Brigitta Sassin betreut in Frankfurt die Gemeinden nicht-deutscher Muttersprache – und erzählt vom Beten. „Vater unser“ – unzählige Male wiederholt und plötzlich blättern neue Bedeutungsschichten auf, wird existentiell, was gesagt wird. Vater – Vater im Gefängnis – Vater im Himmel…

 

Beten mit einem Flüchtling

Beitrag von Dr. Brigitta Sassin – Photo: FsHH/pixabay.com

Seit einigen Wochen treffe ich regelmäßig  einen jungen Mann, den ich im folgenden Salomon nennen möchte. Er freut sich, wenn ich Zeit habe, mit ihm zu reden. Seit gut 18 Monaten ist er in Deutschland, einer der vielen, die den langen lebensgefährlichen Weg von Eritrea über den Sudan, Libyen, das Mittelmeer und Italien geschafft, überlebt haben. Nun ist sein Asylverfahren abgeschlossen, er darf bleiben! Seitdem lernt er mit noch mehr Eifer die neue, noch etwas ungewohnte, deutsche Sprache. Salomon ist Christ, seine eritreische Gemeinde ist ihm eine wichtige Unterstützung.

Wenn er mit mir redet, dann spricht er deutsch. Es ist, als ob in unseren Unterhaltungen sein Leben in Deutschland ankommt. Ich interessiere mich, frage vorsichtig, er erzählt, so viel wie jetzt für ihn gut ist. Gemeinschaft entsteht, neue Gemeinschaft.

Vor ein paar Wochen hatte ich ihm vorgeschlagen, dass er das „Vater unser“ auf Deutsch lernen könne. Doch ich hatte ihm nicht den Text besorgt, auch der andere Flüchtlingshelfer hatte ihm noch nicht dabei geholfen. Jetzt frage ich wieder vorsichtig nach, ob wir das mal irgendwann machen wollen. Da strahlt er mich an: Ja, das „Vater unser“ hat er gelernt. Alleine. Abends in der Flüchtlingsunterkunft. Mit dem muslimischen Eritreer gegenüber auf dem anderen Bett, mit dem er sich das Zimmer teilt. Stolz spricht er auswendig das Gebet auf Deutsch. Den Text hat er sich selbst besorgt.

Vater unser im Himmel – der Vater von Salomon ist  in Eritrea im Gefängnis, man weiß nicht, wo. Weil der Sohn geflohen ist vom Militär, wurde der Vater gefangen genommen. Vater unser im Himmel.

Was heißt das, wenn wir zusammen dieses Gebet beten? Mein Vater, dein Vater, sein Vater… unser Vater… neue Gemeinschaft. Die Herkunftsfamilie hat Salomon verloren. Die Mutter starb vor vielen Jahren, der Vater ist im Gefängnis, Schwestern und Brüder sind  weiterhin in Eritrea und im Sudan, unerreichbar. Doch hier in Deutschland könnte die Verheißung Jesu wahr werden: Salomon, der seine Familie verloren hat, wird in der Kirche neue Brüder und Schwestern, Mütter und Väter finden. Das ist mein Gebet für ihn und für unsere deutsche Kirche.

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