Lässt sich die Reich-Gottes-Verkündigung Jesu versuchsweise mit der Brille eines Rechtssystems lesen? Und wenn, wie ist dessen Verhältnis zu anderen Rechtssystemen gedacht? Wie kann sein Anwendungsbereich beschreiben werden? Lassen sich, folgt man dieser Linie, dann kirchenentwicklerische Konsequenzen für heute formulieren?

Die Königsherrschaft Gottes – neben anderen Rechtssystemen

Text: Peter Hundertmark – Photo: joergelman/pixabay.com

Jüdinnen und Juden in Galiläa zur Zeit Jesu waren es gewohnt, gleichzeitig mit drei Rechtsystemen zu leben. Diese Rechtssysteme waren nicht, wie wir es gewohnt sind, aufeinander abgestimmt und von einer zentralen Staatsidee gesteuert, sondern bezogen sich auf drei sich überlappende Herrschaften. Das mosaische Gesetz, das römische Recht und das Partikularrecht des Tetrarchen entstammten völlig unterschiedlichen, einander widersprechenden Rechtstraditionen. Deren Anwendung war zwangsläufig konfliktträchtig. Dort wo beispielsweise römisches Recht durchgesetzt wurde, war das mosaische Gesetz nicht umfassend zu halten. Die Zöllner sind die bekannteste Gruppe, die durch diesen Konflikt faktisch aus der Religionsgemeinschaft ausgeschlossen wurden. Die Erfahrung aber, zwischen diesen Rechtssystemen lavieren zu müssen, war Alltag der Menschen.

Wenn Jesus dann die Königsherrschaft Gottes – bzw. das Reich Gottes – in den Mittelpunkt seiner Verkündigung stellt, so lässt sich das vielleicht so lesen, dass er diesem komplexen Geschehen ein weiteres „Rechtssystem“ hinzufügt. Die mitlaufende Vorstellung vom Reich Gottes legt nahe, dass es sich um einen realen Herrschaftsbereich handelt, dem jedoch keine einfach physikalische Wirklichkeit entspricht. Es ist nicht „von dieser Welt“ (Joh 18,36), verfügt weder über Territorium noch Kultorganisation, nicht über Militär noch Beamtenschaft, zieht keine Steuern ein, beansprucht aber dennoch die Gefolgschaft des ganzen Menschen. Es ist überall dort, wo sich die Glaubenden versammeln, aber niemand kann es her zeigen. Jesus sagt warnend: „Das Reich Gottes kommt nicht so, dass man es an äußeren Zeichen erkennen kann.“ (Lk 17,20) Paulus ergänzt: „Das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken“ (Röm 14,7) Das Reich Gottes ist kein Zustand, kein Staat und zugleich aber auch keine Utopie oder Vertröstung. Es ist nahe. Gott selbst bringt es noch zu Lebzeiten der Glaubenden herauf (Lk 9,27) – und doch wird es nie die einzige Gegenwart. Es wächst wie die Saat, wird aus einem ganz kleinen Anfang eines Senfkorns zu einem „Weltenbaum“, „darin die Vögel des Himmels nisten“ (Lk 13,19), aber dieses Wachsen geschieht im Dunkeln und lässt sich weder beobachten, noch beeinflussen (Mk 4,27).

Vielleicht dachte Jesus die Königsherrschaft Gottes dabei nicht als konkurrierende Wirklichkeit, eben nicht als orientalische Theokratie, auch nicht als Erneuerung der jüdischen Staatlichkeit unter dem Gesetz des Mose. Jedenfalls sprechen eine ganze Reihe Texte, die sich von der königlichen Messias-Tradition ebenso abgrenzen wie von zelotischer Gewaltanwendung für eine solche Annahme. In jedem Fall aber kam es faktisch so, dass die anderen Rechtssysteme bestehen blieben. Ihre Gültigkeit greift weiter ins Leben der Glaubenden ein und verschiedene Worte, die Jesus zumindest in den Mund gelegt werden, versuchen die dadurch entstehende Spannung auszugleichen: „Gebt dem Kaiser, was dem Kaiser gehört…“ (Lk 20, 25), „Ich bin nicht gekommen, das Gesetz aufzuheben…“ (Mt 5,17) Jesus propagiert weder den Rückzug in eine unwirtliche Gegend, um sich dem Zugriff der anderen Rechtssysteme zu entziehen – wie die Leute von Qumran, noch die Ablösung der anderen Rechtssysteme durch die Regeln der Königsherrschaft Gottes.

Immer wieder werden theokratische Hoffnungen auf ihn projiziert, aber er entzieht sich. Auch seine Gegner handeln ausgehend von dem Verdacht, er wolle – ähnlich wie früher aufgetretene Messias-Gestalten – die bestehende Ordnung beseitigen. Die Geschichte mancher seiner Jünger gibt zu dieser Befürchtung durchaus Anlass. Auch seine Kultkritik und das ihm von seinen Gegnern in den Mund gelegte Wort: „Reißt den Tempel nieder und in drei Tagen werde ich ihn wieder aufbauen.“ (Mt 26,61) musste die Autoritäten natürlich beunruhigen. Jesus aber scheint sich auch von diesen Vorstellungen immer wieder abgegrenzt zu haben. In der Reflexion seiner Jünger wird dann diese Abgrenzung gegen theokratische Ideen kunstvoll in die Schilderung der Versuchungen Jesu in der Wüste eingeflochten. Das Reich Gottes als innerweltliche Herrschaft zu denken, klingt in der zweiten Versuchung Jesu in der Wüste an. Es ist eine teuflische Versuchung. Jesus antwortet darauf: „Weg mit Dir, Satan!“ (Mt 4,10)

Die Verwechslung des umfassenden Anspruchs Jesu und der von ihm verkündigten Königsherrschaft Gottes mit einer Theokratie passiert wirkt dennoch auf den ersten Blick logisch: Wenn Gott König ist, dann müssen doch alle Menschen ihm gehorchen. Die Versuchung, alle Reiche der Erde beherrschen und zu einem Reich Gottes umgestalten zu wollen, durchzieht die Geschichte des christlichen Glaubens als ständige Begleiterin. Die theokratische Idee wurde auf die Übernahme des römischen Staates projiziert. Im Mittelalter verlangte die Kirche ganz selbstverständlich, dass der Staat sich ihren Wünschen unterordnet und zum Beispiel theologische Dissidenten mit Waffengewalt verfolgt. Bei den Kreuzzügen und dem lateinischen Königreich in Palästina laufen unterschwellig solche Phantasien mit. Die Inquistion legitimierte sich aus diesem Anspruch. Aber auch die sogenannten häretischen Gruppen – Katharer, Hussiten und Täufer… – erlagen immer wieder dieser Versuchung. Die Kolonialisierung Lateinamerikas wurde damit nachdräglich begründet. Wann immer ihr nachgegeben wurde, entstand jedoch innerhalb kürzester Zeit ein von Gesinnungsterror geprägtes Staatswesen. Jesus aber weist theokratische Ideen entschieden zurück. (Lk 4, 5-8)

Bürgerschaft im Reich Gottes

Jesus spricht aber dennoch in vielen Variationen davon, dass man in das Reich Gottes eintreten kann, dass es den Glaubenden gehört, dass man die Zugehörigkeit auch verlieren kann. Ohne das Wort zu benutzen, schildern die Evangelien das Verhältnis der Glaubenden zum Reich Gottes mit Begriffen, die wir heute mit der Vorstellung von Bürger*innen eines Staates verbinden. Im Epheserbrief wird diese Idee ausdrücklich formuliert: „Ihr seid nicht mehr Fremde ohne Bürgerrecht, sondern Mitbürger der Heiligen und Hausgenossen Gottes.“ (Eph 2,19) Allerdings: man kann nicht ins Reich Gottes hineingeboren werden. Bürgerin oder Bürger wird man nur, indem man von neuem, von oben, aus Wasser und Geist geboren wird (Joh 3,5). Abstammung, Familienbande, aber auch ethnische und religiöse Zugehörigkeiten gelten für das Reich Gottes nicht : „…nicht wer aus dem Blut, nicht wer aus dem Fleisch, nicht wer aus dem Willen des Mannes geboren wird…“ (Joh 1,13) Oder noch drastischer: „Wer den Willen Gottes tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter (Mk 3, 35). Die Königsherrschaft Gottes ist kein naturwüchsiger Zustand. Sie erfordert eine Entscheidung.

Paulus systematisiert diese Vorstellung in den ersten Kapiteln des Römerbriefs, wenn er sich polemisch von der Gesetzesfrömmigkeit der pharisäischen Schulen absetzt. „Denn wir sind der Überzeugung, dass der Mensch gerecht wird durch Glauben, unabhängig von Werken des Gesetzes. Ist denn Gott nur der Gott der Juden, nicht auch der Heiden? Ja, auch der Heiden, da doch gilt: Gott ist «der Eine». Er wird aufgrund des Glaubens sowohl die Beschnittenen wie die Unbeschnittenen gerecht machen.“ (Röm 3, 28 -30) Bürgerschaft im Reich Gottes erlangt man aus Glauben und Gnade allein. Dann aber nimmt der Text eine überraschende Wendung: „Setzen wir nun durch den Glauben das Gesetz außer Kraft? Im Gegenteil, wir richten das Gesetz auf.“ (Röm 3, 31) Das Gottesreich ersetzt eben nicht einfach das Gesetz des Mose durch eine neue Ordnung. Es hebt auch die anderen Rechtssysteme, insbesondere das römische Recht nicht auf.

Einige Regeln der Königsherrschaft Gottes

Jesus sieht sich selbst als Verkörperung der Königsherrschaft Gottes. Seine Jüngerinnen und Jünger können durch den Glauben an ihn als den Messias, später durch das Zeugnis der Auferstehung und die Taufe, Bürgerinnen und Bürger dieses Reiches Gottes werden. Für sie gelten damit die Regeln, die Jesus als gottgefällig und dem neuen Leben der Erlösten entsprechend verkündet. Als Schlussstein, der das Rechtssystem der Königsherrschaft Gottes zusammenhält, ist das dreifache Liebesgebot zu sehen. Es ist quasi die Präambel, die allem weiteren die Ausrichtung gibt.

Zuzuordnen sind dann Regeln für das ökonomische und politische Verhalten, die auf eine komplette Umwertung hinaus laufen: Das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg mit seiner radikalen Verteilungsgerechtigkeit, aber natürlich auch die Bergpredigt, die ganz andere Personengruppen in den Mittelpunkt des Aufmerksamkeit holt und zum Vorbild erhebt: Arme, Verfolgte, Trauernde, Gerechtigkeitssuchende… Und das berühmte „Bei euch soll es nicht so sein!“ (Mt 20,26) Es soll in der Königsherrschaft Gottes eben keine Herrscher geben, die die Menschen unterdrücken und ausbeuten.

Dann einige wenige Regeln für das zwischenmenschliche Zusammenleben, wie etwa die Kritik an den im Judentum damals üblichen Scheidungsregeln. Dazu Schutzregeln für die Kleinen und die Kinder – „Wer einen von diesen Kleinen, die an mich glauben, zum Bösen verführt, für den wäre es besser, wenn er mit einem Mühlstein um den Hals im tiefen Meer versenkt würde.“ (Mt 18,6) Vor allem aber eine Warnung, zu sehr auf familiäre Bande zu setzen und Familie automatisch mit einem Schutzraum gleich zu setzen: „Denn von nun an wird es so sein: Wenn fünf Menschen im gleichen Haus leben, wird Zwietracht herrschen: Drei werden gegen zwei stehen und zwei gegen drei, der Vater gegen den Sohn und der Sohn gegen den Vater, die Mutter gegen die Tochter und die Tochter gegen die Mutter…“ (Lk 12, 52f) Maßstäbe für das Miteinander der Geschlechter setzt dann mehr das Verhalten Jesu, denn konkrete formulierte Regeln: Frauen nehmen zentrale Funktionen ein und werden an entscheidender Stelle – wenn es um den Auferstehungsglauben geht – sogar den Männern als Vorbild vor Augen gestellt. Die patriarchale Ideologie bekommt dadurch zumindest Risse. Jesus schafft Präzedenzfälle, auf die sich Frauen berufen können. Die Gleichwertigkeit und die gleichen Rechte aller Geistträgerinnen und Geistträger lassen sich unmittelbar aus dem Handeln Jesu begründen. In der Folge wird der „neue Weg“ der Christgläubigen als eine Religion wahrgenommen, die anders als viele andere antike Kulte Frauen etwas bieten kann.

Körper und Körperpflege werden einerseits hoch geschätzt und spirituell aufgeladen – „Oder wisst ihr nicht, dass euer Leib ein Tempel des Heiligen Geistes ist, der in euch wohnt und den ihr von Gott habt? Ihr gehört nicht euch selbst;“ (1 Kor 6,19) – andererseits wird jede Form von Körperkult abgelehnt und die Gefahren in drastischen Bildern aufgezeigt: „Wenn dich deine Hand oder dein Fuß zum Bösen verführt, dann hau sie ab und wirf sie weg! Es ist besser für dich, verstümmelt oder lahm in das Leben zu gelangen, als mit zwei Händen und zwei Füßen in das ewige Feuer geworfen zu werden.“ (Mt 18,8).

Gänzlich verzichtet wird auf Speise-, Fasten- und Reinheitsvorschriften. „Nichts, was von außen in den Menschen hineinkommt, kann ihn unrein machen, sondern was aus dem Menschen herauskommt, das macht ihn unrein.“ (Mk 7,15) Religiöse oder liturgische Regeln fehlen ebenfalls fast vollständig. Im Mittelpunkt steht die Aufforderung beim gemeinsamen Mahl Jesu Tod und Auferstehung zu gedenken. Sodann findet sich das Vaterunser als Modellgebet und die vorbildliche Gebetspraxis Jesu, der sich zum Beten in die Einsamkeit zurückzieht. Almosen, Hilfe für Kranke, Gefangene und Gewaltopfer, sowie Fürsorge für die Schwachen werden als selbstverständlich gesehen. Großzügigkeit gilt als Standard: „Wenn du Almosen gibst, soll deine linke Hand nicht wissen, was deine rechte tut.“ (Mt 6,3) Soziale Belange werden den religiösen Verpflichtungen radikal übergeordnet. Als Belegstellen sind hier nennen: der Barmherzige Samariter, die Rede vom Weltgericht in Mt 25 und die Aufforderung, sich erst zu versöhnen und dann zum Altar zu treten (Mt 5,23).

In seiner „Antrittspredigt“ (Lk 4,18f) nimmt Jesus die Vision des Jesaja auf: Heilung für die Kranken, Befreiung für die Gefangenen, gerechter Ausgleich der ökonomischen Ungleichkeit – ein Gnadenjahr des Herr – und „Evangelium für die Armen“. Dabei fällt auf, dass der Begriff „Evangelium“ seltsam unbestimmt bleibt. Im Zusammenhang mit dem Jesaja-Zitat zeigt es weniger ein festgelegtes Handlungsmuster, denn eine Qualität an: Zeichen der Königsherrschaft Gottes ist es, wenn es sich für die Armen als gute Nachricht anfühlt. Dass Evangelium in diesem Sinne geschieht, ist Jesus wichtiger als alle Einzelregelungen – und damit schließt sich der Kreis zum dreifachen Liebesgebot.

Solidarische Verantwortungsgemeinschaft als Bedingung

Dass es nicht funktionieren kann, die Bergpredigt oder das Evangelium zum Gesetz für alle zu machen, ist hundertfach argumentiert worden. Das ist auch richtig, setzt aber voraus, dass die Regeln für die Königsherrschaft Gottes andere Rechtssysteme ersetzen soll. Als Anleitung für eine Theokratie eigenen sich die Vorstellungen Jesu eben genau nicht. Nimmt man aber die selbstverständliche Gewohnheit an, mit verschiedenen Rechtssystemen im Alltag hantieren zu müssen, öffnet sich ein neuer Interpretationsrahmen. Vorausgesetzt ist dann allerdings eine starke Innen-Außen-Unterscheidung: Ein Innenbereich, in dem die Bürgerinnen und Bürger des Reiches Gottes nach der Verkündigung und dem Beispiel Jesu versuchen, ihre Beziehungen untereinander zu gestalten, und ein Außen, in dem – historisch gesprochen – das römische Recht gilt, die ökonomischen Gesetzmäßigkeiten einer Sklavenhaltergesellschaft (als Beleg mag der Philemonbrief herhalten) und die patriarchale Ordnung der Gesellschaft. Dass die Praxis innerhalb der Gemeinden auch anders war, lässt sich aus den Haustafeln (z.B. Eph 5,22 ff) der Pastoralbriefe zurückschließen, die die patriachale Ordnung einfordern.

Diese starke Unterscheidung zwischen dem Innenbereich der Gemeinde und dem Außen der Gesellschaft ist jedoch nur dann tragfähig und nicht reine Utopie und Vertröstung, wenn ihr eine funktionierende, solidarische Verantwortungsgemeinschaft im „Innen“ entspricht. Entsprechend scharf sind die Verurteilungen und Strafen, die in den Paulusbriefen und der Apostelgeschichte berichtet werden, gegen diejenigen, die die Verantwortungsgemeinschaft spalten oder ausnutzen wollen (Bsp. Apg 5,1-11) An der Verantwortungsgemeinschaft hängt alles. Ohne diesen Nahraum geteilten Risikos und gegenseitiger Fürsorge, sind die Regeln der Königsherrschaft Gottes nicht umzusetzen.

Nach außen wirken die Regeln der Königsherrschaft Gottes jedoch erst einmal als anspruchsvolle Ethik. So haben vor allem die griechisch geprägten Hörer*innen die Botschaft Jesu aufgenommen. Eine solche Ethik in moralisch verunsicherten Zeiten war dabei durchaus attraktiv. Zum missionarischen Trumpf für die Ausbreitung des Christentums jedoch wurde das, was von außen als Ethik wahrgenommen wurde, erst durch das Innen der Verantwortungsgemeinschaft, die untereinander so ganz anders lebt, als andere Gruppen und Religionsadepten. Der staunende Ausruf Tertullians: „Seht, wie sie einander lieben“ dürfte die Faszination gut zusammenfassen, die Menschen erlebten, wenn sie der solidarischen Verantwortungsgemeinschaft der Bürgerinnen und Bürger der Königsherrschaft Gottes begegneten.

Eine gelebte Verantwortungsgemeinschaft ist die notwendige Voraussetzung für eine Anwendung der Regeln des Reiches Gottes. Das allein schon in den überschaubaren Gemeinden und den „Häusern“ umzusetzen, ist sehr herausfordernd. Aber in ihren besten Momenten gelingt es den Gemeinschaften der Glaubenden auch nach außen, in den offenen Bereich der Gesellschaft und den Bereich der anderen Rechtssysteme hinein, der eigenen Ethik entsprechend zu handeln. Davon zeugen die Heilungen Jesu „jenseits“ der Grenzen der jüdischen Welt, davon erzählen aber auch die Heilungen und das uneigennützige Handeln der Glaubenden in der Apostelgeschichte. Beispiel: Obwohl er nicht über die Ressourcen des normalen ökonomischen Lebens verfügt, und obwohl der Gelähmte nicht zu den Glaubenden gehört, heilt Petrus den Gelähmten am Tor des Tempels. (Apg 3,1-10) Er folgt damit den Regeln von Berg- und Antrittspredigt, wendet sie jedoch über die Verantwortungsgemeinschaft hinaus auf die Begegnung mit einem Bettler an. Die Sorge für Kranke, Arme, Alte und Behinderte, die Ideen von ausgleichender Umverteilung von Oben nach Unten, von Grundsicherung und Entwicklungszusammenarbeit…, die bis heute zum Selbstverständnis moderner europäischer Gesellschaften und rechtsstaatlicher Systeme gehören, dürfen durchaus in dieser Linie als säkulares Echo dieser nach außen gewendeten Solidarität der Königsherrschaft Gottes gedeutet werden.

Die Katastrophe des Sieges

Nicht immer aber geht das Aufeinandertreffen der verschiedenen Rechtssysteme so harmonisch und fruchtbar vor sich. Fast zwangsläufig mussten die pharisäische Auslegung des mosaischen Gesetzes und die Herangehensweise Jesu und seiner Nachfolgenden aneinander geraten. Schon die in den Evangelien berichteten Auseinandersetzungen über den Sabbat oder die Speisevorschriften legen davon beredt Zeugnis ab. Die Nicht-Beschneidung der gläubig gewordenen Heiden vertieft später den Konflikt. Aus verschiedenen Rechtssystemen, die nebeneinander unterschiedliche Bereiche regeln, wurden immer wieder konkurrierende, einander ausschließende Alternativen und das Nebeneinander wurde zur Feindschaft. Der noch größere Konflikt bahnt sich jedoch relativ rasch mit dem römischen Recht an. Beide, das römische Recht und das Evangelium des Gottesreiches beanspruchten in der Hierarchie der Rechtssysteme den obersten Platz. Ausgetragen wird dieser Konflikt an der Frage, ob dem Kaiser geopfert werden darf. Grundgelegt ist er jedoch schon, als die Christ*innen für Jesus und nur für ihn den Kaisertitel „Kyrios“ beanspruchen: „Jesus Christus; dieser ist der Herr (Kyrios) über alle.“ (Apg 10,36)

So verständlich es ist, dass diese Auseinandersetzungen um die Rangfolge der Rechtssysteme aufgenommen wurden – dienten sie doch der Identitätsfindung und der Absicherung gegen staatliche Gewalt – so dramatisch ist es, dass sie gewonnen wurden. Der Triumphmarsch führt direkt in die größten Katastrophen des Christentums. Der „Sieg“ über das rabbinische Judentum führte zum Verlust der eigenen Wurzeln, zu einer Entfremdung auch vom Juden Jesus, zu Konkurrenz, Antisemitismus, Pogromen und bis hin zur Shoah. Die feindliche Übernahme der Rechtsverantwortung des römischen Staates legte den Grundstein für den Verlust der solidarischen Verantwortungsgemeinschaft in der Staatskirche, das Verblassen der Nachfolge als zentraler Kategorie der Zugehörigkeit, für theokratische Exzesse und den Einsatz staatlicher Gewalt gegen interne Gegner, aber auf für den europäischen Kolonialismus und christentümlichen Kulturhegemonismus, für die Abkehr der Kirche vom aufgeklärten Staat, von Naturwissenschaft, von den philosophischen Grundpfeilern der Moderne und für die lange theologisch begründete Abwertung von Demokratie, Emanzipation und individueller Freiheit.

Umkehr

Die Geschichte, mit den positiven Einwirkungen der Reich Gottes-Ethik, wie mit den Katastrophen der Verwechslung der Königsherrschaft Gottes mit einem innerweltlichen Herrschaftssystem ist nicht ungeschehen zu machen. Mit den heute zur Verfügung stehenden philosophischen Instrumenten, mit der Erfahrung des ehrfürchtigen Dialogs der Religionen und vor allem auf Basis der gesellschaftlichen Realität, dass Staat und Kirche, Gesellschaft und christliche Gemeinschaft wieder auseinandertreten, könnte dennoch ein Neuansatz möglich werden. Vier Schritte, die umfassende Herausforderungen markieren, lassen sich skizzieren:

Der erste Schritt dahin ist die bewusste, theologisch durchdachte und öffentliche Absage an alle theokratischen Versuchungen, an Dominanz- und Herrschaftsstreben, aber auch an die Konkurrenz mit anderen Überzeugungen, Weltanschauungen und Religionen und an die Versuche, versäulte Sonder- und Parallelwelten zu schaffen. Die Fähigkeit, den Alltag zwischen verschiedenen Rechtssystemen zu gestalten, muss neu gelernt und kultiviert werden. In einer gewissen Parallelität zur „Kirche im Sozialismus“ braucht es eine theologische Reflexion darüber, wie christlicher Glaube im Kapitalismus und in der offenen Zivilgesellschaft eines demokratischen Rechtsstaates gelebt werden kann.

Der zweite Schritt ist die Besinnung auf die solidarische Verantwortungsgemeinschaft der Glaubenden. Dazu gehört unabdingbar, die historischen und aktuelle Zerstörungen dieser Gemeinschaft durch Machtmissbrauch, Klerikalismus, durch Festhalten an dysfunktionalen Abläufen und lebensfremden Vorstellungen aufzuarbeiten, aufzulösen und ihnen präventiv entgegen zu arbeiten. Der dadurch hoffentlich neu entstehende, konkret im persönlichen Nahbereich relevante und in existentiellen Situationen als verlässlich erfahrene Binnenraum ist die Bedingung der Möglichkeit, Werte und Regeln der Königsherrschaft Gottes praktisch umzusetzen. Der/die Einzelne in seiner/ihrer ungesicherten ökonomischen Position und praktischen Abhängigkeit ist niemals dauerhaft in der Lage, die Umwertung zu leben, die Jesus in der Bergpredigt idealtypisch zusammenfasst. Das Subjekt der Königherrschaft ist notwendig kommunitär – was sich nicht nur umsetzungstheoretisch, sondern auch trinitätstheologisch aufweisen lässt.

Der dritte Schritt ist es, eine permanente synodale Verständigung über die Ausgestaltung der im antiken semitischen Denkhorizont formulierten Regeln der Königsherrschaft Gottes unter den Bedingungen der globalisierten Moderne, der Komplexität reifer Gesellschaften und der drohenden ökologischen  Katastrophe. Diese Verständigung kann nur auf der Basis einer Gleichwertigkeit aller Geistträgerinnen und Geistträger, in einem wertschätzendem Hinhören auf die fremden Positionen, in sorgsamer geistlicher Unterscheidung und engagierter gemeinsamer Suche nach dem Wohl für alle, theologisch gesprochen nach dem Willen Gottes, gelingen.  Dieser dritte Schritt setzt die solidarische Verantwortungsgemeinschaft einerseits voraus und erschafft sie zugleich je neu.

Als vierten Schritt gilt es die eigenen Überzeugungen, die Regeln der Königsherrschaft Gottes, die Erfahrungen und Herausforderungen der solidarischen Verantwortungsgemeinschaft unter dem Anspruch der Nachfolge Jesu, in ethische Positionen übersetzt, engagiert als einen profilierten Beitrag in die zivilgesellschaftliche Debatte und Meinungsbildung einzubringen. Dabei gilt es zuzulassen, dass wirklicher Dialog immer auch die eigene Position verändert und weiterentwickelt. Zu diesem Schritt gehört aus innerer Logik heraus auch das Zusammenwirken mit allen Menschen, Initiativen und Institutionen „guten Willens“ – auch demütig untergeordnet unter deren Bedingungen, der Einsatz für Gerechtigkeit, für Frieden und nachhaltiges Leben und Wirtschaften. Auf diese Weise nehmen die Christinnen und Christen Teil an der Sendung Christi und setzen konkret um, was sie in der Nachfolge Jesu erkannt haben.

„Euch aber soll es zuerst um das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit gehen“ (Mt 6,33) – als Solidargemeinschaft der Bürgerinnen und Bürger der Königsherrschaft Gottes und als solidarisches Handeln zugunsten der Menschheitsfamilie und des gemeinsamen Hauses Erde.  

Diesen Beitrag teilen: