Der moderne Mensch bringt sich und das gemeinsame Haus Erde durch sein Streben ökologisch in Gefahr. Umkehren aber braucht Umdenken. Umdenken heißt auch, die Glaubensgrundlagen des unbegrenzten Herrschaftsanspruchs des Menschen zu kritisieren. Biblischer Glaube ist religionskritisch und eröffnet ein Mehr.
Die Krone der Schöpfung
Text: Peter Hundertmark – Photo: Roeger/pixabay.com
Es gibt ein paar Glaubenssätze, denen nahezu alle europäisch geprägte Menschen des 21. Jahrhunderts zustimmen, ganz gleich ob und welcher Religion sie angehören. Einer davon kreist um den Menschen selbst: Menschliches Leben ist der höchste Wert. Der Mensch ist die Krone der Schöpfung, oder jedenfalls kommt ihm eine Sonderstellung in der Artenvielfalt der Natur zu. Menschenrechte begründen alles weitere Handeln. Selbst ökologische Fragen werden aus der Perspektive der Gerechtigkeit für Menschen kommender Generationen beurteilt. Der Mensch als Zentrum… ist der Satz, der nicht mehr begründet werden kann, der aber auch nicht begründet werden muss. Wer es gerne christlich mag, kann sich sogar darauf berufen, dass Gott selbst Mensch geworden ist. Damit kommt dem Menschen doch göttliche Würde zu.
Nun ja, also beinahe, so ganz trifft es nicht die eigentliche Intention, würden Theologen wohl sagen. Die Vergöttlichung, ein theologischer Begriff vor allem der nordafrikanischen christlichen Theologen der ersten Hälfte des ersten Jahrtausends, meint eigentlich nicht die Sonderstellung des Menschen in der Natur, sondern sein eschatologisches, endzeitliches Ziel im Leben Gottes selbst. Aber die humanistische Wende europäischen Denkens stört sich an diesem vorsichtig differenzierenden Einwurf wenig.
Das Problem aber ist, dass durch diesen Glauben die europäisch geprägten Menschen die Menschheit im Ganzen und mit ihr die Tiere, Pflanzen und alle Lebewesen auf der Erde in Gefahr gebracht haben. Technische Innovationen haben das Jahrtausende alte Gleichgewicht ausgehebelt, das die Anzahl der Menschen begrenzte. Das war gut so, denn endlich konnten zumindest Europäer/innen und Nordamerikaner/innen realistisch hoffen, ein Leben in Würde zu leben, nicht ständig bedroht durch Krankheit, Katastrophen, Kriege, Hunger… Seit siebzig Jahren explodiert in der Folge die Anzahl der lebenden Menschen, explodiert zugleich die Lebensqualität, explodieren damit aber auch Umweltverbrauch und Umweltschäden. Seit fünfzig Jahren wird sich die Menschheit der Grenzen der Erde und damit der Risiken dieser explosiven Entwicklung bewusst. Aber alle Ideen, wie umgesteuert werden könnte, greifen letztlich den obersten Glaubenssatz an, dass nämlich menschliches Leben über allem steht und allen Menschen ein lebenswertes, vulgo ein nach dem Maßstab der Europäer konsumierendes, Leben, zusteht. Und scheitern daran.
Wer jetzt auch nur die Augenbraue skeptisch hebt, findet sich schnell in einer Ecke mit Th.R. Malthus, faschistischen Sozialdarwinisten, Menschenfeinden, Humanismusatheisten… wieder. Und tatsächlich kann es ja keineswegs darum gehen, sich Krankheiten, Kriege und Hungersnöte zurück zu wünschen. Es lässt sich auch keinem Gerechtigkeitssinn vermitteln, warum Menschen in Malawi weniger Lebensqualität zustehen sollte, als Menschen in Luxemburg. Der Weg geht nicht zurück, vor den Humanismus, vor die technische Innovation, vor Demokratie und Rechtsstaat, auch wenn nicht wenige populistische und rechtslastige Ideologien genau das propagieren. Der Humanismus kann nur nach vorne aufgehoben werden – indem seine Werte und Errungenschaften bewahrt, aber seine lebensgefährlichen Nebenwirkungen neutralisiert werden.
Die abrahamitischen Religionen haben eine lange Tradition kritischen Glaubens. Sie haben als Religionen eine Religionskritik hervorgebracht – eine wichtige Ressource im Umgang mit schädlichen Nebenwirkung (quasi)religiöser Denksysteme. Vor zweieinhalb tausend Jahren etwa fanden jüdische Theologen einen religionskritischen Hebel, der die Abhängigkeit der Menschen von bösen Mächten beendete und einen wichtigen Schub ethischer Autonomie brachte. Aus ihrer Meditation der Schöpfung und ihren historischen Erfahrungen mit dem Handeln Gottes entwickelten sie die Vorstellung, dass Gott allein und allein durch sein Wort die Welt hervorgebracht hat. „Und Gott sah, dass es gut war…“ schließt als Refrain jeden Schöpfungsakt ab. Die Welt ist gut und Werk eines guten Gottes und der Mensch ist damit in der Lage gut zu sein und sein Leben gut zu gestalten. Es liegt in seiner Hand.
Auch die Schöpfung liegt in seiner Hand. „Herrscht…! Wenige Sätze der Bibel haben die Menschen besser verstanden. Der Einwand der Theologen, das Wort bedeute ursprünglich “hegen”, wie man einen Garten hegt und pflegt, kommt gegen den unermesslichen praktischen Vorteil, den der Mensch aus diesem Satz ziehen kann, nicht an.
Der Mensch ist in der Systematik des Schöpfungsberichts das letzte Geschöpf. Himmel und Erde waren vollendet. Da legt sich doch die Idee nahe, dass mit dem Menschen alles vollendet ist: Der Mensch als Krone der Schöpfung. Wie praktisch… und wie gefährlich, wie wir heute wissen. Die kritischen Theologen des Schöpfungsberichts waren jedoch klüger. Sie bauten eine Bremse für den Menschen ein. Die Vollendung der Schöpfung kommt erst mit der Ruhe Gottes. Historisch unterbrachen sie damit das Lebenssicherungs-, Besitz- und Herrschafts-Streben des Menschen jede Woche für einen Tag, den Sabbat, an dem andere Gesetze gelten.
Die Ruhe Gottes erst ist in der Bibel die Krone der Schöpfung. Späteres theologisches Nachdenken identifiziert diese Ruhe mit dem Shalom, mit dem großen, gottgegebenen Frieden der Menschen und der Natur. Der zweite Jesaja-Prophet schafft das großartige Bild vom Tier- und Menschenfrieden auf dem Berg Gottes – und nennt diese Vision das “Reich Gottes”. Jesus greift das auf, wenn er sagt: “Euch soll es zuerst um das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit gehen”. Ziel der Schöpfung, Ziel des menschlichen Strebens ist das Reich Gottes, das Reich des Friedens, die göttliche Ruhe, die als Krone alles vollendet – und vieles relativiert.
Dem Menschen ist damit ein Ziel gegeben, das über ihn hinaus reicht. Er ist kein Zweck, aber er ist auch nicht der Endpunkt. Sinn macht sein Leben, wenn er auf mehr als sein Leben hinlebt. Sein Streben, Herrschen, Unterwerfen dient ihm, solange er wiederum dem Frieden, dem Reich Gottes und seiner Gerechtigkeit, dient. Der Humanismus zitiert nur die Hälfte und bringt damit die Erde in Gefahr. Aber er überfordert auch den einzelnen Menschen, der für die Macht, die er sich angeeignet hat, den Sinn als Preis zahlen musste. Der humanistische Mensch kann alles, aber nichts macht Sinn, denn alles vergeht mit dem eigenen Leben.
Vielleicht ahnten christliche Theologen die Gefahr, als sie im vierten Jahrhundert darum rangen, ob das göttliche Wort in Jesus Mensch oder Fleisch geworden ist. Menschwerdung hat sich als Begriff durchgesetzt, aber theologisch korrekt ist „Inkarnation“, Fleischwerdung. „Fleisch“ meint in der theologischen Sprache dieser Zeit jedoch nicht Muskelfasern, sondern die vergängliche Materialität jedes Menschen und aller Lebewesen. Kritische Theologie pur: Gott wird weltlich, wird vergängliche Materie, wird das, was allem Lebendigen gemeinsam ist – und diese Fleischwerdung wird den Menschen durch den Menschen Jesus von Nazareth bekannt. In ihm ist Gott als Mensch „Fleisch“. Gott hebt damit die Trennung zwischen sich und der Schöpfung auf. Er ist gegenwärtig in allem, was lebt. „Christus ist das Haupt, der Erstgeborene der ganzen Schöpfung…“ singt schon der frühchristliche Hymnus im Kolosserbrief. Und zieht damit einem einseitigen Humanismus bereits eintausendfünfhundert Jahre vor dessen Erscheinen den Boden unter den Füßen weg.
Der Mensch ist vergänglich, ist „Fleisch“, aber so die kritische Theologie, der die Gefahr bewusst ist, die durch entfesseltes menschliches Streben entsteht, lange bevor die ökologischen Konsequenzen sichtbar werden konnten, das ist nicht nur sein Schicksal, sondern seine göttliche Würde. Sinn umgibt den Menschen von seiner Materialität an bis in seine ethische Ausrichtung. Könnte ihn umgeben, wenn er nicht die Entkoppelung und die unbeschnittene Macht wählt. Um ihm die Wahl zwischen Macht und Sinn leichter zu machen, schafft Gott durch Jesus Auferweckung vom Tod und die Christen rücken diese Hoffnung in die Mitte ihres Glaubens. Wenn er sich für seine Einbindung in alles Fleisch, in die Solidarität aller vergänglichen Materie entscheidet, wenn er sein ganzes Streben auf das Reich Gottes, den umfassenden Frieden der Menschen, der Tiere und der ganzen Natur ausrichtet, verliert der Mensch nicht, sondern gewinnt sich über den Tod hinaus.
„Wer sein Leben zu gewinnen trachtet, wird es verlieren.“ „Leben und Tod lege ich Dir vor. Wähle also das Leben!“… Kritische Theologie des Neuen und des Alten Testamentes. Menschliches Leben macht nur Sinn, wenn es über sich hinaus weist – um den Preis, die Macht über alle Ressourcen der Erde im Zaum halten zu müssen. Nicht der Mensch ist die Krone und Vollendung der Schöpfung, sondern die Ruhe Gottes am siebten Schöpfungstag, der Shalom, der große Frieden.
Die Annahme der eigenen, gottgeadelten und zugleich mit allen Lebewesen geteilten Vergänglichkeit im Hoffen auf Auferweckung zum Leben Gottes macht eine grundsätzliche, und darin sinngebende Selbstrelativierung des Menschen möglich. Uns kann es zuerst um das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit, um den großen Frieden gehen, ohne dass wir dadurch etwas verlieren und die Lebensmöglichkeiten der Menschen zurückdrängen müssten. Der große Frieden gibt dem menschlichen Streben Sinn – was unbegrenzte Macht, Selbstverabsolutierung und Entkoppelung von der Solidarität der Lebenden im gemeinsamen Haus Erde nicht geben können. Sinn und Glück. Es ist ein Mehr als Humanismus möglich. Ein Mehr, das die vielleicht die entscheidende Chance für die bedrohte Schöpfung ist.