Mitbürger/innen, Hausgenoss/innen Gottes, Apostel/innen, Tempel des Heiligen Geistes: Vier Verse genügen dem Epheserbrief, um eine Vision zu entwickeln, die die Rechtsordnung der antiken Welt auf den Kopf stellt – Zeichen für die Kraft des Evangeliums auch heute. (Eph 2, 19-22)

 

Die geistiche Würde der Christ/innen

Beitrag von Dr. Peter Hundertmark – Photo:freeimages9/pixabay.com

 

Ihr seid also jetzt nicht mehr Fremde ohne Bürgerrecht, sondern Mitbürger der Heiligen und Hausgenossen Gottes. (Eph 2,19)

Um den Vers 19 im zweiten Kapitel des Epheserbriefes in seiner ganzen Wucht erschließen zu können, braucht es eine Vorstellung von der Gesellschaftsordnung antiker Städte. In diesem Fall bezieht sich der Autor des Briefes ausdrücklich auf die Stadt Ephesus und ihre besondere Stellung innerhalb des römischen Reiches.

Grundsätzlich werden drei Stände in der antiken Stadt unterschieden: Die Sklav/innen, die nur über Pflichten, nicht aber über Rechte verfügten; die Fremden ohne Bürgerrecht und die Bürger/innen. Das Wort „Fremde“ kann dabei auf die falsche Fährte locken. Dabei handelte es sich auch um – modern gesprochen – Menschen mit Migrationshintergrund. Die meisten aber waren bereits über Generationen in der Stadt sesshaft, gehörten aber nicht zur städtischen Nobilität. Sie üben Handwerks- und Dienstleistungsberufe aus, sind zum Militärdienst verpflichtet, zahlen Steuern, aber sie können aber keine höheren städtischen Ämter übernehmen. Leitende Stellungen und damit die Verantwortung für das Gemeinwesen sind ihnen verwehrt. Sie haben weder aktives noch passives Wahlrecht und verfügen entsprechend auch nicht über das Recht auf dem „Markt“, das heißt im öffentlichen Raum, politisch Stellung zu nehmen.

Die Juden galten in Ephesus ausnahmslos als Fremde. Auch viele heidenchristlichen Mitglieder der Gemeinde sind wohl diesem Stand zuzuordnen. Paulus bzw. der Autor des Briefes an die Epheser, der sich mit seinem Brief unter die Autorität des Paulus stellt, führt nun als Gegenbild zum Fremden nicht einfach den Bürger mit vollen Rechten an. Das Wort Mitbürger hat durch die Stellung der Stadt Ephesus eine besondere Bedeutung. Die Bürger der Stadt sind Mitbürger der stadtrömischen Bürger. Sie haben nicht nur das Bürgerrecht ihrer Stadt, sondern auch römisches Bürgerrecht. Das bedeutet, dass sie in einer besonderen Verpflichtung auf das gesamte römische Reich stehen. Sie sind befähigt, für das ganze Reich Verantwortung zu übernehmen und kommen für die höchsten Funktionen der Verwaltung in Frage.

Die Heiligen wiederum sind im Sprachgebrauch der Pastoralbriefe des Neuen Testamentes eine spezifische Gruppe. Das Wort macht keine Aussage über Ihre persönliche Lebensführung, ihren Glauben, gar ihre geistliche Vollkommenheit, sondern kennzeichnet sie als Mitglieder der Jerusalemer Gemeinde. Diese Gemeinde sieht sich, analog zu den stadtrömischen Bürgern für das Kaiserreich, in einer besonderen Verantwortung für das parallel gedachte „Reich Gottes“ – die ganze junge christliche Gemeinschaft. Der Autor des Epheserbriefes durchbricht diese implizite Wertung und erinnert daran, dass es unter den Christ/innen keine Statusunterschiede gibt. Alle sind Mitbürger/innen der Heiligen. Alle stehen in umfassender Verantwortung für die Kirche. Alle können alle Aufgaben übernehmen. Alle habe das Recht, sich mit ihrer Meinung in den Dialog der ganzen Kirche einzubringen. Alle haben das Recht, und die Verpflichtung, sich in die Gestaltung der Zukunft einzubringen.

Der Vers führt die Argumentation jedoch noch weiter. Die Christ/innen sind auch „Hausgenossen Gottes“. Hausgenossen, das Wort klingt auch im griechischen Text genauso ungewohnt wie in der deutschen Übersetzung. Dahinter steht nicht nur die Vorstellung von Familienmitgliedern oder entfernteren Verwandten, die mit im Haus wohnen. Das Wort nimmt vielmehr Bezug auf eine Besonderheit der Stadt Ephesus. Das Stadtoberhaupt war qua Amt „Hausgenosse“, Hausgenosse des römischen Kaisers, ein herausragender Ehrentitel, der im Kaiserreich nur an eine Handvoll Personen vergeben wurde. Praktisch bedeutet dieser Titel, dass das Stadtoberhaupt, wenn er zu politischen Gesprächen nach Rom reiste, dort im Privatbereich des Kaisers wohnen konnte und an allem Protokoll vorbei direkt Zugang zum Kaiser hatte. Er konnte seine Angelegenheiten unmittelbar regeln, ohne auf irgendwelche Zwischeninstanzen Rücksicht nehmen zu müssen.

Hausgenoss/innen Gottes lässt diese gleiche Unmittelbarkeit der Christ/innen zu Gott anklingen, die dem Stadtoberhaupt vom Kaiser gewährt wird. Sie haben die Möglichkeit und das Recht, alles, was sie betrifft, direkt „mit Gott zu besprechen“. Sie haben Zugang zur „Privatsphäre Gottes“. Nichts und niemand steht zwischen ihnen und Gott. Sie sind niemandem zur Rechenschaft verpflichtet. Sie gestalten ihr geistliches Leben und das Leben ihrer Gemeinschaft unabhängig und einzig aus dem eigenen Glauben und der eigenen Einsicht heraus. Dabei verhalten sie sich als Bürger/innen, das heißt jedem/r steht das Recht der freien Rede zu. Jede/r ist gerufen und fähig, Verantwortung zu übernehmen. Aber sie handeln gemeinschaftlich. Sie handeln ihre Angelegenheiten öffentlich miteinander aus, wie es die Bürger antiker Städte auf dem „Markt“ gewohnt sind.

 

„Ihr seid auf das Fundament der Apostel und Propheten gebaut; der Schlussstein ist Christus Jesus selbst. Durch ihn wird der ganze Bau zusammengehalten und wächst zu einem heiligen Tempel im Herrn. Durch ihn werdet auch ihr im Geist zu einer Wohnung Gottes erbaut.“ (Eph 2, 20-22)

Der Autor geht in seiner Aufwertung der lokalen Gemeinschaft jedoch noch weitere Schritte – wobei immer eine gewisse Kritik an der Sonderstellung der Jerusalemer Gemeinde mitschwingt. Nicht nur die Heiligen sind Nachfolger der Apostel. Das Kriterium, Jesus persönlich gekannt zu haben, oder direkt im Kontakt mit Menschen zu stehen, die ihn erlebt haben, das noch zu Beginn der Apostelgeschichte das entscheidende Merkmal ist, um in den Kreis der Apostel hinzugerechnet zu werden, gilt für ihn nicht mehr. Alle, die an Christus glauben, sind Nachfolger der Apostel, gesandt dem ganzen Erdkreis das Evangelium zu bringen. Alle sind von gleicher Würde und alle stehen in der gleichen Verantwortung.

Diese Setzung ist umso kühner, als der Epheserbrief sich ausdrücklich an Juden-, vor allem aber an Heidenchristen wendet. Auch die Christ/innen, die aus den vorderasiatischen, griechischen oder römischen Religionen kommen, sieht er zudem auf das Fundament der alttestamentlichen Propheten gestellt. Das heiß, sie sind in seiner Vision in gleicher Weise wie die Jüd/innen und die Judenchrist/innen Träger/innen der Verheißung und Teil des Volkes Gottes. Dabei lässt der Autor sicher nicht zufällig das erste Element weg, das eine/n Jüd/in ausmacht: das Gesetz. Dieses hat für die Christ/innen nicht-jüdischer Herkunft in der Linie paulinischer Theologie eben keinen verpflichtenden Charakter mehr. Es ist im Entwurf des Epheserbriefes auch nicht notwendig, um die höchste Würde und umfassende Verantwortung  im Gottesvolk und in der christlichen Gemeinde zugesprochen zu bekommen.

Entscheidend ist vielmehr Jesus Christus und der Glaube an ihn. Durch seinen Geist wird möglich, was in der traditionellen Ordnung nicht denkbar war. Alle werden zu einer einzigen Gemeinschaft zusammengefügt. Alle sind konstitutiver, unersetzlicher Teil des „Hauses“ der Kirche. Als Gemeinschaft lösen sie den Tempel in Jerusalem ab. Nicht mehr das Gebäude, sondern das lebendige „Haus“ aus Juden- und Heidenchristen, diese Versammlung der Bürger/innen des Reiches Gottes, der Hausgenoss/innen Gottes, ist der Ort der sicheren Anwesenheit Gottes. Das Gebäude ist damit vernachlässigbar. Die Zerstörung des Jerusalemer Tempel durch die römischen Truppen hat so keine Bedeutung für den Glauben. Die Gegenwart und Erreichbarkeit Gottes kann nicht zerstört werden, denn sie hat überall dort ihren Ort, wo die Glaubenden zusammenkommen. „Im Herrn“ zu sein, ist allein entscheidend – Jesus Christus als Herrn anzunehmen und sich in seine Verkündigung und Sendung zu stellen.

Die Christ/innen sind dies alles jedoch nicht aus eigener Leistung. Alles hängt am Wirken Christi und seines Heiligen Geistes. So nutzt der Autor einerseits Verbformen im Präsenz, gibt ihnen aber zugleich durch die Kombination mit passiven Partizipien eine Öffnung auf die Zukunft. Die Christ/innen werden von Christus zu einem Haus zusammengefügt, der Geist schafft aus ihnen einen Tempel Gottes. Dies ist aber nicht einfach ein Zustand, sondern ein Geschehen. Sie sind, weil sie werden. Ihr Glaube und die Gestalt ihrer Gemeinschaft hat eine dynamische Komponente. Nichts ist zementiert, alles steht unter dem Vorbehalt des Wirkens des Geistes, ist veränderbar und kann künftigen Situationen und Herausforderungen angepasst werden. Und damit schließt sich der Kreis zurück zum Bürgerrecht. Alle Christ/innen stehen in der Verantwortung für die Weiterentwicklung der Kirche. Alle haben das Recht, sich in diesen Prozess mit ihrer Meinung öffentlich einzubringen. Alle gestalten aus eigener Würde, „im Herrn“, glaubend und auf den Geist Gottes hin offen, die Zukunft der Kirche mit.

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