Mit seinem „Prinzip und Fundament“ fasst Ignatius von Loyola die Anliegen seiner geistlichen Übungen und seine Theologie zusammen: Leben, Identität, Freiheit, ganz Mensch werden und Mensch für andere sein. Ein revolutionärer Text – nicht nur für das 16. Jahrhundert
Fundament
Text: Peter Hundertmark – Photo:PIRO4D/pixabay.com
Exerzitienbuch 23: Prinzip und Fundament. Der Mensch ist geschaffen, Gott, unseren Herrn, zu loben, ihm Verehrung zu erweisen und ihm zu dienen, und mittels dessen seine Seele zu retten; und die anderen Dinge auf der Erde sind für den Menschen geschaffen und dazu, dass sie ihm helfen, bei der Verfolgung des Ziels, zu dem er geschaffen ist.
Ein Satz wie aus dem Katechismus. Tatsächlich hat Petrus Canisius diesen Satz aus dem Exerzitienbuch des Ignatius genommen, um damit den ersten, und seither stilbildenden katholischen Katechismus zu eröffnen. Ein Satz aber auch, der es in sich hat. Ignatius stellt ihn seinen Exerzitien voran und bezeichnet ihn als Fundament, als die Basis aller weiteren geistlichen Übungen und Gebete, als Grundlage des ganzen (geistlichen) Lebens.
Aus der Praxis der Exerzitien weiß jede/r Begleiter/in, wie entscheidend es ist, dass der/die Übende ein Fundament im Glauben in sich findet, bevor er/sie weiter geht. Zuerst muss er/sie die Erfahrung machen, dass es Gott gibt, dass Gott gut ist, dass Gott sich ihm/ihr wohlwollend zuwendet, dass diese Zuwendung Leben und Freiheit ermöglicht, dass diese Zuwendung nicht erkauft werden muss und sich Gott von dieser wohlwollenden Zuwendung auch durch Fehlverhalten des Menschen nicht abbringen lässt. Diese erfahrene Gewissheit ist etwas ganz Großes und Kostbares. Viele Menschen müssen lange kämpfen, beten und üben, um diese Sicherheit in sich zu finden. Dieser existentielle Grund und Halt im biblischen Gott ist jedoch nicht alles, was Ignatius in seinem Text als Fundament bezeichnet.
Sehr großzügig und in umfassender Auslegung kann dieser existentielle Glaubensgrund als im ersten Halbsatz mitgedacht angenommen werden: Der Mensch ist geschaffen. Tatsächlich schwingt darin die ganze „conditio humana“ mit: als vergängliches Wesen geschaffen und zugleich Bild Gottes; durch den Geist-Atem lebendig und auf Gott hin begabt; auf Gott verwiesen und doch auf diese Erde und ihre Möglichkeiten festgelegt; als begrenzter Mensch unbegrenzt von Gott gewollt und geliebt.
In der Logik des Textes aber drückt dieser erste Halbsatz noch etwas anderes aus: Der Mensch ist von Gott her, aber er ist Teil der Welt, er ist Körper, er ist auf konkrete Lebensbedingungen festgelegt. Es geht um den Menschen in seiner Realität, nicht um irgendein Ideal. Die Lebensbedingungen – Zeitumstände, Ort, Herkunftsfamilie, Biographie, Beziehungen, Bildung, Verfügung über materielle Mittel, Freiheit oder Unfreiheit, Fähigkeiten und Begrenzungen, eingegangene Bindungen und Verantwortung – all diese Konkretheiten des alltäglichen Lebens sind Teil des geistlichen Lebens und Ausgangspunkt der Gottsuche. Sie geben dem Leben mit Gott die reale Basis, aber setzen auch die Grenzen. Gott aber weiß, dass die Menschen begrenzt sind und ihre Lebensbedingungen nur wenig überschreiten können. Er weiß um die Begrenztheit und Realität jedes Menschen – und er ist damit zufrieden. Mit dieser und in dieser Realität kann der Mensch sich nach Gott ausstrecken, ihn suchen und finden. Jeder Mensch kann es, nicht nur irgendwelche verklärten Idealgestalten. Jeder Mensch kann es, ob er religiöse Vokabeln dafür benutzt oder nicht.
Im Weiteren verknüpft der erste Satz einen Final- und einen Konsekutivsatz. Das eine – Gott loben… – ist anzustreben, um das andere – die Seele retten – zu erreichen. Es ist das die besondere Intuition und Erfahrung des Ignatius, die sich jedoch mit der Erfahrung vieler Mystiker/innen und geistlichen Lehrer/innen aller Weltreligionen deckt: Der Mensch kann sein Glück nur finden, indem er es nicht direkt anstrebt, sondern von sich weg schaut auf den Größeren. Der säkulare „pursuit of happiness“ bringt den Menschen leicht dazu, das Maximum aus dem Leben, der Welt und sich selbst herausquetschen zu wollen – eine Einstellung, die in erbarmungsloser Logik unfrei und getrieben macht.
Anzustreben ist also: Gott zu loben, ihm Verehrung zu erweisen und ihm zu dienen. Die einschlägig ausgewiesenen Historiker/innen sind sich relativ sicher, dass Ignatius statt „loben“ das Wort „lieben“ schreiben wollte. Er war daran jedoch gehindert, da die Inquisition ihn latent immer individualistischer Frömmigkeit und einer Nähe zu der spanischen Bewegung der Alumbrados und der deutschen Reformation verdächtigte. Setzt man das Wort „lieben“ ein, verschwindet auch die scheinbare Doppelung mit dem „Verehrung erweisen“. Es geht also darum, in eine personale, von gegenseitigem Wohlwollen geprägte Beziehung mit Gott einzutreten und daraus das Leben zu gestalten.
Sodann Gott durch das ganze eigene Leben zu ehren – gemäß dem Satz des Irenäus von Lyon: Die Ehre Gottes ist der lebendige Mensch. Gott zu ehren, umfasst auch Gebet, Gottesdienst und Zeugnis für den Glauben, geht aber viel weiter. Hier klingt wieder der erste Halbsatz an: mit meiner ganzen Wirklichkeit als Geschöpf auf den Schöpfer hinweisen und ihm die Ehre geben, der das Leben gegeben hat. Erst wenn die reale Lebensgestalt Gott ehrt, der alle Menschen und die ganze Natur geschaffen hat, will, erhält und liebt, macht eine Verehrung durch Worte wirklich Sinn. Friede, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung schwingen in diesem Wort von der Ehre Gottes also ebenso mit, wie die Achtsamkeit und Sorge für das eigene Leben.
Gott zu dienen, weckt im modernen Menschen eher ein Stirnrunzeln. Wird der Mensch damit nicht von sich selbst und der Erde weg gelenkt hin auf eine „himmlische“ Anderswelt? Ignatius jedoch gibt an anderer Stelle im Exerzitienbuch den entscheidenden Hinweis. Gott gibt sich selbst von Ewigkeit her und für immer eine heilsgeschichtliche Aufgabe und Sendung: die Rettung des Menschengeschlechtes. Modern ist hier zu ergänzen: und der nicht-menschlichen Welt. Rettung, Erlösung, Befreiung, Friede, Gerechtigkeit, Humanisierung, Gemeinschaft mit Gott, den Menschen und der Schöpfung zu stiften, ist das Anliegen und die Dauerbeschäftigung Gottes. Gott lebt immer in dieser Bewegung. Ihm zu dienen, heißt dann, sich dieser Bewegung und Sendung Gottes anzuschließen. Der Mensch, der Gott dient, setzt sich konkret und praktisch für Gottes Ziele ein. In der Kraft des Geistes Gottes liebt er/sie die Menschen und die Schöpfung, sorgt sich um sie und für sie, engagiert sich, kämpft, setzt all seine/ihre Fähigkeiten, sein/ihr ganzes Wissen und Können ein. Und vielleicht, hoffentlich, findet er/sie dafür auch Worte, um sein/ihr Tun auch öffentlich in Gottesdienst und Zeugnis mit Gottes Sendung zu verbinden. Dann ist sein/ihr Leben sakramental: Wort und Zeichen für das Heilshandeln Gottes.
Mit dieser Ausrichtung verbindet Ignatius dann eine Konsequenz: Wer so handelt, wird seine/ihre Seele retten. Dieser Halbsatz ist auf den ersten Blick äußerst problematisch. Sollte er bedeuten, nur wer so handelt, wird gerettet, wäre es ein klarer Widerspruch zur christlichen Erlösungslehre. Das Heil kann sich niemand erarbeiten und es kennt auch keine Bedingungen. Gott stellt für die Erlösung keine Leistungsforderungen an den Menschen. Rechtfertigung aus Glaube allein, der reformatorische Grundsatz, ist geteilte Überzeugung aller Konfessionen. Des Weiteren fragt der moderne Mensch fast reflexartig, wieso nur die Seele, nicht aber der Körper gerettet werden soll. Auf die Spitze getrieben, wäre auch das ein klarer Widerspruch zur Erlösungslehre, die eine Auferweckung des Fleisches bekennt.
Ignatius arbeitet an dieser Stelle wahrscheinlich jedoch mit der geistesgeschichtlich weniger bekannten, auf Aristoteles zurückgehenden Definition für die Seele. Die Seele wird verstanden als Form des Körpers – „anima forma corporis“. Die Seele ist das Prinzip, das dem menschlichen Leben in seiner ganzen Körperlichkeit Gestalt gibt. Die Seele ist die Identität des Menschen mit sich über die Zeit und alle Veränderungen hinweg. Setzt man also „Identität“ oder „Gestalt“ für „Seele“ in diesen Halbsatz ein, so entsteht ein durchaus modern akzeptabler Sinn. Wer also Gott liebt, ehrt und ihm dient, wie oben erläutert, der findet dadurch seine/ihre Identität und (Lebens-)Gestalt. Nun macht auch das Wort „retten“ Sinn. Denn eine Identität kann auch – und ist in der Regel – gebrochen, eine Gestalt armselig, das Leben eng, unfrei und sinnlos sein. Die Verheißung aber ist, dass der Mensch durch seine Ausrichtung auf Gott seinen Schöpfer, letztlich eine ganze, gelingende, heile Identität und Gestalt gewinnt. Das beginnt natürlich innerweltlich, reift und wächst im Idealfall durch die konkrete Gestaltung des Lebens heran, kennt unvermeidlich immer auch Rückschläge, Seitenwege, Brüche, Scheitern, strebt aber einer umfassenden Prägung und Vollendung zu. An späterer Stelle im Exerzitienbuch präzisiert Ignatius diese Verheißung, indem er sie an den Weg und das Lebensschicksal Jesu bindet. Damit ist klar, dass es sich nicht um ein Konzept der Selbstoptimierung handelt. Das Leben wird durch das Scheitern hindurch gewonnen – besser: von Gott (wieder-)gegeben.
Diese Verheißung gilt es zu bewahren, wenn jetzt die Formulierung des Ignatius noch von einer anderen Seite her problematisiert wird. „Seelen retten“, „den Seelen helfen“ war die Vision, die Verheißung und der Auftrag, die Ignatius nach seiner Bekehrung für sich und sein Leben entdeckte und die er in der Folge seinem Orden ins Stammbuch schrieb. Gelingendes Leben, heile Gestalt und Identität wird sich für andere Menschen jedoch anders buchstabieren. Jeder Mensch steht im Auftrag, aber nicht über jedem Menschen ist „Seele(n) retten“ ausgerufen. Über jedes menschliche Leben ist von Gott eine eigene, individuelle Verheißung, ein Auftrag, eine Vision gelegt. Diese Verheißung liegt zwar nicht unbedingt an der Oberfläche des Bewusstseins, ist aber durch Gebet, Meditation der Heiligen Schrift und geistliches Üben auffindbar und verstehbar. Sie zu erspüren, ist jedem Menschen aufgegeben. Oft stellt sich schon sehr zu Beginn des geistlichen Weges eine klare Intuition ein, was und wie es für mich heißt. Durch die weiteren Übungen wird diese Vision dann präzisiert und konkretisiert.
Diese Vision und Verheißung ist es, die Ignatius im Weiteren als das „Ziel, zu dem hin er geschaffen ist“ bezeichnet: Meine Weise einer gelingenden Gestalt und Identität des Lebens – in personaler Beziehung zu Gott, ihm zur Ehre und mit in seiner Sendung für die Rettung der Welt. Es handelt sich also nicht um erreichbare, innerweltliche Ziele, für die ich die Dinge der Welt einsetzen soll – Familie, Gesundheit, Sicherheit, Anerkennung… oder was immer für mich Priorität hat. Vielmehr ist das Ziel ein Leben, mit dem ich „sub specie aeternitatis“, vor dem Angesicht Gottes in Frieden sein kann. Und noch mehr: diese Verheißung eines Lebens, mit dem ich in Frieden sein kann, ist das Kriterium für die Prioritäten meines Lebens. Familie, Gesundheit, Sicherheit, Anerkennung… gerne, aber ausgerichtet auf meine Verheißung gelingender Gestalt. Oder vielleicht auch nicht Familie, Gesundheit, Sicherheit und Anerkennung, wenn mein Weg zu dieser gelingenden Gestalt anders ist.
„Alle anderen Dinge auf der Erde sind auf den Menschen hin geschaffen“ wiederum ist kein Widerspruch zu Immanuel Kants zweihundert Jahre später formulierter Einsicht, dass jeder Mensch ein Ziel in sich ist und nie ein Mittel sein darf. Jeder Mensch und seine/ihre Verheißung eines gelingenden, heilen Lebens, mit dem er/sie in Frieden sein kann, ist Ziel in sich und niemals Mittel für einen anderen, eine Ideologie oder eine Allgemeinheit. Ignatius geht es vielmehr darum, dass jeder Mensch alles, was zu seinem innerweltlichen, körperlichen, sozialen Leben gehört, auf diese Verheißung ausrichten kann und soll. Er/sie kann alle Mittel einsetzen. Alle Mittel sind in sich erst einmal neutral und gleichwertig. Es kommt auf ihre Funktion auf das Ziel hin an.
In der Zeit des Ignatius ist das eine Revolution, denn es bedeutet, dass der Mensch nicht nur die sogenannten „geistlichen“ Mittel – Sakramente, Askese, gottgeweihtes Leben… – für sein Ziel vor und mit Gott einsetzen kann und soll, sondern alle „Dinge“, alle geschaffenen Wirklichkeiten: materielle, personale und geistliche. So kann für den einen die Ehe ein Weg zu dieser Verheißung gelingenden Lebens sein und für den anderen der Zölibat, für den einen ein weltlicher Beruf, für den anderen ein geistlicher Stand… Durch die Ausrichtung auf die Liebe zu Gott, die Ehre und den Dienst Gottes ist aber Sorge getragen, dass die Nutzung der „Dinge“ nie ausbeuterisch, egoistisch, welt- und körperfeindlich geschehen wird.
Der Mensch ist nicht für die „Dinge“, die innerweltlichen Ziele, geschaffen, sondern die „Dinge“ sind für den Menschen und die Verheißung über seinem/ihrem Leben da. Gesellschaftliche oder herkunftsfamiliäre Erwartungen und Normierungen kann und soll er/sie kritisch prüfen. Nicht alles, was „normal“ ist, dient ihm/ihr zu einem gelingenden Leben. Ich muss nicht alles haben, erleben, machen, was alle machen, was alle erstrebenswert finden. Diese Ordnung ist die Ordnung des Evangeliums. Sie setzt den Menschen in umfassende Freiheit und Verantwortung. Er/sie muss nichts erreichen, nichts leisten – vor den Augen der Welt nicht und für Gott schon gar nicht. Aber er/sie darf alles erreichen und leisten: zur größeren Ehre Gottes.