverzüglich und zu absolut verlässlich abrufen zu können. Kein Mensch kann zwei Herren dienen: den Betroffenen und den Täter*innen. Seelsorge mit von (geistlichem) Missbrauch Betroffenen verunmöglicht für die Seelsorgenden eine ganze Reihe scheinbar unkomplizierter Beziehungen und Begegnungen und macht sie nicht selten in der Kirche recht einsam. Auch an dieser Stelle wird die Option für die Armen konkret und schmerzhaft fühlbar.
Seelsorge mit missbrauchsbetroffenen Menschen unterscheidet sich von sonst üblichen Gesprächen in der Pastoral und hat einige andere und einige zusätzliche Regeln zu beachten. So ist immer, wenn das Thema (geistlicher) Missbrauchserfahrungen angedeutet wird, damit zu rechnen, dass der/die Gesprächspartner*in traumatische Situationen überlebt hat, davon aber bis heute gezeichnet ist. Es handelt sich um Überlebende, aber mit einiger Wahrscheinlichkeit um Überlebende mit posttraumatischen Belastungen. Damit greifen die Regeln und Vorsichtsmaßnahmen traumasensibler Seelsorge. [7] Während die „normale“ Seelsorge von einem Narrativ des/der Gesprächspartner*in ausgeht, das entfaltet wird und das dem/der Seelsorger*in ein erstes Verstehen der Umstände ermöglicht, muss, wenn Traumatisierungen im Raum stehen, alles getan werden, dass keine detaillierte Schilderung vorgebracht und dadurch die Erlebnisse vergegenwärtigt werden: Keine Erzählung, keine Exploration, kein Verstehen! Keine Aufarbeitung, keine Rückführung in die Erinnerung, kein erneutes Durchleben! Manche traumatherapeutischen Schulen arbeiten mit solchen Verfahren. Seelsorger*innen sind dafür in aller Regel nicht qualifiziert und werden mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit mehr Schaden anrichten, denn hilfreich intervenieren, wenn sie mit ihren Gesprächspartner*innen nicht strikt in der Gegenwart bleiben.
Sobald also eine Andeutung traumatischer Erlebnisse – zum Beispiel durch „emprise“ und geistlichen Missbrauch – gemacht wird, ist es notwendig, das Gespräch zu stoppen. Zwei Botschaften müssen sofort transportiert werden: „Ich habe es gehört, halte es für wahr und nehme es ernst, breche meine möglicherweise bestehende Loyalität zum Täter…“ und „Jetzt sind Sie hier in Sicherheit. Wir bleiben im Heute. Gehen Sie nicht mit der Erinnerung in die Vergangenheit zurück. Schließen Sie nach Möglichkeit nicht die Augen, damit die inneren Bilder weniger Chance haben.“ Wann immer der/die Seelsorger*in bemerkt, dass der/die Gesprächspartner*innen innerlich in die Vergangenheit rutscht, sich durch Erinnerungen oder Trigger wieder der traumatisierenden Situation nähert, muss das Gespräch sofort erneut unterbrochen und das Gegenüber mit deutlichen Worten in die Sicherheit des Heute und Hier zurückgeholt werden. Der/die Seelsorger*in muss zudem allen eigenen Versuchungen, des „Wissen-wollens“ widerstehen. Neugier und „Voyeurismus“ haben nie etwas in Seelsorge zu suchen, aber hier führen sie unmittelbar in die Katastrophe und in völlig unkontrollierbare Reaktionen, die niemand mehr auffangen kann.
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Exkurs: Trigger
Ein Wort zu Triggern: Trigger sind Begebenheiten heute, die Traumatisierte in die damalige Gegenwart des Traumas zurückversetzen. Getriggert erleben sie die Emotionen, die Ohnmacht, die Verzweiflung in gleicher Intensität, wie damals, als der Missbrauch aktuell stattgefunden hat. Trigger sind oft scheinbar ganz harmlose Dinge, Abläufe, Situationen… Aber auch Gerüche, eine Ähnlichkeit im Haarschnitt, ein Tonfall… können triggerinduzierte Flash-Backs auslösen. Manche Trigger verlieren mit den Jahren ihre Gefährlichkeit, andere behalten über Jahrzehnte ihre gewaltsame Wirkung. Sie unterliegen in keiner Weise dem Willen. Die Betroffenen lernen mit der Zeit einige Trigger kennen, viele sind und bleiben ihnen aber unbekannt und erscheinen zum ersten Mal, wenn sie ihre schmerzhafte Wirkung entfalten. Bekannte oder mit großer Wahrscheinlichkeit zu vermutende Trigger sind selbstverständlich im Gespräch möglichst zu vermeiden. Aber ausschließen lässt sich die Gefahr, dass etwas an dem/der Begleiter*in oder ihrem/seinem Verhalten triggert, zu keinem Zeitpunkt. Es macht folglich keinen Sinn, dass der/die Seelsorger*in krampfhaft versucht, alles zu vermeiden, was den/die Gesprächspartner*in triggern könnte. Er/sie ist jedoch gefragt, beim Ausstieg aus dem Flash-Back-Erleben zu unterstützen.
Im Bild gesprochen, wird also das Missbrauchsgeschehen erst einmal zwischen die beiden Gesprächspartner*innen abgelegt und „mit einem Tuch zugedeckt“. Beide wissen, dass es da ist. Beide wissen, dass es entscheidend wichtig ist. Beide wissen, dass es die Quelle für unendlich viel Leid und viel dysfunktionales Verhalten und Empfinden ist. Aber das „Tuch“ bleibt immer an seinem Platz. Die Einzelheiten bleiben unerzählt. Beide Gesprächspartner*innen konzentrieren sich auf die jetzt aktuellen inneren Regungen in dem/der Seelsorgesuchenden. Um diese zu explorieren, stellen die Seelsorger*innen den Resonanzraum der eigenen Affektivität zur Verfügung und zeigen sich mit ihren emotionalen Reaktionen – natürlich ohne sich selbst zum Thema zu machen. Auf diese Weise helfen sie ihren Gesprächspartner*innen, zur Ebene der bewussten Selbstaussage vorzudringen, die dann ein tiefes Verständnis seitens des/der Seelsorger*in möglich machen. Verständnis und Verstehen sind grundverschiedene Dinge. Verstehen nutzt nur dem/der Seelsorger*in, denn die Betroffenen kennen ihre Geschichte. Verständnis für diesen Menschen, sein Erleben, seine Belastungen… hingegen ist eines der kostbarsten Geschenke mitmenschlicher Zuwendung. Echtes Verständnis ist dabei idealtypisch vollkommen frei von jeder Form der Bewertung der Person, ihrer Erlebnisse und Reaktionen. Verständnis ohne Verstehen und ohne Bewertung ist das erste und vornehmste Ziel jeder traumasensiblen Seelsorge und insbesondere immer dann, wenn Erfahrungen spirituellen Missbrauchs im Raum stehen.
Im Laufe weiterer Gespräche werden dann dennoch Einzelheiten ins Gespräch kommen. Solange der/die Gesprächspartner*in das sicher steuern und aus einer sicheren Distanz berichten kann, ist dagegen nichts einzuwenden. Im Gegenteil nach und nach muss die Wahrheit ans Licht. Aber es braucht weiter eine große Vorsicht. Wann immer der Eindruck entsteht, es könnte in ein Nacherleben kippen, die sichere Distanz nicht einzuhalten sein, der/die Gesprächspartner*in auf „eine abschüssige Ebene“ kommt und sich innerlich gedrängt fühlt, mehr Einzelheiten zu erzählen, als jetzt verlässlich verkraftet werden können, muss das Gespräch wieder unterbrochen werden. Signale dafür sind oft zuerst körperlicher Natur: abschweifender Blick, Stresssymptome wie schneller Atem oder plötzlich auftretende ungewohnt rote Gesichtsfarbe, Überspannung in der Muskulatur, Übersprungshandlungen… Dann aber verändert sich auch die Tonlage und Färbung der Sprache, unter Trigger- und Flash-Back-Einfluss leidet die Stringenz der Gedanken und manchmal auch die Grammatik bis hin zu Wortfindungsbeeinträchtigungen. Manche Menschen müssen dann dabei unterstützt werden, sich im sicheren Raum des Heute wieder einzufinden. Einen unverfänglichen Gegenstand anschauen oder aus dem Fenster schauen hilft, ein paar angeleitete tiefe Atemzüge – ausatmen, einatmen, ausatmen… – können stabilisieren, und die deutlich und laut vorgebrachte Aufforderung, sich vom Nacherleben zu trennen und mit der Aufmerksamkeit wieder ganz hier zu sein.
Auch Betroffenen, deren Täteridentifikation brüchig oder aufgelöst ist, fehlen oft die Begriffe, um das, was sie durchlitten und überlebt haben, adäquat zu beschreiben und zu adressieren. Die/der Seelsorger*in stellt , wenn die Seelsorge-Beziehung gefestigt ist und erste Annäherungen an das missbräuchliche Geschehen bearbeitet sind – das kann durchaus mehrere Monate intensiver Begleitung voraussetzen, behutsam die einschlägigen Worte zur Verfügung und unterstützt ihre tastende und versuchsweise Anwendung: Übergriff, Missbrauch, Gewalt, Manipulation, Ausbeutung… Entscheidend, welche „Schwere“ der Begriffe durch die Betroffenen ausgewählt wird, ist ausschließlich deren Erleben und Selbsteinschätzung. Eine objektive Einschätzung ist nicht möglich und steht Seelsorgenden nicht zu. Missbrauch erträgt keine Komparative! Schon gar nicht gibt es so etwas wie „nur“ geistlichen Missbrauch.
Während der Gespräche werden Seelsorger*innen immer wieder damit konfrontiert, dass die Betroffenen „schwierige“, „anstrengende“ Persönlichkeiten (geworden) sind. Emotionale Verwirrung, Ängste, Selbstzweifel, Schuldgefühle, Bedürfnisse von Abhängigkeit und Unmündigkeit, Verfolgungsphantasien, Dissoziationen, Suizidgedanken… dürfen unter keinen Umständen auch nur im Ansatz bewertet und moralisch abqualifziert werden. Das ist eigentlich für jede Seelsorge selbstverständlich, muss hier aber dennoch ausdrücklich hervorgehoben werden. Schon deshalb, weil die Betroffenen aus ihrer Überlebensgeschichte heraus ein extrem feines Gespür für Abwertungen haben, denn sie wurden darauf konditioniert, sich selbst ständig ab- und den/die Täter*in aufzuwerten. Die Überlebenden sind so geworden, weil sie anders nicht überlebt hätten. Sie sind manipuliert und unterdrückt worden. Sie wurden Methoden der „mind control“ (Gedankenumbildung)[8] unterworfen. Ihre Emotionalität wurde absichtlich verwirrt. Ihr moralische Urteil wurde ausgehebelt. Sie sind Opfer – und nicht Verantwortliche für das, was ihnen angetan wurde. Damit verbieten sich auch so scheinbar harmlose „Informations“fragen, wie: „Warum sind Sie nicht weggegangen?“ oder „War ihnen klar, was mit Ihnen passiert?“
In der Arbeit mit Überlebenden geistlichen Missbrauchs sind Seelsorger*innen nicht nur – in einem engen Verständnis – begleitend gefordert. Sie müssen auch Widerstand leisten: natürlich nicht gegen ihre Gesprächspartner*innen, aber gegen Deutungen, die aus der „emprise“ stammen. So werden Seelsorger*innen immer wieder erleben, dass die Betroffenen von Schuldgefühlen gequält werden. Seelsorger*innen schaffen einen sicheren Raum, in dem die Schuldgefühle ans Licht kommen dürfen, aber sie widersprechen vehement der Täter-Deutung, dass es sich dabei um echte Schuld handelt. Der vielleicht wichtigste Widerstand der Seelsorger*in zielt jedoch auf die Schweigegebote. Jede*r Täter*in ist auf das Schweigen der Opfer angewiesen. Um dieses Schweigen zu garantieren, werden alle Maßnahmen von Manipulation und Gewalt(androhung), von Bestrafungs- und Höllendrohungen aufgefahren. Viele Betroffene haben diese Schweigegebote verinnerlichen müssen und halten unbewusst an ihnen fest, auch wenn sie sich gerade einer/einem Seelsorger*in anvertrauen. Diese*r soll dann ins Innere des Schweigeraums gezogen werden – konkret in dem ihm/ihr Meldungen, supervisorische Bearbeitung, Recherchen, öffentliche Positionierungen… untersagt werden. Bei allem notwendigen und absolut prioritären Opferschutz, dürfen sich Seelsorgende dennoch zu keinem Zeitpunkt unter die Schweigegebote verführen lassen. Sie würden damit die Verbrechen der Täter*innen decken und verlängern und ihre Gesprächspartner*innen schwer schädigen und gegebenenfalls retraumatisieren. Um der Betroffenen willen – und nur in dieser reinen Absicht – müssen sich Seelsorger*innen in dieser Phase manchmal gegen die Wünsche und Bewertungen der Betroffenen verhalten.
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Exkurs: (Selbst-)sorge für die Seelsorgenden
Supervision der Seelsorger*innen ist unerlässlich und muss vom Dienstgeber großzügig unterstützt werden. Jede*r ist überfordert, auch wenn er/sie schon lange Erfahrung hat und schon öfter mit solchen Themen befasst war, wenn er/sie Betroffene von (geistlichem) Missbrauch begleitet. Jede*r ist überfordert! Emotional, in seiner Loyalität zur Kirche, psychisch… Jede*r steht in der Gefahr, durch das Gehörte sekundärtraumatisiert zu werden. Jede*r macht Fehler im Gespräch mit Betroffenen. Jede*r wird ungewollt immer wieder einmal Trigger setzen und damit massive Belastungen und Schmerzen der Betroffenen auslösen. Da die Begleitungen sich in der Regel über längere Zeit hinziehen und sehr herausfordernd sind, droht den engagierten Seelsorger*innen auch die sogenannte „Compassion fatique“ – eine Stressreaktion, die die angemessene Empathie massiv behindert. Wer immer sich seelsorgerlich auf Betroffene einlässt und mit ihnen die langwierigen Wege der Befreiung und Gesundung geht, braucht engmaschige Supervision, braucht Intervision, braucht zusätzliche Zeit für Verarbeitung und Psychohygiene.
Im Laufe der Begleitung – und natürlich immer auf der Basis gelebter Solidarität und unverbrüchlicher Akzeptanz und Zuwendung zu den Betroffenen – können weitere „Gegenpositionen“ der Seelsorgenden notwendig werden. Irgendwann zum Beispiel taucht ein massiver Druck auf, den Täter*innen zu vergeben. Manchmal kommt er aus den Betroffenen selbst, manchmal aus ihrem Umfeld, immer aus dem Umfeld der Täter*innen. Hier müssen Seelsorger*innen mit aller Kraft dagegen halten. Vergebung setzt Bekenntnis, Schuldübernahme, Reue und Bemühen um Wiedergutmachung voraus. Ohne diese Vollzüge, die der/die Täter*in leisten muss, ist auch keine Lossprechung in der Beichte möglich. Es sind aber in all den Fällen aufgedeckten geistlichen Missbrauchs nach meinem Wissen keine Situationen bekannt geworden, wo die Täter*innen zu ihren Taten standen und sich auf den Weg der Wiedergutmachung gemacht hätten. Nicht eine! Damit ist Vergebung als Zusage an die Täter*innen unmöglich. Für manche Überlebende ist es nach Jahren der Auseinandersetzung und Aufarbeitung dran und lebensförderlich sich innerlich von den erlittenen Ungerechtigkeiten zu trennen. Manchmal entsteht dadurch ein Empfinden von Aussöhnung mit der eigenen Geschichte und auch mit dem sehr lange schambesetzen Faktum, dass man in eine solche „emprise“ hineingeraten ist. Diese innere Aussöhnung mit sich selbst darf nicht mit einer Vergebung für die Täter*innen verwechselt werden. Diese innere Aussöhnung ist kein legitimes Seelsorgeziel. Sie geschieht – vielleicht, vielleicht irgendwann – aber sie wird niemals angestrebt.
Ein weiterer „Widerstand“ der Seelsorgenden mag verwundern. Aber sie müssen bei vielen Betroffenen dem Wunsch wiederstehen, die spirituellen Praktiken, die Gebetsformen und das Gebetspensum, das im missbräuchlichen Kontext verlangt wurde, weiter zu führen. Nicht wenige fürchten, sonst ihren Glauben, ihr Heil oder Gott selbst zu verlieren, wenn sie von dem Gelernten abweichen. Auch wenn von diesen Ritualen in der Regel keinerlei Trost ausgeht, versuchen viele Betroffene ängstlich an ihnen festzuhalten. Die/der Seelsorger*in steht hier für die Erlaubnis zur spirituellen Pause ein und ist zugleich als Zeug*in gefragt, dass Gott damit nicht „beleidigt“ wird. Manche Betroffene müssen sogar durch eine längere Zeit der geistlichen Desensibilisierung gehen, in der vielleicht der spirituelle Hunger groß ist, aber nicht gestillt werden kann, weil alles, was bekannt und geübt ist, durch den geistlichen Missbrauch vergiftet wurde. Der Zeitpunkt eine erneuerte, nun menschenfreundlich und wahrhaft biblisch gegründete Spiritualität aufzubauen, kommt fast immer später, als beide Gesprächspartner*innen – Betroffene*r und Seelsorger*in – sich wünschen. Wird aber zu früh angeschlossen, wird der geistliche Missbrauch und die toxische Belastung des Glaubens und des/der Glaubenden fortgesetzt. Die Gefahr der Retraumatisierung und des Rückfalls unter die alte oder eine neue Form der „emprise“ ist dann immens.
Die Seelsorger*innen werden sich auch bemühen, allen Versuchungen der Betroffenen zu widerstehen, in eine andere Gemeinschaft einzutreten oder sich einer anderen, angeblich viel besseren charismatischen Figur anzuschließen. Solange der Missbrauch nicht ganz aufgearbeitet und „ausgeschwitzt“ ist, ist die Gefahr groß, dass die Betroffenen wieder in einen missbräuchlichen Kontext eintauchen. Diese Gefahr ist umso größer als Missbrauchstäter*innen und missbräuchliche Gruppierungen die „Schwäche“ und Bedürftigkeit der Betroffenen „riechen“ und sofort versuchen, sie für ihre eigenen Zwecke auszunutzen. Wie zu Beginn des ersten geistlichen Missbrauchs werden die Betroffenen mit Aufmerksamkeit, Wertschätzung, Hilfeangeboten überschüttet und so für die neuerlichen Gefahren und die lauernde „emprise“ blind gemacht. Seelsorger*innen müssen nun aufklären, Informationen zur Verfügung stellen – und manchmal ihre gesamte Autorität in die Waagschale werfen, damit diese Lockungen zurückgewiesen werden können.
Die Befreiung aus geistlichem Missbrauch und die Aufarbeitung ist harte Arbeit – zuerst für die Überlebenden, dann aber auch für die Seelsorgenden. Diese Arbeit braucht Zeit, viel Zeit. Die Faustformel, die zum Glück immer wieder auch mal unterboten wird, lautet: Es braucht so viel Zeit, sich zu befreien, wie man in der „emprise“ gefangen war. Mal gibt es ruhige Phasen in dieser Befreiungsarbeit, mal ausgesprochen stürmische, mal kommt es voran, mal wird der/die Betroffene wieder fast an den Anfang zurückgeworfen. Die Aufarbeitung geht Wege, Umwege, Abwege und landet auch manchmal in einer Sackgasse, die Umkehren nötig macht. Seitens der Seelsorgenden braucht es viel Geduld, stabilen Einsatz über längere Zeit, ein gerüttelt Maß Demut, eindeutige Solidarität und die Bereitschaft, die eigenen Ohnmachtserfahrungen auf dem Begleitungsweg auszuhalten. Und doch ist ihre Last verglichen mit der niederdrückenden Last und Not der Überlebenden nur ein Stäubchen.
[1] Steigleder, Klaus: Das Opus Die. Eine Innenansicht. Einsiedeln/Köln 4. Auflage 1991
[2] Wagner, Doris: Nicht mehr ich. Die wahre Geschichte einer jungen Ordensfrau. München 2014
[3] Wagner, Doris: Spiritueller Missbrauch in der katholischen Kirche. Freiburg 2019
[4] Die folgenden Passagen sind zum Teil aus einer früheren Veröffentlichung entnommen. Hundertmark/Peter: Emprise. https://geistlich.net vom 18.03.22
Eine differenzierte Darstellung der Anbahnung von „emprise“ im Kontext von geistlichem Missbrauch findet sich auch in: Les Cahiers de chemin de dialoque: L’emprise spirituelle, Heft 11, Marseille im Sommer 2021, Hrsg. Patrice Chocholski SJ.
Weitere Hinweise finden sich in der Berichten der französischen „Commission independante sur les abus sexuels dans l’eglise“ (CIASE), die unter https://www.ciase.fr/documents abgerufen werden können.
[5] Allgemein zur Seelsorge mit Traumatisierten siehe auch: Jungers, Martine: Wege an Licht. Wie Geistliche Begleitung traumatisierter Menschen gelingen kann, Ostfildern 2017
[6] Siehe: Interventionsordnung der deutschen Bischöfe, die in allen Bistümern wortgleich in den Amtsblätter veröffentlicht ist. Der Text kann über https://www.dbk.de/themen/sexualisierte-gewalt-und-praevention/dokumente/ordnung-und-rahmenordnung heruntergeladen werden.
[7] Stahl, Andreas: Traumasensible Seelsorge. Grundlinien für die Arbeit mit Gewaltbetroffenen, Stuttgart 2019 Kirscht, Ralph: Wandlungs-Räume. Praxishandbuch traumasensible Seelsorge. Stuttgart 2021
[8] Für eine Einführung in Mechanismen der „Mind controll“: https://de.wikipedia.org/wiki/Robert_Lifton. Hier: Bearbeitungsversion vom 28.4.2022