NS-Gräuel und Missbrauch in der Kirche können und sollen sicher nicht verglichen werden. Aber vielleicht kann die Aufarbeitung des Missbrauchs von der mühsam entwickelten Erinnerungskultur in Deutschland lernen: Verantwortung für die Betroffenen, Abkehr von Personenkult, wehrhafte Demokratie, Mahnmale, Gewaltenteilung, Strafverfolgung.

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Text: Peter Hundertmark – Photo: Hans/pixabay.com

Alle. Alle sind kontaminiert. Alle kirchlichen Lebensäußerungen sind durch Missbrauchstaten belastet: alle Diözesen, nahezu alle Männerorden, viele Frauenorden, nahezu alle kirchlichen Bewegungen, Schulen, soziale Einrichtungen, Caritas, Hilfswerke… Es gibt keine unbelasteten Inseln, auf die man sich zurückziehen könnte. „Wenn ein Glied [am Leib Christi] leidet, leiden alle Glieder mit.“ (1Kor 12,26) nimmt Paulus bereits die systemische Einsicht vorweg, dass Gewalt und Unrecht immer das ganze System in Mitleidenschaft und Mithaftung zieht. Und es haben Menschen gelitten und es leiden Menschen am Missbrauch, der ihnen von anderen Gliedern der Kirche angetan wurde und angetan wird. Missbrauch – egal ob sexualisierte Gewalt gegen Kinder, Jugendliche, Erwachsene… oder Machtmissbrauch oder spiritueller Missbrauch oder finanzielle Ausbeutung – Missbrauch betrifft das ganze System Kirche. Missbrauch und Missbrauchsvertuschung betrifft die ganze Kirche. Alle. Auch diejenigen, die persönlich niemals übergriffig handeln würden oder gehandelt haben. Auch diejenigen, die niemanden kennen, der übergriffig geworden ist. Toxisch kontaminiert sind aber nicht nur die Sozialgestalten, Institutionen, Gemeinschaften, sondern auch der Glaube, geistliche Traditionen, theologische Überzeugungen, amtliche Struktur, Gebetspraxis und Sakramente. Alle und Alles.

Dennoch geht Kirche weiter, wahrscheinlich muss Kirche weitergehen. Dennoch sind Menschen dort engagiert, finden Menschen dort Hilfe für ihr Leben, einen Raum für ihren Glauben. Dennoch hat Kirche weiterhin Verantwortung für Schulen, für Jugendverbände, für soziale Einrichtungen, für Mitarbeiter*innen. Weiterhin ist Kirche gesellschaftlich engagiert und politisch gefragt. Man kann sie nicht einfach abwickeln und schließen. Und wäre es nur, weil sie – natürlich nicht notwendig in der aktuellen Gestalt – Teil unseres Glaubensbekenntnisses ist.

Diese Situation ist extrem herausfordernd, aber nicht ohne Parallelen. Nach Bürgerkriegen müssen die Nachbarn miteinander weiterleben, auch wenn sie wissen, wer auf welcher Seite welches Unrecht verübt und welche Gewalt gelebt hat, auch wenn sich die Wunde nie mehr schließt. Nach der Regierungszeit der NSDAP, nach Holocaust, nach Gestapo, Weltkrieg und unzählbaren Verbrechen mussten Menschen im Täterland weiterleben: Täter*innen, Opfer, Mitwissende und angeblich Unbedarfte, überzeugte Nazis, Mitläufer und die, denen in ihrer eigenen Wahrnehmung nichts anderes übrigblieb, als still zu halten – nebeneinander, aufeinander verwiesen. Auch da war alles kontaminiert. Alle waren dabei. Alle Institutionen, Unternehmen, Kirchen, Militär, Polizei, Justiz, kulturelles Leben, Landwirtschaft – alle sind hineinverwoben gewesen in den faschistischen Staat und seine Verbrechen. Keine Familie war unbelastet, kein Lebenslauf ohne Flecken und Kompromisse. Der totalitäre Staat war total. 

„Nicht gewusst, nichts gewusst“ war auch nach Kriegsende der erste Versuch. Eine Lebenslüge, ein verzweifelter Versuch sich rauszunehmen, sich selbst noch ins Gesicht schauen zu können. Verschweigen, vergessen, verdrängen… Verdrängung ist ein oft notweniger Überlebensmechanismus – aber bei Tätern, bei einem Tätervolk und auch bei einer Täterkirche aber steigert er die Fallhöhe ins Unermessliche. Gut zwanzig Jahre nach Kriegsende ist die Gesellschaftsordnung implodiert, sind Familien unter der Last der Schuld und des Schweigens zerbrochen, waren scheinbar bewährte Werte obsolet, wurden Erziehungs- und Bildungskonzepte über Bord geworfen worden, wurde die zerstörerische Wirkung der Täter- und der Opfertraumata sichtbar. Unter dem verschleiernden Wort von der „Gnade der späten Geburt“ dauerte es weitere Jahre bis die Aufarbeitung endlich begann und das, was heute Erinnerungskultur heißt, auf den Weg gebracht werden konnte.

Nach Jahrzehnten der Verschleierung, nach zehn Jahren Schockstarre hat die Aufarbeitung in der katholischen Kirche zaghaft begonnen. Ein Missbrauchsgutachten nach dem anderen macht die Spitze des Missbrauchseisberges – das sogenannte Hellfeld – sichtbar. Heute ist die Einsicht nicht länger vermeidbar, dass der ganze Leib Christi durchseucht ist. Wenn Kirche eine Chance haben will, diese lebensgefährliche Krise durchzustehen, könnte es jetzt dran sein, von der bundesrepublikanischen Erinnerungskultur zu lernen. Dabei ist keineswegs meine Absicht, Missbrauchskrise und NS-Gräuel zu vergleichen. Es geht ausschließlich darum, von der mühsam erarbeiteten Erinnerungskultur für die Aufarbeitung zu lernen.

Erinnerungskultur ist zuerst Verantwortung für die Überlebenden. Die Bundesrepublik hat sich diesbezüglich lange nicht mit Ruhm bekleckert. Kirche wird, um ihres eigenen moralischen Anspruches willen, bis an die Grenzen ihrer Möglichkeiten und vielleicht sogar darüber hinaus gehen müssen: öffentliche Rehabilitation der geschmähten Opfer, finanzielle Unterstützung bei Therapie und Lebensbewältigung, Wiedergutmachungszahlungen, vielleicht in einigen Fällen auch lebenslange Renten… Die für alle verpflichtende vorrangige Option für die Armen heißt hier konkret: Den Überlebenden des Missbrauchs kommt auf immer ein besonderer Ehrenplatz in der Mitte der Kirche zu. Sie sind immer zu hören, egal wie schlimm es schmerzt, was sie erzählen. 

Erinnerungskultur heißt für Deutschland die schwierige, spannungsreiche Solidarität mit dem Staat der Überlebenden, mit Israel. Für die Kirche bedeutet es die Akzeptanz und Unterstützung der Betroffenenorganisationen, des investigativen Journalismus, der Warner, Kritiker und Whistleblower. Missbrauchs-Erinnerungskultur hießt aber auch Engagement, Dienstleistung, Akzeptanz derer und Zuwendung zu denen, die Kirche wegen des moralischen Bankrotts der Institution verlassen haben. Die Unterscheidung in Getaufte, die sich der Kirchensteuer unterstellen und Getaufte, die diese verweigern, wird sich nicht mehr rechtfertigen lassen.

Erinnerungskultur meint auch konsequente Strafverfolgung der Täter*innen, auch wenn die Letzten, denen die Justiz noch habhaft werden kann, längst hochbetagt, oft nicht mehr verhandlungs- und auch nicht mehr straffähig sind. Die meisten kirchlichen Missbrauchstäter sind nie rechtskräftig verurteilt worden. Dennoch gibt es in vielen Fällen eine so erdrückende Indizienlage, dass die Vorwürfe nicht anders als plausibel genannt werden können. Missbrauchs-Erinnerungskultur wird Namen nennen müssen – vielfach auch posthum, wird Ehrengräber auflösen, Straßen und Gebäude umbenennen, Biographien umschreiben, Auszeichnungen aberkennen, Verdienste in ein anderes Licht rücken, weiterbestehende Verehrung unterbinden müssen.

Erinnerungskultur bewährt sich in der wehrhaften Demokratie, in dem hartnäckigen und dauerhaften Engagement gegen faschistische Ideen, gegen Führerkult, gegen Antisemitismus und Rassismus, gegen nationalsozialistische Gruppierungen, Netzwerke, Symbole, Schriften… Ihre Entsprechung findet das in Präventionsarbeit, institutionellen Schutzkonzepten, regelmäßiger Schulung und Sensibilisierung, indem die Räume für tatgeneigte Personen enger gemacht werden, Meldewege eingerichtet, Routinen der Intervention etabliert werden. Wehrhafte Glaubensgemeinschaft Kirche bedeutet aber auch, dem Missbrauch die ideologische Basis in Klerikalismus, charismatischer Überhöhung, dysfunktionalen Theologien und aszetischen Konzepten zu entziehen. Zur Missbrauchs-Erinnerungskultur wird auch eine Hermeneutik des Verdachts gehören müssen, allen Überfiguren des geistlichen und kirchlichen Lebens gegenüber. Personenkult hatte nie einen rechtmäßigen Platz in der Kirche. Seit die charismatischen „Helden“ einer nach dem anderen vom Sockel stürzen, ist dafür endgültig kein Raum mehr.

Erinnerungskultur hat – schon unmittelbar nach dem Zusammenbruch der NS-Regierung – die Institutionen der Bundesrepublik verändert. Gewaltenteilung wurde abgesichert, Presse- und Meinungsfreiheit geschützt, Menschenrechte unwandelbar ins Grundgesetz geschrieben, später wurde die Bundeswehr als Parlamentsarmee eingebunden und der Bürger in Uniform zum Leitbild erhoben. Missbrauch in der Kirche wurde durch unkontrollierte Macht möglich. Missbrauchserinnerung verlangt, die Macht zu begrenzen, Kontrolle, Zeitbegrenzung, Rechenschaftspflichten, Partizipation als Mitbestimmung… einzuführen. Echte Synodalität wird ein Element darin sein.

Erinnerungskultur bleibt lebendig durch Gedenktage, Schulunterricht, öffentliche Dokumentation, Forschungsprojekte, Museen und Gedenkstätten, Riten der Vergewisserung. Die Missbrauchsgeschichte der Kirche braucht ähnliche Riten, braucht Verankerung im Religionsunterreicht, braucht ihren Platz in Chroniken und Erzählungen. Es gibt keine Kirche mehr ohne die Schande des Missbrauchs und der Missbrauchsvertuschung. Und wie die Bundesrepublik nicht umhinkommt ihr jahrzehntelanges Scheitern bei der Aufarbeitung der NS-Zeit zu konstatieren, wird es auch kein kirchliches Selbstverständnis ohne das Eingeständnis, bei der Aufarbeitung jahrelang versagt zu haben, mehr geben können.

Erinnerungskultur ist die einzig mögliche Balance zwischen kollektiver Verantwortung und nicht existierender Kollektivschuld. Erinnerungskultur ermöglicht das Überleben und langsame Genesen einer schwersttraumatisierten Gesellschaft in Deutschland. Missbrauchs-Erinnerungskultur kann eine Chance für die opfer- und tätertraumatisierte Kirche werden. Senfkornklein, aber vielleicht die einzige Chance.

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