Die ökologische Krise wird nicht nur immer bewusster, sie beschleunigt sich auch. Um gegensteuern zu können, ist eine fundamentale Umkehr der Werte notwendig. Die Evangelien erzählt Geschichten eines Genug: Geschichten, die eine ökologische Spiritualität (Papst Franziskus/Ökum. Rat der Kirchen) grundlegen.

Genug!

Text: Peter Hundertmark – Photo: pexels/pixabay.com

Was alle in ausreichendem Maße haben, damit ist kein Geld zu verdienen. Der Mangel ist der Freund der Rendite. Wem es gelingt, etwas Lebensnotwendiges oder für viele Attraktives zu verknappen und dann den Zugang möglichst alleine zu besetzen, der braucht sich um sein Einkommen keine Sorgen mehr zu machen. Aus Mangel bei den vielen, wird Überschuss bei wenigen.

Allerdings greift dabei ein weiterer Mechanismus: Weil das Erstrebtenswerte knapp ist oder knapp zu sein scheint, konkurrieren die Einzelnen zwangsläufig miteinander. Wer das knappe Gut erwirbt, steigert damit gleichzeitig seinen gesellschaftlichen Status. So macht es in einem doppelten Sinn, zu viel des Knappen zu erwerben, denn zum einen lässt sich mit dem, was über die eigenen Bedürfnisse hinaus geht, wieder gut Geld verdienen, zum anderen steigt der eigene Status mit der erworbenen Menge. Die Nebenwirkung, dass der eigene Wert als Mensch damit an die Verfügung über etwas Dingliches gebunden wird, scheint dabei auf den ersten Blick verschmerzbar.

Diese Zusammenhänge sind nicht neu. Reiche wussten sie schon immer für sich zu nutzen. Der Kapitalismus jedoch hat sie zur Grundlage des menschlichen Zusammenlebens gemacht. Er kombiniert die Idee des Mangels mit Konkurrenz und Neid, schafft Status aus Geld und behauptet so das Streben nach Viel und Zuviel als Normalität des Menschen. Kapitalismus als System von Grundannahmen über den Menschen und sein Heil ist ein Andersglaube, der unmittelbar die Grundlagen des christlichen Glaubens angreift.

Das renditeträchtige Spiel aus Mangel und Zuviel ist nun aber mit dem Eintritt in das „Anthropozän“ – in das Erdzeitalter, in dem die Zukunft der Erde primär vom Verhalten des Menschen abhängt – zur entscheidenden, existenzbedrohenden Gefahr für alle geworden. Das Streben einiger nach Zuviel produziert für viele und für kommende Generationen tatsächlich ein Zuwenig. Die Menschen übernutzen die Ressourcen des Planeten – ohne damit wenigstens eine würdevolle Grundversorgung aller Menschen sicher zu stellen. Übernutzung der Ressourcen kein korrigierbarer, technisch zu beherrschender Seiteneffekt, sondern die innere Logik kapitalistischer Wirtschaft.

Wenn die Menschen nicht umkehren, zerstören sie damit die eigenen Lebensgrundlagen. Finanziell ist ein Umsteuern möglich, technisch auch. Politisch ist es schwierig. Der entscheidende Hebel ist die Kultur: das was alle für normal halten, das ganze Set aus Verhaltensregeln, Einstellungen, Hoffnungen. Christinnen und Christen können in diese notwendige Kulturveränderung eine transformative, ökologische Spiritualität einbringen, wie sie unisono Papst Franziskus und der Ökumenische Rat der Kirchen fordern.

Dafür haben Christen die richtigen Geschichten! Jesus setzt lange bevor die kapitalistische Logik zur Normalität erhoben wurde, bereits starke Gegenakzente. Er lebte in einer Gesellschaft, in der durch klimatische Umstände, vor allem aber durch Bürgerkriege und militärische Besatzung Lebensmittel so verknappt waren, dass es regelmäßig zu Hungersnöten kam. Leben unterhalb der Existenzsicherung war für breite Gesellschaftsschichten Realität. Aber auch andere Güter wie Gesundheit, Zugang zu gesellschaftlicher und religiöser Teilhabe, Selbstbestimmung… wurden als massiv knapp erlebt. Jesus behauptet und schafft gegen diese Realität eine Gegenrealität des überreichen Genug.

Als erstes Beispiel mag die Heilung der Aussätzigen gelten. Für deren Reinigung wird im Alten Testament ein kompliziertes Verfahren beschrieben, das mehrere Monate in Anspruch nimmt und den Einsatz erheblicher finanzieller Mittel für Spenden an die Priesterschaft, Opfergaben etc. erfordert. Faktisch war dieser Weg damit so verknappt, dass er nur von sehr wenigen beschritten werden konnte. In dieser Situation nun heilt Jesus nicht nur einen Aussätzigen, sondern gleich zehn Personen. Er tut es sofort und ohne Kosten – und hebelt damit exemplarisch ein ganzes Geschäftsfeld aus. Er gibt nicht nur Genug. Er setzt ein überreiches Genug in Gang. Alle haben daran Anteil – sogar unabhängig von Dank, Glaube oder sonstigen immateriellen „Vergütungen“. Jesus handelt strikt uneigennützig.

Noch unmittelbarer mit dem Thema verknüpft ist jedoch die Brotvermehrung. Die Situation wird zwar literarisch etwas zugespitzt, entspricht aber durchaus der alltäglichen Wahrnehmung der armen Leute: das Brot reicht hinten und vorne nicht, um satt zu werden. Dann macht Jesus nicht nur alle satt, sondern die Evangelien bestehen darauf, dass auch noch Körbe voll mit Resten eingesammelt werden. Die Menschen reagieren darauf nach dem eingeübten Mangel-Rendite-Muster und wollen Jesus zum König machen. Und da setzt Jesus wieder den zweiten Impuls. Wie die Heilung der Aussätzigen ist auch die Bedürfnisbefriedigung der Armen kostenlos. Er wird keinen Vorteil daraus ziehen.

Die genialste Geschäftsidee ist jedoch damals wie heute, wenn man unsichtbare, immaterielle Güter verknappt und kontrolliert. Genau das ist der Hohenpriesterschaft mit dem Tempel in Jerusalem gelungen. Der Tempel wurde als der einzige legitime Ort, an dem die vorgeschriebenen religiösen Riten vollzogen werden können, etabliert. Nur dort „wohnt“ Gott, nur im Tempel ist er in unvergleichlich dichter Weise zu finden. Damit zieht der Tempel alle jüdische Frömmigkeit an sich – und wie zufällig auch alle Spenden und. Jesus stört sich an dieser Vermarktung, wirft symbolisch ein paar Händler raus – und setzt einen Gegenakzent: er bindet die dichteste Gegenwart Gottes an das alleralltäglichste Geschehen von Essen und Trinken. Materiell sind nur ein bisschen Brot und ein Schluck Wein erforderlich. Die betende Erinnerung an Jesus und sein Handeln genügt. Und wieder: Indem Jesus die Eucharistie mit seinem Lebensschicksal verknüpft, führt er jegliche Gewinnperspektive für sich und alle die in seiner Nachfolge agieren ad absurdum.

Ähnlich mit der ebenfalls hochkomplizierten und an wenige Personen und Gelegenheiten gebundenen Sündenvergebung: Nicht nur vergibt Jesus selbst völlig selbstverständlich und ohne Aufwand im Namen Gottes. Er ermächtigt auch seine Schüler/innen in gleicher Weise zu handeln.

Schon die Propheten kannten diese Grundverkündigung, diesen erlösenden Impuls Gottes für die Zukunft der Menschheit: „Kommt und kauft ohne Geld. Warum kauft ihr, was euch nicht satt macht?“ Die Evangelien variieren dieses Grundthema in unzähligen Varianten: in den Glaubenden selbst liegt eine sprudelnde Quelle des Lebens; der Geist weht, wo er will und kann nicht beschränkt werden, das Senfkorn wird zum Weltenbaum, „seht die Lilien und die Vögel“, wer zur letzten Stunde in den Weinberg kommt, bekommt den gleichen Lohn… Immer wieder setzt Jesus dieses sorgenlose „Genug“. Er setzt es nie als Gerade-Genug, sondern immer als überreiches Genug. Er verbindet es mit der Absicht und dem Wesen Gottes, der selbst Liebe im Übermaß ist. Das Genug ist kostenlos und niemand, auch Jesus selbst nicht, kann damit reich oder mächtig werden. So unterbricht Jesus die Mangel-Rendite-Logik.

Damit schafft er die Basis für ein „Genug“ als innere Haltung. Weil es von Gott her ein Genug – überreiches Genug gibt; weil dieses Genug kostenlos ist und keine neuen Gewinner produziert; weil das überreiche Genug für alle ist… kann jeder auch sein „Genug“ finden. Konkurrenz, Neid, Akkumulation, Statusgewinn durch Besitz, jedes Streben nach dem Zuviel machen keinen Sinn.

Vielleicht wird erst heute in der ökologischen Bedrohung der Menschheit im Anthropozän die globale Bedeutung dieses Gegenentwurfs deutlich. Nur wenn die Menschheit aus dem Streben nach dem Zuviel aussteigt, ist ein Genug für alle möglich. Möglich wird das, in dem der Mangel-Glaube durch einen Glauben an die überreiche Zuwendung Gottes für alle ausgehebelt wird. Auf dieser Basis können diejenigen, die genug haben, auch genug fühlen und sich mit genug bescheiden. Aus dieser Überzeugung heraus werden sie aber auch alles daran setzen, genug für alle zu schaffen, die nicht genug haben. Für viele ist das Genug mehr, für einige aber wesentlich weniger als sie heute zur Verfügung haben. Die Fähigkeit zu ökologischer Selbstbescheidung und das Engagement für globale und intergenerationelle Verteilungsgerechtigkeit wurzeln in der gleichen Umwertung der Rendite-Werte: Es gewinnt das „Genug“ und dieses „Genug“ ist kostenlos.

Was Jesus wahrscheinlich gespürt hat, aber noch nicht empirisch belegen konnte, stellt uns die Glücksforschung heute zur Verfügung: Wer ein „genug“ für sich erlebt, ist glücklich, während das Streben nach „mehr“ oft unglücklich macht. Wer dabei das „genug“ auf einem Niveau entdeckt, das niedriger liegt als das „Unbedingt“ das die Rendite-Süchtigen vorgeben, ist noch glücklicher. Wer dabei erlebt, dass alle um ihn herum, ebenfalls genug finden, ist der glücklichste Mensch. „Glückselig seid ihr…“ heißt das im Evangelium. Und das ist wirklich Evangelium: die alles entscheidende gute Nachricht.

Wie aber kommen wir da hin? Die Logik des Kapitalismus hat alle unsere Lebensbereiche und unser ganzes Denken infiltiert. „Metanoiete“ beginnt das Evangelium: Kehrt um, verändert euch, denkt noch einmal neu, spürt über das Gewohnte hinaus, verändert eure Wahrnehmung. Ohne Umkehr wird es nicht gehen. Die überreiche Genug-Erfahrung von der die Evangelien erzählen und die Menschen auf dem geistlichen Weg erleben, bietet die Chance dazu.

Und dann erzählt das Johannes-Evangelium noch eine ganz lapidare Lösung. Ein Kranker lebt seit vielen Jahren in einer Situation maximaler Verknappung. Nur der, der in der Konkurrenz aller Kranken zuerst ins Wasser des Teiches Bethesda steigt wird geheilt. Jesus sagt: Mach es anders! Kehr um! Lass die Fixierung auf das Zuwenig! Nimm deine Liege und geh weg!

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