Was macht eine katholische Institution aus? Dass aus einer katholischen, heißt allumfassenden und diakonisch auf alle Menschen ausgerichteten Haltung heraus gehandelt wird. In einer religiös diversen Gesellschaft ist spirituelle Sensibilität ist ein wesentliches Element eines katholischen Blicks auf die Welt.
Spirituelle Sensibilität
Text: Peter Hundertmark – Photo: ignartonosbg/pixabay.com
Kirche ist Sakrament und damit Zeichen und Werkzeug der Zuwendung Gottes zu den Menschen und zur ganzen Schöpfung. Was aber ist der Dienst der Kirche für die Menschen, wenn es um Spiritualität geht? Natürlich, Kirche macht spirituelle Angebote, stellt ihre Erfahrungen und Traditionen zur Verfügung, bietet Begleitung für diejenigen an, die für sich einen Weg christlicher Spiritualität gehen wollen… Das ist der Dienst „nach innen“ – und keine Frage, da ist noch eine Menge zu tun. Aber welchen spirituellen Dienst bietet Kirche „nach außen“, in die nach-christentümliche Gesellschaft hinein für Menschen anderer innerer Ausrichtung, für Menschen auf Wegen nicht-christlicher Spiritualität, letztlich allen Suchenden aller Religionen und Weltanschauungen an?
Vielleicht war diese Frage bisher noch keine Frage, weil die Präsenz von Menschen, die legitim und ernsthaft anderen, nicht-christlichen spirituellen Ausrichtungen folgen, erst langsam ins kirchliche Weltbewusstsein eindringt. Die theologische Grundlage für einen wertschätzenden Umgang miteinander über die Religionszugehörigkeiten hinweg hat das 2.Vatikanische Konzil geschaffen und auch dogmatisch verbindlich festgelegt: „Lumen Gentium“ (LG), dogmatische Konstitution über die Kirche, Kap. 16; die Erklärung „Nostra Aetate“ (NA) über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen; und die Erklärung „Dignitatis humanae“ (DH) über die Religionsfreiheit. Die Lehre, dass auch in den nicht-christlichen Religionen und Spiritualitäten der Geist Gottes am Werk ist, sie deshalb Elemente der Wahrheit enthalten, Menschen auf der Suche nach dem letzten Sinn ihres Leben legitim leiten und ihnen sogar ermöglichen, das „ewige Heil zu erlangen“ (LG 16), ist seither in vielen kirchenamtlichen Dokumenten immer wieder bestätigt worden. Vorverurteilende, abwertende Positionierungen gegenüber nicht-christlichen Spiritualitäten sind nicht katholisch.
„Deshalb ermahnt sie [die Kirche] ihre Söhne [und Töchter], dass sie mit Klugheit und Liebe, durch Gespräch und Zusammenarbeit mit den Bekennern anderer Religionen sowie durch ihr Zeugnis des christlichen Glaubens und Lebens jene geistlichen und sittlichen Güter und auch die sozio-kulturellen Werte, die sich bei ihnen finden, anerkennen, wahren und fördern.“ (NA 2) Mit diesem und vielen ähnlichen Sätzen vollzieht das Konzil den Umschwung von einer Haltung, die auf Abgrenzung und Selbsterhalt setzt, zu einer Neugier auf das Fremde und einem diakonischen Auftrag: katholisch-allumfassend für alle Menschen. Auf den Bereich der Spiritualität umgesprochen heißt diese Mahnung, dass Christinnen und Christen verpflichtet sind, die Spiritualität von Menschen, die nicht-christlichen Wegen folgen, kennenzulernen, mit ihnen zu kooperieren, sie zu fördern und zu unterstützen. In einer gewissen Parallelität zum Begriff der Kultursensibilität, kann man hier von der Herausforderung einer „spirituellen Sensibilität“ sprechen, die das Konzil für die Mitglieder der katholischen Kirche anmahnt. Dabei kann es nicht darum gehen, die eigene Prägung, Tradition und Erfahrung zu relativieren oder gar aufzugeben. Im Gegenteil, Lumen Gentium 17 schließt unmittelbar mit der Aufforderung an, den eigenen Glauben zu reflektieren und ansprechend zu verkünden und versteht dies als einen wesentlichen Beitrag für das wertschätzende Gespräch.
Damit geht spirituelle Sensibilität über „spiritual care“, wie sie an vielen Orten im Gesundheitswesen sehr fruchtbar etabliert wurde, hinaus. Gemeinsam ist beiden Ansätzen, dass es darum geht, Spiritualität von Menschen als wesentliche Ressource wahrzunehmen und einzubeziehen. Spirituelle Sensibilität steigt dabei engagiert und neugierig, in der eigenen geistlichen Prägung reflektiert, damit auch inhaltlich gesprächsfähig in den Kontakt ein, eine Herangehensweise, die so niemals zum Verhaltens-Standard etwa für alle Klinikmitarbeiter*innen gemacht werden könnte. Spirituelle Sensibilität ist christlich profilierte Seelsorge für Menschen, die andere Religionen bekennen, anderen spirituellen Ausrichtungen folgen, andere Vorstellungen von gelingendem Leben haben…
Spirituelle Sensibilität ist dabei zuerst die Fähigkeit, andere spirituelle Prägungen und Wege unvoreingenommen ernst zu nehmen. Diese Wege sind Menschen nicht-christlicher Zugehörigkeit heilig und ihre Weise, ein gelingendes Leben und menschliche, auch über den Tod hinausreichende Erfüllung zu finden. Sie sind in sich konsistent, schauen oft auf jahrhundertelange Tradition und Erfahrung zurück, haben Lehr- und Übungssysteme entwickelt, Kulturen geprägt, ethische Systeme stimuliert und Gesellschaften mitgestaltet. In ihren Traditionen und Schriften wird von mystischen, lebensverändernden Erfahrungen, von erweitertem Bewusstsein und „Gipfelerlebnissen“ universaler Einung (peak experiences) berichtet. Spirituelle Sensibilität ist Staunen und Ehrfurcht.
Diese Fähigkeit spiritueller Sensibilität ist jedoch sehr voraussetzungsreich. Sie verlangt zuerst eine sachlich profunde Kenntnis der eigenen Tradition und Prägung, sowie eine sorgfältige und ehrliche Reflexion der eigenen spirituellen Erfahrungen, ihrer Chancen und Grenzen. Fester Halt am eigenen geistlichen Ort erst ermöglicht flexible Reaktion auf ganz andere, vielleicht gegensätzliche, in jedem Fall aber potentiell verunsichernde fremde Erfahrungen und Konzepte. Spirituelle Sensibilität setzt gelebte Spiritualität und deren Reflexion voraus.
Da nicht-christliche Spiritualitäten das eigene Suchen und Erleben zwangsläufig in Frage stellen, verlangt spirituelle Sensibilität zudem eine hohe Diversitätstoleranz: Eine Haltung und Fähigkeit Vielfalt, auch widersprüchliche Vielfalt als Bereicherung und Ansporn zu erleben, spirituelle Vielfalt – christlich gesprochen – als Ausdruck des Wirkens des Geistes Gottes zu verstehen, die Bereitschaft, andere Wege wirklich als mögliche Wege zum Heil zu akzeptieren, und damit die Fähigkeit, ganz dem eigenen Weg zu folgen, ohne ihn abwertend gegen andere Entwürfe profilieren zu müssen, eine Haltung zudem, die sich irritieren lässt und dabei neugierig bleibt. Nicht-christliche spirituelle Wege sind für Christ*innen gottgewollt. Sie sind unverzichtbare Stimmen im umfassenden Menschheitschor, der in einer gewaltigen Symphonie die letzte Wirklichkeit preist und anbetet.
Aber so wenig die eigene, christlich formierte Spiritualität ohne Schattenseiten ist, so wenig sind andere Spiritualitäten einfach nur positiv. Sie sind ebenso ambivalent wie es christliche Spiritualität auch ist. Spirituelle Sensibilität ist deshalb notwendig nicht nur diversitäts-, sondern auch ambiguitätstolerant. Sie akzeptiert, dass auch fremde Spiritualitäten begrenzt und uneindeutig sind, eine Mischung aus förderlichen, menschen- und lebensfreundlichen Traditionen einerseits und einengenden, gewaltförmigen, missbrauchsermöglichenden Elementen andererseits. Spirituelle Sensibilität ist keine naive Begeisterung für das Fremde, das all die Probleme christlicher Verortung angeblich nicht kennt. Sie ist realistisch, aber sie erträgt die eigene, wie die fremde Begrenztheit und lässt sich davon nicht vor der grundlegenden Wertschätzung abbringen: Jede menschliche Spiritualität hat auch dunkle Seiten und problematischen Nebenwirkungen – und ist doch ein möglicher Weg zum Heil. Jede menschliche Entwicklung und noch mehr jede Systematisierung menschlicher Reifung und ganzheitlichen Wachsens ist ambivalent, hat immer mehrere Seiten und lässt ganz verschiedene Perspektiven zu, bleibt Spannungen ausgesetzt, bewegt sich in Grenzen und klammert ganze Erfahrungs- und Lebensbereiche aus. Weder das Eigene besser, noch das Fremde. Spiritualitäten transportieren unterschiedliche Gefahren, Herausforderungen und Verheißungen – jede auf ihre Weise.
Wegen dieser unvermeidlichen und allen spirituellen Wegen eigenen Ambiguität kann es keine christliche Spiritualität ohne Unterscheidung „nach innen“ geben. Was daran ist menschenfreundlich, führt zu Mündigkeit, zu Verantwortung für andere Menschen und die Erde, setzt frei und stärkt das Selbst? Wo aber sind auch Gefahren, mögliche Manipulationen, Missbrauch, Enge, Unfreiheit und Fremdbestimmung? Wo kommt christliche Spiritualität möglicherweise in Konflikt mit menschlicher Würde, mit Grundrechten und Selbstbestimmung? Welche inneren Impulse nützen den Suchenden wirklich – und sind deshalb christlich mit einem Wirken des Geistes Gottes in Verbindung zu bringen, und welche führen eher in Entwicklungssackgassen, ist bedenkliche Selbstoptimierung zu Lasten anderer etc.? Unterscheidung – im christlichen Kontext: Unterscheidung der Geister – ist schon für die eigene Tradition herausfordernd. In der Begegnung mit dem Fremden jedoch ist Unterscheidung heikel, weil die Zusammenhänge und Wirkungen nur sehr anfanghaft überblickt werden können, und doch unerlässlich. Spirituelle Ausrichtungen beispielsweise, die zur Abwertung und zum Ausschluss von Frauen veranlassen, ob christlich oder nicht-christlich kodiert, sind immer inakzeptabel. Spiritualitätsformen, die den geistlichen Kampf in den bewaffneten Kampf überführen, sind in jeder Tradition hoch problematisch. So muss und darf spirituelle Sensibilität die gleichen Unterscheidungsfragen, denen sie sich für die eigene Tradition aussetzt, auch an andere Traditionen stellen. Nur so ist es möglich, anzuerkennen, zu wahren und zu fördern, ohne naiv zu sein oder sich gar vor den Karren machtmissbräuchlicher spiritueller Praktiken spannen zu lassen.
Die Unterscheidung jedoch ist nach innen wie nach außen immer äußerst sensibel anzugehen. Es geht nicht um ein Urteilen. Es gibt keinen neutralen Standpunkt und keine allgemeinen Bewertungskriterien, die kultur- und religionsunabhängig wären. Die Frage kann nur sein, ob ich aus meiner Einschätzung heraus bereit sein kann, das mir Fremde zu fördern oder ob ich mich mehr verpflichtet sehe, argumentativ Widerstand zu leisten und damit vielleicht einen Beitrag zur Unterscheidung und Reifung in der fremden Tradition beizusteuern. Spirituell sensible Unterscheidung braucht das lange, sorgfältige Hören und das vertiefte Gespräch, die kluge Unterscheidung und dann konsequente Positionierung, die dennoch kein Urteilen und schon gar kein Aburteilen werden darf.
Damit ist auch schon eine weitere Voraussetzung benannt. Spirituelle Sensibilität erfordert authentische Kenntnisse. Diese können nur durch das Gespräch – vermittelt über Schriften oder unmittelbar mündlich – erworben werden. Fördern, wie Gegenhalten, brauchen Sachkenntnis und wenn es um Spiritualität geht, eben auch Kenntnis der Erfahrungsdimensionen, die sich den Suchenden und Übenden anderer spiritueller Wege erschließen können. Über diese Sachkenntnis verfügen nur die authentisch Lehrenden und die Übenden selbst. Kein Sachbuch kann ihre Erfahrungsberichte ersetzen. Sachbücher können aber wohl die Erfahrungsberichte sinnvoll ergänzen und helfen, sie in einen größeren Kontext einzuordnen. Da niemand die unzähligen geistigen Traditionen der Menschheit überblicken kann, ist der erste und entscheidende Schritt dabei, wirklich von meinem Gegenüber lernen zu wollen, dann auch mich von dem Gehörten selbst in Frage stellen zu lassen. Beides sind Grundvollzüge spiritueller Sensibilität.
Das oben angeführte Zitat aus Lumen Gentium benennt noch eine weitere „Zutat“ spiritueller Sensibilität: Es braucht eine Liebe zu den Menschen, eine Liebe zu den Fremden, eine Liebe zu dem, was ihnen heilig ist, ein liebendes Verstehen- und Lernenwollen, eine Liebe zum Dialog und zur gegenseitigen Bereicherung, eine Liebe auch zum Experiment und zum Risiko, bis in die Grundfesten meiner religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen in Frage gestellt zu werden. Spirituell sensible Menschen riskieren sich selbst, ihre innere Orientierung und Selbst- und Gottesgewissheit für die Würde und das Leben derer, die ihnen zuerst so fremd sind.
Christliche Spiritualität wird gefördert durch Unterweisung einerseits und Begleitung andererseits. Christ*innen können selbstverständlich nur in seltenen Ausnahmefällen Unterweisung in nicht-christlichen spirituellen Wegen leisten. Hier gehört es zur spirituellen Sensibilität, bei Bedarf geeignete Lehrer*innen des inneren Lebens der jeweiligen Tradition zu vermitteln, Lehrer*innen, die hier erreichbar sind und die sich dem Wertekanon der freiheitlich demokratischen Grundordnung verpflichtet sehen. Dazu braucht es neben Erfahrungswissen aber auch Stellen, die Informationen sammeln und aktuell halten. Für die unüberschaubare Vielfalt spiritueller Wege kann keine Einzelperson alleine eine solche Vermittlerarbeit leisten.
In Europa ist es noch wenig Praxis, aber amerikanische Fachverbände wie „Spiritual Directors International“ investieren und experimentieren seit Jahrzehnten mit konfessions- und religionsübergreifender geistlicher Begleitung. Solche Begleitung erfordert ebenfalls wieder Spezialkenntnisse und trainierte Kompetenzen, die nicht einfach bei jeder*m vorauszusetzen sind. Wieder kann es, jenseits wertschätzender Anfangsgespräche, nur um eine Vermittlerrolle gehen. Diese auf Nachfrage aber aktiv wahrzunehmen, gehört jedoch ebenfalls zur spirituellen Sensibilität.
In Lumen Gentium 16 ermahnt die Kirche alle ihre Söhne und Töchter, Menschen anderer Religion wertschätzend und fördernd zu begegnen. Das ist sicher das Fernziel. Etwas näher, wenn auch immer noch eine große Herausforderung, wäre es, alle Mitarbeiter*innen der Kirche in Pastoral, Beratung, Unterricht, Erziehung, Caritas… für spirituelle Sensibilität zu schulen. Könnte sich jede*r Muslim*a, jede*r Buddhist*in, jede*r, der auf esoterischen Wegen nach Hilfe und Orientierung für das Leben sucht, darauf verlassen, bei kirchlichen Mitarbeiter*innen auf spirituell sensible Menschen zu stoßen, die ihn/sie in ihrer spirituellen Praxis zu fördern suchen, wäre dies ein großer Beitrag für Integration, Migrationsbewältigung und gesellschaftliches Zusammenleben. Spirituelle Sensibilität wäre dann eine wesentliche Konkretisierung des „Katholischen“ – gemäß dem Wort an Petrus: „…stärke deine Geschwister“. (Lk 22,32)