Vielerorts wollen die Verantwortlichen der Pastoral weg von der Aufgabenorientierung hin zu einer Orientierung an den Begabungen der Menschen, die vor Ort Kirche sind. Im Vertrauen auf den Geist Gottes hoffen sie, dass so eine neue Gestalt von Kirche entsteht.

Begabungen, Talente, Charismen…

Text: Peter Hundertmark – Photo: /pixabay.com

Angestoßen durch das 2. Vatikanische Konzil wächst in vielen katholischen Ortskirchen eine zweite große Wirklichkeit von Kirche, die die hierarchische, strukturelle Gestalt ergänzt und ausbalanciert. In Asien und Afrika spricht man von “Kleinen christlichen Gemeinschaften”, in Lateinamerika von “Basisgemeinden”. Europa hinkt etwas hinterher, adaptiert verschiedene Modelle und entwickelt ausgehend von anglikanischen Modellen die “Fresh Expressions of Church” dazu. Allen diesen Wirklichkeiten von Kirche ist gemeinsam, dass sie nicht geplant und hergestellt werden können. Die Diözesen können Rahmenbedingungen schaffen, aber die konkrete Gestalt der Kirche wächst aus den Menschen, die zusammenkommen, um den Glauben gemeinsam zu leben.

Sie versammeln sich um die Heilige Schrift, entwickeln Gottesdienstformen, engagieren sich in ihrer Nachbarschaft… Aus der Versammlung heraus wachsen auch die notwendigen Regeln und die Leitung. Das hat zur Folge, dass keine zwei Basisgemeinden identisch sind. Die Theologie spricht dann von “emergenten” – herauswachsenden – Formen von Kirche. Diese Emergenz gründet im Wirken des Geistes Gottes und den von ihm gegebenen Begabungen, die in die Gemeinschaft eingebracht werden. Die Pastoraltheologie nennt diesen Zusammenhang “Charismenorientierung”.

Jede sorgfältige und wohlwollende Orientierung an emergenten Prozessen und Begabungen der Glaubenden ist sinnvoll und bringt Kirche einen Schritt weiter in die Zukunft. Das Phänomen der Begabungen kann jedoch theologisch noch präziser gefasst werden. Dann tauchen verschiedene Formen der Begabung auf, die ineinander greifen, auch in den Personen selbst ineinander verwoben sind, die sich aber fruchtbar unterscheiden lassen. So kann die ganze Kraft des Geistes Gottes, der alle die vielfältigen Gaben gibt, in den pastoralen und missionarischen Aufgaben der Kirche noch wirkmächtiger werden.

Alle Begabungen wurzeln in Gottes Zuwendung. Sie lassen sich nicht trennen, wohl aber unterscheiden.

Es gibt Begabungen, die theologisch zur Ordnung der Schöpfung gehören: Talente.  Talente sind etwas, was in uns Menschen angelegt ist, das durch Erziehung verstärkt wird, das wir uns zu eigen machen oder vernachlässigen. Sie sind unabhängig von Glaube. Jeder Mensch hat Talente. Unser Handeln aus unseren Talenten heraus können wir üben, verfeinern, verstärken, kultivieren. Talente sind die Basis für Kompetenzen, die eben genau diesen Aspekt des Lernens und Einübens hinzu geben.

Charismen gehören theologisch zur Erlösungsordnung bzw. zu Evangelium und Nachfolge. Sie sind biblisch definiert als Gnadengaben des Geistes Gottes auf dem Weg der Nachfolge Jesu für das Leben des Gottesvolkes. Charismen werden „auf“ einen Menschen gelegt. Sie sind mit einem mal da und können nicht eingeübt werden. Natürlich setzen die Charismen auf Talenten auf, da Gott Zweitursachen handelt. Das heißt aber nicht, dass die Talente bewusst und praktiziert sein müssen, die durch die Charismenbegabung ins Licht treten.

In ihrer pastoralen Bedeutung sollten Talente und Charismen nie gegeneinander profiliert werden, aber sie unterscheiden sich: Talente ihrer Mitglieder kann Kirche nutzen. Manches, was zum Beispiel Gemeindemitglieder gut können und gerne machen, hat im pastoralen Geschehen Platz, anderes nicht. Selbstverständlich werden kluge Verantwortliche versuchen, die Talente der Mitglieder zu nutzen und zu fördern, denn dann geht jedes Engagement leichter und effizienter.

Charismen hingegen haben ein Eigenrecht in der Kirche, denn sie Gestalten des Glaubens und wurzeln im Handeln des Geistes. Der/die Träger kann ja nicht wirklich etwas dafür oder dagegen. Das heißt, Kirche muss mit den Charismen umgehen. Charismen liegen zu lassen, schadet Kirche unmittelbar. Sie verzichtet dann auf diese spezifische Hilfe des Geistes Gottes. Charismen können nicht nicht eingesetzt werden. Im Extremfall wenden sie sich sonst sogar gegen den Träger.

Die erste Aufgabe der Glaubenden in der Kirche ist das geistliche Unterscheiden. Denn natürlich gibt es auch Irrtum und Täuschung und manchmal wurzelt das, was da als Charisma daher kommt, eben nicht im Geist Gottes, sondern in ganz anderen Kräften. Hinweise auf Charismen sind der längere geistliche Weg, die Ambivalenz der Träger, die sich dem Charisma ausgesetzt finden, die große Demut, die sie umgibt, die klare Orientierung auf das Gottesvolk und seine Aufgaben in der Menschheitsfamilie und für das gemeinsame Haus Erde hin, die eindeutig benennbaren Früchte, der geistliche Trost, den sie geben.

Sichtbar werden Talente meist schon in der Kindheit oder Jugend. Manchmal werden Talente, die bis dahin schlummerten auch erst später wieder aufgegriffen. Aber Talente sind den Menschen meist selbst bekannt und vertraut. Charismen entstehen nicht, aber werden erst auf dem geistlichen Weg der persönlichen Nachfolge und der Jüngerschaft bewusst. Erst jetzt kommen sie so zu Tage, dass sie gelebt werden können und müssen.

Talente liegen offen zu Tage oder direkt unter der Bewusstseinsoberfläche der Talentierten. Ein Fragebogen, ein paar Impulse, das Gefühl, dass Verantwortliche es wirklich wissen wollen, genügt normalerweise, um sie zu aktivieren.

Charismen erfordern oft längere geistliche Reifungswege – ob durch bewusstes Einüben, oder durch achtsamen Vollzug der Geheimnisse des Kirchenjahres oder indem die Herausforderungen und Schicksalsschläge des Lebens aus dem Glauben bewältigt werden, ist dabei zweitrangig. Dann aber überraschen sie nicht selten die Charismenträger/innen. Sie können nicht einfach abgefragt werden, denn sie sind von einer Hülle von Demut, manchmal auch Irritation und sogar von Intimität/Scham umgeben. Charismen kommen ans Licht der Öffentlichkeit, in dem sie von jemand anderem wahrgenommen und benannt werden. Charismen sind dabei vergleichbar mit Sakramenten, die ebenfalls aus einer materiellen Grundlage und einem sie vereindeutigenden und verwandelnden Wort entstehen.

Charismen zu fördern, verlangt deshalb, dass der/die Verantwortliche die Menschen sehr gut kennt, sie immer wieder agieren sieht – und selbst mit der Wirklichkeit der Charismen durch eigene längere geistliche Wege vertraut ist. Charismen wahrnehmen, kann wiederum ein Charisma sein.

Dann aber braucht ein Charisma notwendig eine Sendung im Sinne einer autoritativen Integration in die Sendung der Kirche. Diese Sendung kann von einer Gemeinschaft geben werden oder von einer amtlich beauftragten Person ausgesprochen werden. Ein Sendung mit Bedeutung für die ganze Ortskirche wird durch den Bischof gesetzt. Ein Charisma ohne Sendung droht zu verkümmern, wirkt im schlimmsten Fall spalterisch. Das hat unmittelbare Folgen gerade auch für das Selbstverständnis der Verantwortlichen in der Kirche, Petrus, die Leitungsfigur der Kirche schlechthin, wird nicht umsonst mit den Schlüsseln dargestellt. Eine zentrale Aufgabe der Leitung ist es, (neue) Räume aufzuschließen. Ihre Funktion ist es, den Charismen, die oft weit über sie selbst und ihre amtlichen Aufgaben hinausgehen, einen Platz zu bereiten und sie in das Ganze des handelnden Gottesvolkes einzubinden – ohne sie zu funktionalisieren. Denn Charismen sind einerseits funktional, andererseits widerstehen sie jeder Funktionalisierung, die sie unter fremde Ziele zwingen würde.

Die meisten Charismen sind unspektakulär und schleichen sich völlig selbstverständlich in den pastoralen Alltag hinein. Es ist aber auch mit ungewöhnlichen Charismen zu rechnen. Auch sie haben ein Recht in der Kirche. Bei den ungewöhnlichen Charismen wird leichter sichtbar, was allen Charismen zu eigen ist: sie verändern Kirche; sie haben transformativen Charakter; sie begründen etwas neu.

Der Geist Gottes sorgt zu jeder Zeit für die Kirche, indem er in ihrer Mitte ausreichend Begabungen anreichert. In Zeiten der Krise und der Transformation überschüttet der Geist Gottes die Kirche mit Begabungen – Talenten und Charismen, denn jetzt geht es ja darum, etwas Neues für das Gottesvolk auf den Weg zu bringen.

Eine kluge Pastoral wird also alle Begabungen für die Aufgaben des Gottesvolkes einsetzen: Talente und Charismen. Zwischen ihnen existiert kein Widerspruch und keine Konkurrenz. Daher das Bild der Fischer: zusammen ziehen sie das Netz. Als Jesus zwei solche Fischer sieht, ruft er sie in die Nachfolge und verheißt ihnen “Menschenfischer” zu werden und so an seiner Sendung teilzunehmen. Wie die Fischer zusammenarbeiten, arbeiten die Glaubenden auch heute zusammen und wirken Talente und Charismen zusammen, so wie auch Schöpfungs- und Erlösungsordnung einander bis zum Ende der Zeit wechselseitig durchdringen und zusammen die ganze Wirklichkeit des Gottesvolkes beschreiben.

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