Die Auseinandersetzung mit den Schrecken geistlichen Missbrauchs steht noch ganz am Anfang. Betroffene haben ein Anrecht darauf im Fachdienst Geistliche Begleitung ein für sie sicheres, informiertes und helfendes Umfeld zu finden. Erfahrene Begleiter/innen haben deshalb ergänzende Gesprächs- und Verhaltensregeln formuliert.

Geistliche Begleitung an der Seite von Menschen, die spirituellen Missbrauch erleben mussten

Text: Peter Hundertmark – Photo: 422694/pixabay.com

Neben vielen anderen Themen werden Geistliche Begleiter/innen immer wieder auch mit Erfahrungen von Missbrauch konfrontiert, die ihre Gesprächspartner/innen erleben mussten. Missbrauch kann dabei ganz unterschiedliche Formen angenommen haben, ist aber immer Machtmissbrauch gegen den sich der/die Betroffene nicht zur Wehr setzen konnte. Er wird verschlimmert, wenn niemand dem Opfer zu Hilfe kommt bzw. Hilfe verweigert wird, weil der/die Täter/in in einer „unangreifbaren“ (eventuell spirituell schein-legitimierten) Position zu sein scheint.

Wenn Geistliche Begleiter/innen mit Menschen im Gespräch sind, die Missbrauch erleben mussten, gelten einige Regeln und Vorsichten, die sich von dem „normalen“ Gesprächsverhalten in der Geistlichen Begleitung unterscheiden. Sie setzen natürlich all die Fähigkeiten und Haltungen voraus, die üblicherweise von einem/r Geistlichen Begleiter/in erwartet werden dürfen: Aktives Zuhören, Diskretion, grundsätzliches Wohlwollen, Offenheit für das unableitbare Wirken Gottes, Förderung von Autonomie und Mündigkeit, Parteilichkeit für den/die Gesprächspartner/in und ihr/sein Erleben…

Die folgenden Hinweise beziehen sich zuerst auf Erfahrungen spirituellen Missbrauchs, lassen sich aber teilweise auf andere Formen des Missbrauchs übertragen. Zu beachten ist, dass ein Missbrauch, der wahrscheinlich objektiv stattgefunden hat, oft noch lange Zeit vom Betroffenen nicht als solcher qualifiziert wird. Das Begleiterverhalten ist also sorgsam der Situation – vor oder nach der Selbsteinschätzung des/der Gesprächspartner/in als Betroffene/r eines missbräuchlichen Verhaltens – anzupassen. Der Selbsteinschätzung darf in keiner Weise vorgegriffen werden. Entscheidend für die Geistliche Begleitung sind immer der Mensch und sein Erleben und nicht irgendwelche scheinbar objektiven Gegebenheiten.

Wenn also die Möglichkeit im Raum steht, dass der/die Gesprächspartner/in (spirituelle) Missbrauchserfahrungen machen musste, gelten die gleichen Regeln wie für den Umgang mit Traumatisierungen: Geistliche Begleiter/innen decken nie aktiv auf oder fordern die Aufdeckung ein. Sie halten einen Raum positiver Annahme offen, nehmen „ehrfürchtig“ entgegen, was ihnen anvertraut wird, gehen aber nicht von sich aus weiter. Geistliche Begleiter/innen stimulieren kein Nacherleben des Geschehenen, empfehlen nicht, Details auszubreiten, lassen von sich aus viele Begebenheiten im Schemenhaften. Sie arbeiten ausschließlich mit den Regungen und Bewegungen, die jetzt angesichts des Erlebten da sind. Weiter führt nur der/die Betroffene, wenn er/sie will und wann es für ihn/sie dran ist.

Menschen, die Missbrauch erleben mussten, sind Opfer. Allgemein sind sie als Betroffene zu verstehen, aber in der Relation zu dem/der Täter/in sind sie Opfer. Sie sind deshalb immer, unbedingt und ohne Ausnahme als Opfer zu hören. Sie sind lange, mitfühlend und in einer eindeutig für die Opfer parteiischen Weise anzuhören. Eigene Anteile am missbräuchlichen Geschehen müssen vielleicht irgendwann aufgearbeitet werden, aber erst nachdem das ganze Opfersein ernstgenommen und der/die Täter benannt sind. Geistliche Begleiter/innen verhalten sich hier grundsätzlich anders als in normalen Entwicklungsbegleitungen, wo die Frage nach der eigenen Verantwortung und Gestaltungsmacht im Vordergrund sehr rasch stehen kann.

Wenn (spirituelle) Missbrauchserfahrungen angesprochen werden, distanzieren sich Geistliche Begleiter/innen eindeutig und klar ausgesprochen von den Tätern(-institutionen) – auch wenn sie selbst diesen Personen bisher Wertschätzung entgegen gebracht haben, mit ihnen durch gemeinsame Geschichte oder Werte verbunden sind, diese Personen Bedeutung für den eigenen Status haben. Geistliche Begleiter/innen verteidigen keine Täter/innen, relativieren die Taten nicht, widerstehen allen Versuchen, Unrecht unsichtbar zu machen. Sie lassen sich nicht von missbrauchskaschierenden „Schweigegeboten“ beeindrucken oder in ihrem Verhalten beeinflussen.

Geistliche Begleiter/innen rechnen damit, dass die Betroffenen von Missbrauch lange und immer wieder erzählen müssen, was ihnen geschehen ist. Sie investieren sehr viel Geduld, rechnen mit jahrelanger Aufarbeitung. Besserung des persönlichen Befindens ist dabei sicher ein Fernziel, aber zuerst stehen Annahme, Würde zurückgeben, Stabilisierung und Unterstützung im Vordergrund.

Geistliche Begleiter/innen bieten, wenn der/die Betroffene innerlich so weit ist und Zustimmung signalisiert, deutliche Worte an, um das Erlebte zu bezeichnen: Unrecht, Übergriff, Gewalt, Macht-Missbrauch, Mobbing, Missbrauch, Vergewaltigung… Sie akzeptieren vorbehaltlos, wenn die Täteridentifikation des Opfers die Übernahme solcher Begriffe lange unmöglich macht, bleiben aber geduldig bei ihrer Position.

Für die Distanzierung der Betroffenen von den Tätern ist die kritische Auseinandersetzung mit der Tätergruppe absolut grundlegend: Herausfinden, was diese „wirklich“ getan haben, was „wirklich“ hinter bestimmten gruppeninternen Legenden und Erzählungen steckt. Egal wie lange es dauert: Diese Auseinandersetzung ist von elementarer Bedeutung. Das „Herausfindenwollen“ kann für die Betroffenen in einer gewissen Phase eine Art fieberhafte Beschäftigung sein, die dann zum „Erweckungserlebnis“ wird, nämlich zur Distanzierung von der Gruppe oder dem/der einzelnen Täter/in.

Erst nach dem Bruch der Täteridentifikation und einem umfassenden Verstehen, was geschehen ist, und wie es dazu kam, kann der Aufbau einer neuen, eigenen, lebensfördernden Spiritualität wirklich beginnen. Frühestens nach diesem „Erweckungserlebnis“ kann deshalb eine Begleitung beginnen, die den gewohnten Regeln folgt und dem Aufbau und der Stärkung eines selbstbestimmten geistlichen Lebens dient. Zuvor ist größte Vorsicht geboten. Auch sonst sehr bewährte geistliche Übungsformen, Gebete, Schriftlesungen, Rituale… können in diesem Fall genau das Gegenteil bewirken, für das der/die Geistliche Begleiter/in sie eigentlich einsetzen möchte.

Geistliche Begleiter/innen widersprechen falschen, missbräuchlichen und entfremdenden Normalitätsbehauptungen religiöser Sondergruppen oder einzelner Täter über das geistliche und/oder geweihte Leben, über christliche Traditionen und Inhalte, über Erfordernisse der kirchlichen Disziplin. Sie verlassen dafür in für den/die Gesprächspartner/in transparenter Weise die strikte Begleiterrolle. Um das tun zu können, machen sie sich kundig und argumentieren dann ausschließlich sachbezogen. Sie machen sich dabei selbst mit ihren theologischen Positionen und ihrer Einschätzung der Vorgänge für den/die Gesprächspartner/in sicht- und greifbar. Sie halten eine kompromisslose Gegenposition gegen die missbräuchlichen, schein-spirituellen Botschaften konsequent aufrecht.

Geistliche Begleiter/innen rechnen damit, dass es in Kontexten geistlichen Missbrauchs auch zu Beichtmissbrauch, Freiheitsberaubung, finanzieller Ausbeutung, körperlicher und sexualisierter Gewalt gekommen sein kann. Sie sind dafür offen, solche Erzählungen zu hören, fragen jedoch nicht aktiv nach, um den/die Gesprächspartner/in vor möglichen Re-Traumatisierungen zu schützen. Sie machen sich kundig, welche Maßnahmen in solchen Fällen zu ergreifen sind und arbeiten eng mit den Bischöflich Beauftragten ihrer Diözese für Prävention und gegen Missbrauch zusammen. Sie beachten dabei die besonderen, über staatliches Recht hinausgehenden Regelungen, wenn kirchliche Mitarbeiter/innen als mögliche Täter/innen genannt werden.

Anders als normalerweise in entwicklungsorientierten Begleitungen versuchen die Begleiter/innen die/den Gesprächspartner/in zu motivieren, viele verschiedene Personen und helfende Gesprächsangebote einzubeziehen. Durch die Vielfalt der Stimmen wird einer erneuten Bindung an eine/n einzige/n Begleiter/in und einer möglichen Überhöhung des/der Begleiter/in entgegen gewirkt. Zugleich wird die Herausforderung für den/die Betroffene/n offen gehalten, sich eine eigene Meinung bilden zu dürfen, selbst und aus dem eigenen Empfinden heraus, Entscheidungen zu treffen. Sich eine eigene Meinung bilden zu können, zu dürfen und zu müssen, ist eine ganz entscheidende Hilfe. Geistliche Begleiter/innen stehen nie über längere Zeit als einzige Gesprächspartner/in für eine/n Betroffene/n spirituellen Missbrauchs zur Verfügung. Sie leisten damit aktiv Widerstand gegen die Versuchungen eines um ihre Person erweiterten Schweigegebotes.

Zu beachten ist jedoch, dass gerade Personen und Sonder-Gruppen, die ebenfalls mit spirituell missbräuchlichen Vorgehensweisen operieren, gern die Betreuung von Betroffenen übernehmen. Die Betroffenen sind für diese (gewohnten) Muster noch längere Zeit anfällig. Es ist deshalb sehr sorgfältig zu prüfen, wer die möglichen Gesprächspartner/innen sind, die im Umfeld des/der Betroffenen auftauchen! Im Zweifelsfall machen sich die Geistlichen Begleiter/innen zuvor über die Bischöflich Beauftragten für die kirchlichen Bewegungen und/oder den/die kirchlichen Sektenbeauftragten kundig.

Im Kontext von Erfahrungen spirituellen Missbrauchs kontrollieren Geistliche Begleiter/innen das eigene Reden noch sorgsamer auf Formulierungen, die gegen die eigentliche Absicht als Kontrolle, Festlegungen, verbindliche Fremddeutungen… verstanden werden könnten. Wenn ein Missverständnis eingetreten zu sein scheint, bemühen sich Geistliche Begleiter/innen umgehend und unter Zurückstellen anderer Themen, das Missverständnis aufzuklären und die Deute- und Entscheidungsmacht eindeutig an den/die Gesprächspartner/in zurück zu geben.

Geistliche Begleiter/innen verweisen auf möglichst konkrete und klar personalisierte Möglichkeiten, wie die Betroffenen ihre eigenen theologischen und kirchendisziplinarischen Kenntnisse erweitern, spirituell-religiös urteilsfähiger werden, geistlich in einer menschenfreundlichen Weise „genährt“ werden können – und sich so mehr und mehr aus eigener Kraft und mittels eigenem Wissen von den Tätern und ihren Deutungen distanzieren können.

Wenn der/die Gesprächspartner/in eine hinreichende innere Stabilität wieder gefunden hat, unterstützen Geistliche Begleiter/innen ihn/sie darin, Klage zu erheben, Geschehenes öffentlich zu machen, auf Wiedergutmachung zu drängen. Sie arbeiten damit aktiv gegen die „Schweigegebote“ und die angebliche Arkandisziplin der Missbrauchenden. Alles kann und darf und soll öffentlich werden, auch wenn es Kirche im Ganzen, unbeteiligte benachbarte Institutionen, Personen ähnlichen Standes in Mitleidenschaft und eine „kollektive Haftung“ zu zwingen scheint.

Geistliche Begleiter/innen helfen in dieser Phase der Begleitung von spirituellen Missbrauchserfahrungen ein professionelles Netzwerk (Sozialarbeiter/innen, Jurist/innen, Seelsorger/innen, Therapeut/innen…) aufzubauen, das den/die Betroffene/n unterstützt. Dazu gehören im speziellen Fall des geistlichen Missbrauchs unbedingt auch Kirchenrechtler/innen – gegebenenfalls mit einer Spezialisierung in Vereins-, Ordensrecht und kirchlichem Prozessrecht. Sie akzeptieren jedoch, wenn der/die Betroffenen diese Schritte (jetzt noch) nicht gehen will, nur partiell gehen kann oder auf Anonymisierungen besteht.

Ist die Gefahr spirituellen Missbrauchs für weitere Betroffene im Verzug, sprechen Geistliche Begleiter/innen das mit ihren Gesprächspartner/innen an, bemühen sich, deren Einverständnis für ein Einschreiten – eventuell unabhängig von der Person des/der Erst-Betroffenen – zu erreichen. Sie wenden sich dann an die zuständigen kirchlichen Stellen (Fachaufsicht Geistliche Begleitung, Bischöflich Beauftragte für Prävention und gegen Missbrauch, Bischöflich Beauftragte für kirchliche Bewegungen, kirchliche Dienstaufsicht für das pastorale Personal, Kirchliches Rechtsamt…). Wird ihnen anvertraut, dass es in der Folge des spirituellen Missbrauchs auch zu möglicherweise strafbaren Handlungen kommt, ist auch die Polizei einzubeziehen. Grundsätzlich gilt jedoch, dass Geistliche Begleiter/innen auch im Fall von Gefahr in Verzug nie aus dem spontanen Affekt heraus tätig werden. Sie agieren niemals alleine oder ohne Absprache.

Geistliche Begleiter/innen beziehen in angemessener Weise – und transparent gegenüber den Betroffenen – die kirchlichen Missbrauchsbeauftragten, Fachleute für geistlichen Missbrauch und (nicht belastete) kirchliche Autoritäten und Zuständigkeiten ein. Sie lassen sich fachlich und juristisch beraten – eventuell unter „Quellenschutz“ für die Betroffenen. Dies ist umso notwendiger, wenn Gefahr für weitere Betroffene nicht ausgeschlossen werden kann, das Opfer selbst aber einem Aktivwerden nicht zustimmt.

Geistliche Begleiter/innen klären darüber auf oder lassen darüber aufklären, dass Betroffene, die in für sie (subjektiv) unausweichlichen Situationen gezwungen wurden, auch zu Tätern zu werden, dafür weder moralisch, noch juristisch belangt werden.

Da Erfahrungen (spirituellen) Missbrauchs auch für diejenigen, denen sie anvertraut werden, sehr belastend sind, sollten Geistliche Begleiter/innen nach jedem Gespräch mit dem/der Betroffenen – und ihm/ihr gegenüber transparent – die Möglichkeiten der Praxisbegleitung/Supervision nutzen. Dabei ist der/die Betroffene sehr sorgfältig zu anonymisieren und die Diskretion so hoch als möglich abzusichern. Spiritueller Missbrauch ist häufig auch mit Diskretionsbruch verbunden gewesen. Deshalb ist diese Sicherung unbedingt mit maximalem Aufwand zu betreiben. Aber die Begleiter/innen lassen sich zugleich nicht auf eine Begleitung ein, die subtil wieder in den Raum eines potentiell missbräuchlichen Schweigegebotes eingehegt wird, indem Beratungsmöglichkeiten für den/die Begleiter/in durch den/die Betroffene unterbunden werden.

Die Begleiter/innen halten von sich aus ohne Ausnahme die Rahmenbedingungen Geistlicher Begleitung ein: maximal monatlicher Gesprächsrhythmus, maximal einstündige Gespräche, ausschließlich im üblichen Gesprächsraum, die Verantwortung für das eigene Leben liegt immer nur bei dem/der Gesprächspartner/in. Jegliche Abweichung kann bei Menschen, die (geistlich) nicht für sich selbst sorgen durften oder konnten, (verinnerlichte) missbräuchliche Strukturen und Erwartungen wieder wachrufen oder verstärken. Ausnahmen, die von den betroffenen Gesprächspartner/innen gewünscht werden oder unbedingt notwendig zu sein scheinen, werden zuvor mit der diözesanen Fachstelle für Geistliche Begleitung angesprochen.

Bei aller Ernsthaftigkeit und Gründlichkeit der Auseinandersetzung mit dem geistlichen Missbrauch zugunsten des/der Betroffenenen, vergessen Geistliche Begleiter/innen nie, dass jeder Mensch immer mehr ist als seine (schrecklichen) Erfahrungen. Die aktuellen Erfahrungen des/der Gesprächspartner/in in der ganzen Breite des Lebens haben selbstverständlich immer auch Platz in der Geistlichen Begleitung. Geistliche Begleiter/innen laden sogar immer wieder aktiv dazu ein, auch andere Erfahrungen und Lebensbereiche anzusprechen, um so einer erneut beschädigenden Einengung der Selbstwahrnehmung auf den erfahrenen Missbrauch entgegen zu wirken.

 

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