Kirche kennt eine Glaubenserfahrung, die als Gegengift gegen Angst, Problemtrance und ausweglose Notwendigkeit eingesetzt werden kann: Es gibt eine Zukunft Gottes. Indem sie aus der Zukunft lebt, findet Kirche Hilfe für ihre Krise und wird zum Lebenslernort für die Menschen.

Zukunft

Text: Peter Hundertmark – Photo: ashokorg0/pixabay.com

Franzosen haben es leichter. Sie verfügen über zwei Worte für die Zukunft. Das eine Wort bezeichnet die grammatikalische Form und auch den nächsten Schritt, der jetzt zu unternehmen ist, das absehbare, planbare Ergebnis, das unmittelbar vor uns Liegende. Das andere Wort wird verwendet, um das Unverfügbare und Überraschende zu bezeichnen, das von hinter dem Horizont des Jetzt auf uns zu kommt: Zu-Kunft.

Dieses Zu-Kommen ist keine Fortsetzung der Gegenwart. Es ist etwas Neues. Wir können es nicht planen, herstellen oder einhegen, oft auch nicht vorhersehen. Es kommt zu uns, auf uns, über uns. Es lockt uns nach vorne, es verheißt, es fordert. Natürlich müssen wir planen, erarbeiten, weiterführen und so Zukunft gestalten. Aber mit dem Zu-Kommenden tritt noch eine weitere Qualität in unser Leben.

Alttestamentlich erzählt der Abraham-Zyklus fast holzschnittartig von diesen beiden Weisen der Zukunft. Abraham und Sara sind von Gott Nachkommen verheißen. Nun aber sind sie alt und immer noch kinderlos. Die Verheißung wird an der Biologie scheitern. Sie greifen zu einem Trick. Abraham wird mit der Saras Magd Hagar ein Kind zeugen, das sie dann als ihres begreifen wollen: antike Leihmutterschaft. Der Versuch, so eine Zukunft zu sichern, scheitert dramatisch und mündet in eine menschliche Katastrophe. Hagar und Ismael, der Sohn Hagars und Abrahams, werden verstoßen und kommen beinahe in der Wüste ums Leben. Abraham und Sara bleiben kinderlos zurück und werden immer älter. Dann kommt bei den Eichen von Mamre die Zukunft auf sie zu: drei Männer, die den beiden Betagten binnen Jahresfrist einen Sohn ankündigen. Und Sara lacht – ungläubig, freudig, peinlich berührt, hoffnungsfroh, überrascht, amüsiert? – der Text lässt es offen.

So eindeutig ist es in der Regel in unserer Welt nicht. Das Überraschende ist keineswegs immer das Bessere, gar das Gottgewollte. Planen zu können, ist eine der großen Fähigkeiten, die der Mensch von seinem Schöpfer bekommen hat. Ohne sorgfältiges Planen und Gestalten würde gleich morgen die Lebensmittelversorgung zusammenbrechen, um nur ein Beispiel zu nennen. Aber manchmal führt es auch dazu, dass einer, dass Gott lacht. Zu viele Pläne sind schon gescheitert, um einfach noch an eine menschengemachte bessere Zukunft und beständigen Fortschritt glauben zu können: Fünf-Jahres-Pläne ebenso wie ausgetüftelte Business-Pläne, militärische Pläne und Entwicklungspläne, Berufspläne und Familienplanung…

Theologisch hat das Zu-Kommende eine große Tradition im Christentum. Viele neutestamentliche Texte sprechen davon: die Saatgleichnisse, die Reden über das Weltende, die Gleichnisse, vom wiederkommenden Hausherrn oder Weinbergsbesitzer. Sogar eine liturgische Zeit trägt den Namen des Zu-Kommenden: Advent. Die ersten Christinnen und Christen erwarteten die baldige Wiederkehr Christi und das dann einsetzende Ende der Zeit – ein wenig bang, aber doch überwiegend hoffnungsvoll. Dann würde alles gut. Das Reich Gottes – Friede, Gerechtigkeit, Versöhnung, Gemeinschaft – wäre da. Je schlimmer die Zeiten, desto deutlicher drängte sich in der Geschichte die Hoffnung auf das Ende der Welt und die Wiederkunft Christi nach vorne. Seit einigen Jahrzehnten ist der Advent, nicht von den liturgischen Texten, aber vom Lebensgefühl her, doch mehr das Warten auf Weihnachten denn auf die Wiederkunft, die die Welt vom Kopf auf die Füße stellt. Ein deutliches Zeichen, dass es uns hier in Europa gut geht.

„Maranatha“ beten die ersten Christen: Unser Herr, komm! Im Advent betet die Kirche dieses Wort als Kommunion-Vers. Eine christlich-kontemplative Schule unserer Zeit hat „maranatha“ als ihr Meditationsmantra gewählt. Und immer schwingt es zwischen verschiedenen Dimensionen: bezeichnet die Gegenwart in der Eucharistie, richtet den Betenden aus auf Gottes unverfügbare Zuwendung, horcht auf das Zu-Kommende hinter dem Jetzt. Die Zukunft Gottes ist nicht immer zeitlich später als das Heute. Das Zu-Kommende kommt jetzt an. Es drängt heran, ist schon da und doch jedem Zugriff und jeder Planung entzogen. Gott eröffnet eine Zukunft und diese schmiegt sich rund um das Jetzt herum: eine Dimension der Tiefe und existentieller Sinnerfahrung, eine Gegenwart des Heils von jenseits unserer naturgesetzlichen Welt, eine Hoffnung auf lebenswertes Leben in Würde, Frieden und Gerechtigkeit. Weil wir Zukunft haben, können wir das Jetzt in freier Verantwortung gestalten.

Umso überraschender auf den ersten Blick, dass Zukunft für Kirche in ihrer Verkündigung, mehr noch in ihrem pastoralen Handeln und ihrer strukturellen Gestalt erst seit wenigen Jahren als Wort vorkommt. Selbstverständlich gab es immer ein „Später“, für das Sorge getragen werden musste: durch Weitergabe des Glaubens, durch Aggiornamento, durch Ausbildung von Mitarbeitern und Sicherung finanzieller Ressourcen. Tradition ist das Stichwort: aus der Vergangenheit und dem historischen Auftrag das Jetzt und das Später gestalten. Aber Zukunft? Dass etwas von Gott her Zu-Kommendes, Neues, Überraschendes die wichtigste Ressource und Chance von Kirche ist, wird erst bewusst – vielleicht eine Spätfolge der geschlossenen europäischen Christenheit, die zu Hause alle Ziele erreicht zu haben schien. Vielleicht ist die Zukunft aber auch im Widerstand gegen den naiven modernen Fortschrittsglauben und die zusammenphantasierte umfassende Machbarkeit verloren gegangen.

Durch ihre Tradition, durch diese große theologische Tradition der Zukunft Gottes, durch die lange spirituelle Erfahrung, dass das unverfügbar Zu-Kommende Heil ist, durch die Hoffnung, die immer auch wider alle Hoffnung (Röm 4,18) lebendig gehalten wurde, kann Kirche zum Ort werden, der von Zukunft spricht,  vibriert, überströmt. Kirche kann der Ort sein, an dem die Menschen lernen, auf das Zu-Kommende zu horchen, ihr notwendiges Planen und Gestalten durch die Achtsamkeit auf das Überraschende zu ergänzen, Hoffnung in ihr Lebenskonzept einzubauen – und so der Angst und dem Schicksal und der Entfremdung etwas entgegen zu setzen.

Will man dem Zu-Kommenden bei sich Heimat geben, braucht es eigenartig andere Haltungen und Fähigkeiten:
„Wachsam sein!“ durchzieht als Verheißung und Mahnung das Neue Testament. Modern würden wir vielleicht eher von Achtsamkeit sprechen, verlieren dabei aber leicht die dramatische Gestalt, die das Zu-Kommende auch haben kann, aus dem Blick.
Prophetisch denken, beten, leben tritt deshalb hinzu. An vielen Stellen spricht das Neue Testament ganz selbstverständlich von den christlichen Prophetinnen und Propheten: Menschen die auf das Zu-Kommen Gottes horchen und davon künden.
Jeder Schließung und jedem Fatum widerstehen: „Für Gott aber ist alles möglich“ verheißt Jesus (Mt 19,26) und knüpft damit an eine selbstverständliche Überzeugung des Alten Testamentes an. Die Christinnen und Christen haben darauf mit einer Haltung der Offenheit, mit Vertrauen und Hoffnung zu antworten versucht.
Das Unverfügbare wertschätzen. Surprise me, Lord! – Gott, überrasche mich! Gott mehr zuzutrauen, als man sich ausmalen kann, ist eine Grundmelodie, die die Spiritualitätsgeschichte durchzieht.
Und vor allem Freiheit suchen, verteidigen und bewahren. Ignatius von Loyola spricht von der Freiheit des Geistes: der Fähigkeit, die eigenen Pläne sofort komplett umzubauen, wenn etwas anderes von Gott oder der Welt her heilsverheißend zu-kommt.

Eine starke Erzählung vom Zu-Kommenden findet sich im 16. Kapitel der Apostelgeschichte: Paulus und Timotheus sind in Kleinasien, der heutigen Türkei unterwegs. Sie planen, in den Synagogen zu predigen und Gemeinden für Christus zu gründen. „Weil ihnen aber vom Heiligen Geist verwehrt wurde, das Wort in der Provinz Asien zu verkünden, reisten sie durch Phrygien und das galatische Land. Sie zogen an Mysien entlang und versuchten, Bithynien zu erreichen; doch auch das erlaubte ihnen der Geist Jesu nicht. So durchwanderten sie Mysien und kamen nach Troas hinab. Dort hatte Paulus in der Nacht eine Vision. Ein Mazedonier stand da und bat ihn: Komm herüber nach Mazedonien, und hilf uns! Auf diese Vision hin wollten wir sofort nach Mazedonien abfahren; denn wir waren überzeugt, dass uns Gott dazu berufen hatte, dort das Evangelium zu verkünden.“ (Apg 16, 6-10) Was immer genau sie mit „der Geist Jesu erlaubte es ihnen nicht“ beschreiben, so ist diese Haltung, sich ganz konkret vom Geist Gottes führen zu lassen, doch entscheidend für jedes geistliches Leben: Achten, horchen, erspüren, dann unterscheiden, wieder nach innen horchen, die Schriften befragen, wieder sorgsam unterscheiden, dann sich führen lassen und entsprechend handeln. Die Tradition nennt das alles zusammen: Beten.

Die Erzählung in der Apostelgeschichte zeigt auch eindrucksvoll, dass mit dem Zu-Kommenden Gottes zu rechnen, ist etwas völlig anderes ist, als die Hände sinken zu lassen, die Füße still zu halten und treuherzig auf eine besondere Intervention Gottes zu warten. Immerhin sind Paulus und Timotheus fast 1000 Kilometer in nordwestlicher Richtung zu Fuß unterwegs, um dann nach Europa überzusetzen. Betrachtet man die Reise auf einer historischen Landkarte könnte man im Nachhinein auch von einem zielstrebigen, geplanten Weg sprechen. Das Erleben der Beiden war wohl anders. Mit dem Zu-Kommenden rechnen, heißt nicht Abwarten, ist nicht Faulheit oder Unentschiedenheit. Ist vielmehr hochgespanntes Horchen auf die senfkorngroßen Hinweise „verschwebenden Schweigens“ (1 Kön 19,12 in der Übersetzung Martin Bubers), mit denen der Geist Gottes die Glaubenden führt und die Geschichte weiterentwickelt. Planen, gestalten, erarbeiten einerseits und mit dem Zu-Kommenden Gottes zu rechnen und sich vom Geist Gottes führen zu lassen, sind keine Gegensätze: Sie kreuzen sich in der „Freiheit des Geistes“.

In einer Zu-Kunfts-Kirche umfasst das Beten beides: Planen und Horchen, und aus dem Horchen planen. Kirche hat alles in ihrer Theologie und Tradition zur Verfügung, um ihre eigenen Abläufe, Planungen und Sicherungen vom Zu-Kommen Gottes her zu gestalten. Weil sie Hoffnung und Zu-Kunft als tragende Elemente betend-planend in ihren eigenen Bau integriert, weil sie gegen alle Selbstzufriedenheit derer, die das Schicksal auf die Sonnenseite gestellt hat, auf das Reich Gottes der Gerechtigkeit für alle hinlebt, ist sie notwendig politisch und politisch notwendig. Sie wird so zum Zeichen des Widerspruchs gegen jedes „Ende der Geschichte“ (Francis Fukuyama), mit dem der liberale Kapitalismus mit seiner ihm notwendigen Spreizung von Armut und Reichtum und seiner Natur und Menschen ausbeutenden Wachstumsideologie zur letzten und heilvollsten Entwicklungsstufe der Menschheit erklärt werden soll.

Weil Kirche aus dem Zu-Kommen Gottes lebt, ist die „Freiheit des Geistes“ eine wesentliche Grundhaltung jeglichen christlichen Lebens, ein Geistesgabe und ein hohes Gut, das niemand sich nehmen lassen sollte. Es ist eine Haltung, die immer wieder betend eingeübt werden kann und muss. Betend auf die Zu-Kunft horchen und in Freiheit des Geistes zu leben, sind wie zwei Seiten einer Medaille. Gemeinsam helfen sie durch die Fährnisse des Lebens zu navigieren, sie halten offen für das überraschende Handeln Gottes, lehren vertrauen, bewahren die Hoffnung, widersprechen jeglichem interessegeleiteten Schicksal, erhalten beweglich, richten den Blick auf das Zu-Kommende, heilen die Angst. Die „Freiheit des Geistes“ ermöglicht es, je neu zu schauen, zu unterscheiden und zu entscheiden. Sie ist damit für alle Menschen und so auch für die Kirche die entscheidende Fähigkeit, um in komplexen, unüberschaubaren Situationen handlungsfähig zu bleiben. Und weil gerade Umbruchs- und Übergangszeiten komplex sind, und die Folgen einer Handlung nicht absehbar, ist die „Freiheit des Geistes“ auch das Charisma, das Kirche und die Menschen in ihr und um sie herum gerade besonders brauchen: In allem Planen und Handeln auch mit dem Zu-Kommenden Gottes rechnen. Gott überrascht mit Zukunft.

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