Als Abraham einen Widder opfert, statt seines Sohnes, vollzieht er einen geistlichen Epochensprung. Er führt den Zweifel und die Unterscheidung in die Gottesbeziehung ein und schafft damit die Grundlage jedes jüdischen und christlichen Glaubens. Dieser Epochensprung ist Erbe und Auftrag.
Die Bindung Isaaks
Text: Peter Hundertmark – Photo: LoggaWiggler/pixabay.com
„Gott sprach: Nimm deinen Sohn… und bring ihn mir als Brandopfer dar.“ (Gen 22,2) Anders als Abraham, an den dieser Befehl gerichtet ist, revoltiert das moderne Bewusstsein sofort. Das darf nicht sein! Gott, unser Gott, will Menschenopfer? Kaum ein Text in der Bibel ist für heutige Menschen sperriger als die Bindung Isaaks. Leider hilft es auch nichts, gegen alle geistliche Tradition und in latentem Antijudaismus das Vorkommnis dem „dunklen“, gewalttätigen Gottesbild des Alten Testamentes zuzuschieben, denn dann kommt die gleiche Frage mit der Passion Jesu wie ein Bumerang mit noch zerstörerischer Kraft zurück. Will Gott also Menschenopfer? Die Geschichte des Volkes Israel, wie die Geschichte der Kirche ist voll von Opfern, nicht selten „um Gottes willen“, auch wenn niemand mehr frontal mit „Ja“ auf die Frage geantwortet hätte. Nein zu sagen, scheint nicht zu genügen.
Der Text in Gen 22 selbst lässt fast alle Fragen offen. Er interessiert sich nicht für die psychologischen Fragen: was mit Abraham war, wie er den Befehl aufgefasst hat, wie Isaak das Geschehen erlebte… Die Geschichte läuft mit brutaler Selbstverständlichkeit. Abraham hört den Befehl, bereitet alles vor, macht sich mit Issak auf den Weg, fesselt ihn, hebt das Messer… Und unterbricht. An dieser Stelle schiebt eine spätere Bearbeitung des Textes eine Engelsbotschaft ein. Dass es ein späterer Einschub ist, erklärt sich allein schon durch den Engel, eine Vorstellung, die erst durch den Kontakt mit den Persern in die religiöse Vorstellungswelt der Israeliten integriert wurde. Da war der erste Text aber schon ein paar Jahrhunderte alt. Lässt man also die Intervention des Engels aus, so geht der Text ganz lapidar weiter: Abraham sieht den Widder und opfert ihn statt des Sohnes. Und es wird ihm dabei etwas klar über Gott, denn er nennt den Ort: Gott sieht. Dann tritt wieder der Engel auf und belobigt Abraham dafür, dass er das Opfer seines Sohnes vollzogen hätte, wäre nicht Gott dazwischen gegangen. Damit wird der Sinn der ursprünglichen Geschichte pervertiert. In der ursprünglichen Geschichte gibt es keine Erscheinung, keine göttliche Intervention. Abraham entscheidet alleine. Er widersetzt sich dem, was er als Stimme Gottes gehört hat.
Von diesem Verlauf der Geschichte erschließt sich auch die ausweichende Antwort an Isaak auf dem Weg. Abraham geht offensichtlich schon auf dem Weg mit sich zu Rate, wie er handeln soll. „Gott wird sich das Opfertier aussuchen“. Folgt man dem Text, so hat Gott sich schon sein Opfer ausgesucht. Aber Abraham hat offensichtlich Zweifel: Zweifel an der Stimme Gottes. Zweifel an Gottes Befehl. Dieser Befehl läuft der ganzen bisherigen Geschichte und Erfahrung Abrahams mit Gott entgegen. Bisher war die Stimme Gottes oft herausfordernd – „verlass deine Heimat“ – aber immer mit der Verheißung verbunden. Isaak ist die Mensch gewordene Verheißung. Er ist das Kind im hohen Alter, die besondere Gnadengabe Gottes. Und nun nimmt die Stimme Gottes alles zurück und befiehlt, die Verheißung zu zerstören. Und Abraham hat Zweifel.
Abraham hat Zweifel. Zweifel, obwohl er bisher immer gut gefahren ist, wenn er sich auf die Abenteuer einließ, zu denen die Stimme Gottes ihn rief. Mehr als einmal hat er wider alle Vernunft dieser Stimme geglaubt und es war zum Guten für ihn. Ist es also eine Probe, wie der Text in seiner heutigen Fassung nahelegt? Gott will wissen, ob Abraham ihm wirklich in absolutem Gehorsam folgt? Abraham aber hat Zweifel. Kann die Stimme Gottes nicht die Stimme Gottes sein? Kann das, was er mit völliger innerer Sicherheit „gehört“ hat, in die Irre führen? Und Abraham entscheidet: Diese Stimme Gottes ist nicht die Stimme Gottes. Gott, der ihm Glück und Leben und Nachkommen verheißen hat, kann nicht zugleich ein Todesgott sein. Abraham entscheidet: Gott ist eindeutig. Gott ist gut. Also ist dieser Befehl, Isaak zu töten, nicht Gottes Stimme. Abraham entscheidet gegen die Überzeugungen seiner religiösen Umwelt, die solche Stimmen Gottes für durchaus möglich hielt. Er entscheidet gegen seine erste innere Gewissheit. Er entscheidet gegen „Gott“ für Gott – und wird so zum Vater des Glaubens.
Abraham unterscheidet aus seiner geistlichen Erfahrung heraus und von den „Früchten“ her, wie Jesus viele Jahrhunderte später empfehlen wird. Das Ende der Verheißung kann nicht Stimme Gottes sein. Mord am eigenen Sohn kann nicht Gottes Wille sein. Es muss etwas geben, das sich wie Gott anhört, aber nicht Gott ist. Ein böser Engel, der sich, um zu täuschen, in einen Engel des Lichts verwandelt, wie Ignatius von Loyola noch einmal viele Jahrhunderte später in seinen Regeln für die Unterscheidung der Geister schreibt. Abraham unterscheidet und entscheidet und so gelingt ihm ein Epochensprung.
Dieser Epochensprung ist der Beginn und die „DNA“ des Glaubens der Juden und der Christen. Gott ist eindeutig, eindeutig gut, aber nicht einfach. Einfach alles für Gottes Stimme zu halten, führt in die Irre. Glaube braucht den Zweifel. Glaube braucht die Rückfrage, das Abwägen, das Unterscheiden und Entscheiden. Kann Gott das wollen? Passt diese Erfahrung, diese Einsicht, diese innere Stimme zu dem, wie Gott sich sonst gezeigt hat, wie ich bisher Erfahrungen mit ihm gemacht habe? Zweifel daran und kritisches Denken machen die Glaubenden seither aus. Der Epochensprung des Abraham auf dem Berg im Land Midian, ist unser großes geistliches Erbe.
Allerdings ist es ein Erbe, das immer wieder erworben, wieder erkämpft werden muss. Wenn Gott sich gegen mich zu wenden scheint, wenn er mir scheinbar das Leben in Gefahr bringt, wenn er mich von meinen Lieben trennt, wenn Tod der Wille Gottes zu sein scheint… dann ist es dran, diesen Epochensprung wieder zu vollziehen. Wieder zu unterscheiden, ob das Gottes Wille sein kann. Wieder „Gott“ von Gott zu unterscheiden. Wieder gegen „Gott“ zu entscheiden. Wider gegen „Gott“ an Gott zu glauben.
Damit begegnen wir einem weiteren Buch des Alten Testaments: Hiob, der Gerechte, der gegen allen Anschein, gegen alle schein-theologischen Überredungskünste seiner Freunde, über Jahre hinweg daran festhält, dass Gott gut und ein Gott des Lebens ist. Hiob, der jeder Versuchung, Gott mit „Gott“ zu vermischen, widersteht. Der der Versuchung, nicht an Gott zu glauben, weil das Schicksal das Gegenteil zu beweisen scheint, widersteht. Der sogar Gott ins Angesicht widersteht – und so an Gott und am Glauben festhält. Hiob, der mit dem Glauben Abrahams glaubt und den Epochensprung durchhält.
Abraham aber nannte den Ort: Gott sieht. Gott sieht seinen Freund, der in seinem Sinne handelt. Gott sieht Abraham, der göttlich handelt. Gott sieht und wie es an anderer Stelle heißt, rechnet es Abraham als Gerechtigkeit an. Gott sieht, dass Abraham glaubt, indem er nicht vollzieht, was die angebliche Stimme „Gottes“ verlangt. Gott sieht den Vater des Glaubens, der zweifelt und unterscheidet und entscheidet: für Gott und gegen „Gott“. Ihn gibt Gott uns zum Vater, zum Vorbild für unseren Glauben.
Wie aller Glaube, bewährt sich aber auch dieser Epochensprung nicht nur im Denken, sondern im Handeln. „Gott“ von Gott zu unterscheiden, sich für Gott zu entscheiden, heißt dem „Gott“, der Tod, Enge, Erstarrung, Unheil… zu bringen scheint, zu widerstehen. Heißt seinen Befehlen nicht Folge zu leisten. Heißt, die Sachzwänge des Todes zu entlarven. Heißt, für das Leben und die Verheißung einzustehen. Heißt Menschenopfer abzulehnen, unter welcher Begründung auch immer sie gefordert werden. Heißt gegen alle Menschenopferungen einzustehen – gegen die Ideologien, die eine Generation für die kommenden opfert, die Soldaten für die Sicherheit opfert, die Menschleben für Profit und Wohlstand opfert, die die Lebensbedingungen kommender Generationen opfert, um jetzt keine Einschränkungen leben zu müssen.
Damit führt uns der Epochensprung des Abraham zu Jesus, der mit seinem Leben widersteht, der lieber selbst stirbt, als Gott und die Menschen dahin zu geben. Da taucht kein Widder mehr auf. Da reduziert sich alles auf Glaube und Widerstand. Jetzt ist die Bindung Isaaks zu ihrem extremen Ende gekommen. Jesus aber ist nicht Isaak, sondern der Widder, das Lamm Gottes. Gott will kein Menschenopfer. Er opfert sein Leben für die Menschen.