Die Begleitung von Betroffenen schweren Missbrauchs stellt besondere Anforderungen an die Sensibilität und das Gesprächsverhalten der geistlichen Begleiterinnen und Begleiter. Manche Interventionen, die sonst gute und übliche Praxis sind, können nur mit größter Vorsicht oder gar nicht hilfreich angewandt werden.

Text: Ruth Büllesbach – Photo: Artbykleiton/pixabay.com

Geistliche Begleitung nach schwerem Missbrauch

Dieser Aufsatz kann sich nicht mit allen Aspekten einer Geistlichen Begleitung (künftig „GB“) von Opfern schweren Missbrauchs auseinandersetzen. Er versucht, auf das für die Praxis Wesentliche einzugehen. Um die Leserlichkeit zu erhöhen, wird nicht durchgängig mit Fußnoten gearbeitet. Die Literaturliste führt jedoch alle Werke auf, auf denen dieser Aufsatz gründet. Mit ähnlicher Motivation wird zwischen weiblichen und männlichen Sprachformen gewechselt, ohne durchgängig beide zu verwenden. Formulierungsunabhängig sind immer alle denkbaren Geschlechterformen gemeint (weiblich, männlich, divers).

Unter „schwerem Missbrauch“ wird hier ein sexueller und / oder spiritueller Missbrauch verstanden, der je nach persönlicher Resilienz des oder der Betroffenen das Potential hat, Traumata von mindestens 4 Wochen Dauer auszulösen. Wiederholter sexueller Missbrauch, sollte er innerhalb der katholischen Kirche (künftig „Kirche“) geschehen, wird häufig durch spirituellen Missbrauch vorbereitet oder begleitet. Der wesentliche Fokus wird im Folgenden auf sexuellen Missbrauch gelegt, da es dazu mehr aussagekräftige Untersuchungen gibt.

Unter „sexuellem Missbrauch“ werden sexuelle Handlungen mit, an oder vor Personen verstanden, die gegen deren Willen vorgenommen werden oder der sie aufgrund körperlicher, seelischer, geistiger oder sprachlicher Unterlegenheit nicht wissentlich zustimmen konnten. Der Täter oder die Täterin nutzen ihre Macht- und Autoritätsposition aus, um eigene Bedürfnisse auf Kosten des oder der anderen zu befriedigen. Es ist angemessen, hier nicht nur Minderjährige, sondern genauso Erwachsene als Opfer im Blick zu haben.

Die WHO definiert in ICD-10 als „Traumata-verursachend“ ein kurz- oder langanhaltendes Ereignis oder Geschehen von außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophalem Ausmaß, das nahezu bei jedem Menschen tiefgreifende Verzweiflung auslösen würde. DSM-5 (USA) führt als einen typischen Auslöser sexuelle Gewalt an.

Psychologische und psychiatrische Aspekte

90% der Täter sexuellen Missbrauchs sind Männer und die überwiegende Zahl der Opfer sind Mädchen. In Deutschland sollen ca. 10% der Bevölkerung in ihrer Kindheit und Jugend sexuellen Missbrauch erlebt haben. (Frommberger/Menne 2018) Eine andere Studie kommt zu einem Anteil von 13,9%, davon 2,3% in schweren Formen. (Liebhardt et al. 2018) Wiederandere gehen davon aus, dass in Deutschland jedes 8. Kind (bis 14 Jahre) und jeder 4. Erwachsene irgendwann im Laufe seines Lebens von sexueller Gewalt betroffen war.

Wenn Traumata mindestens 4 Wochen andauern, wird von „Posttraumatischer Belastungsstörung“ (künftig „PTBS“) gesprochen. Frommberger und Menne berichten von Flashbacks des Traumas, Vermeidungsverhalten mit emotionaler Abstumpfung, erhöhter Erregung mit Schlafstörungen, Konzentrationsschwierigkeiten, Schreckhaftigkeit und traumabezogenen Erinnerungslücken als typischen
Symptomen. Bei Flashbacks werden häufig nur Bruchstücke erinnert und lang Zurückliegendes wird wie gerade erlebt empfunden. In gravierenden Fällen liegt eine „komplexe PTBS“ vor mit chronisch selbstverletzendem Verhalten, verzerrter Selbstwahrnehmung, emotionaler Instabilität, Misstrauen und Vereinsamung bis hin zu chronischer Suizidalität.

Missbrauchsopfer tendieren bei der Beschreibung ihrer schlimmen Erlebnisse zur Untertreibung. Sie versuchen häufig, perfekt zu sein, und glauben, dass ihnen bei Fehlern und Sünden weder eine gelingende Beziehung zu Gott noch zu Menschen zustehe.

Sexueller Missbrauch durch eine Bezugsperson in einer Autoritätsposition verletzt nicht nur Intimbereiche, sondern bricht auch ein fundamentales Vertrauensverhältnis, was regelmäßig zu starken Ambivalenzkonflikten (als Konflikten zwischen Annäherung und Vermeidung) führt. (Liebhardt et al., 2018) Die Empfindungen einem Täter gegenüber sind häufig doppeldeutig, da er einerseits gehasst und gefürchtet, andererseits aber auch geliebt, gebraucht oder bewundert wird.

Dissoziationen im Gespräch mit Begleiteten können sich an solchen Äußerungen zeigen: „Ich bin nicht richtig da, spüre mich nicht, fühle mich wie in Watte gepackt oder sehe mich wie durch einen Schleier.“ Äußere Anzeichen wären körperliche Erstarrung, in sich versunken sein, stark verlangsamte Reaktionen oder häufigeres den Faden verlieren.

Hier raten Frommberger / Menne zu Schritten, die in das Hier und Jetzt zurückführen: Betroffene könnten die körperliche Position verändern oder den Raum verlassen. Begleiter könnten zu einem völlig anderen Thema wechseln, lauter sprechen, in die Hände klatschen oder darauf hinweisen, dass es sich nur um Erinnerungen handelt und hier Sicherheit besteht.

Sollten solche Reaktionen öfters auftreten, wären sie ein Hinweis darauf, dass eine professionelle psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung erforderlich erscheint.

Grundsätze der Geistlichen Begleitung sexuell Missbrauchter

Trotz Empfehlung verweigern laut Frommberger und Menne die meisten Traumatisierten eine Unterstützung von Ärzten oder Psychologen. Sie scheinen eher bereit zu sein, sich Seelsorgern oder Geistlichen Begleitern anzuvertrauen. Ihr Glaube kann zu einem Resilienzfaktor werden. Bestenfalls gelingt langfristig eine „posttraumatische Reifung“, bei der das Trauma als Teil des eigenen Lebens akzeptiert wird und ihm aufgrund späterer auch positiver Konsequenzen sogar in gewissem Umfang gute Seiten abgewonnen werden können. Dies könnte dann die persönliche Religiosität verstärken.

Bei Missbrauch durch kirchliche Amtsträger brechen viele Betroffene mit der Kirche. Auch hier kann der Glaube zur Ressource werden. Häufig wird er aber in Mitleidenschaft gezogen worden sein. Eine GB über mehrere Jahre hinweg kann helfen, den Glauben auf ein neues gewandeltes Fundament zu stellen.

GB darf stattfinden, auch wenn die Begleiterin zu Recht eine zusätzliche traumatologische Unterstützung angeraten und sie der Begleitete dennoch abgelehnt hatte. Allerdings darf sich die Begleiterin nicht in die Rolle der Psychiaterin drängen lassen und sollte es vermeiden, das Trauma und spätere Flashbacks auslösende Ereignisse näher anzuschauen. Der Horizont der Begleitung muss das seelsorgerische „Hier und Jetzt“ und die Hoffnung auf eine hellere Zukunft sein. Sie setzt sich also nur mit den Folgen des Traumas, nicht dagegen mit dem Trauma selbst auseinander. Letzteres bleibt Fachleuten überlassen.

Allerdings sollte auf professioneller Behandlung bestanden werden, wenn der oder die Begleitete nachhaltig unter Alkohol- oder sonstigem Drogeneinfluss steht. Im Falle psychotischer Wahnvorstellungen müssen die GB abgebrochen werden und ein Psychiater oder eine Psychiaterin die Unterstützung übernehmen. (Frommberger/Menne, 2018)

Bei akuter Suizidalität wäre die Betroffene zur Klinik zu begleiten mit der Versicherung, sie auch weiterhin zu unterstützen.

Namen und Adressen von TraumatherapeutInnen finden sich auf: „https:// datenbank.degpt.de/website/“. Interessant kann bei sexuellem Missbrauch von Minderjährigen die Seite des unabhängigen Beauftragten der Bundesregierung für Fragen sexuellen Kindermissbrauchs sein, die z. B. eine Online Schulung
zu diesem Thema bietet (https://beauftragter-missbrauch.de/). Verschiedenste Hilfsangebote und Kontakte in diesem Bereich sind zudem verlinkt unter: „https://www.hilfe-portal-missbrauch.de/startseite“.

Die folgenden Merkmale einer jeden gelungenen GB erscheinen hier besonders wichtig: Ressourcenorientierung / Förderung des Empfindens eigener Würde und Selbständigkeit / keine Abwertung, wenn die Begleitete kein erfolgreiches Mitglied der Gesellschaft mehr ist / glaubwürdige Distanzierung vom Täter und seiner Institution / Authentizität und Ehrlichkeit / verlässliche zeitliche Rahmensetzung / Sorge für eigene Supervision / dosierter Einsatz von Humor mit seiner befreienden Wirkung / Stärken wie auch Schwächen der Begleiteten im Blick haben und klare Zurückweisung maßloser Anforderungen durch den Missbrauchten.

Spontane Umarmungen der Begleiteten und auch andere Formen – sonst unproblematisch akzeptierter – körperlicher Nähe sind unbedingt zu vermeiden. Stattdessen dürfen Empathie oder auch Entsetzen verbal klar ausgedrückt werden.

Der Begleiter sollte in einer plötzlichen ausgeprägten Krise des Begleiteten möglichst auch außerhalb der regelmäßigen Termine erreichbar sein. Allerdings muss er dabei auf seine Gesundheit und die weiterhin notwendige Abgrenzung achten.

Es kann Jahre dauern, bis der Begleitete zum Begleiter Vertrauen fasst. Es ist zu erwarten, dass der Begleiter verschiedenen Vertrauenswürdigkeitstests unterzogen wird. Er braucht große Geduld, da es immer wieder zu Stagnation und Rückschritten kommen dürfte.

Die Verarbeitung von Traumata verläuft häufig nicht linear, sondern eher spiralförmig. (Jungers, 2017)
Die Symptome verschlimmern sich meist, wenn Betroffene die belastenden Ereignisse entweder zu verdrängen versuchen oder darüber nachgrübeln, wie sie die Geschehnisse hätten verhindern können. Es hilft, solche Erinnerungen stattdessen kommen und gehen zu lassen. Auch die damit verbundenen Gefühle von Selbstanklage, Wut, Trauer oder Hass sollten nach Möglichkeit langfristig als Teil der eigenen Biographie angenommen werden. Dies dürfte aber erst nach vielen Jahren möglich werden (wenn überhaupt!) und ist nicht von der Begleiterin einzufordern.

Der Begleiter kann vorsichtig Fragen zu schädlichen Denkmustern aufwerfen, nach denen z. B. laut Missbrauchtem alle Menschen oder alle Männer schlecht sind.

Die Betroffenen sollten in ihrer Selbstfürsorge in allen Bereichen (Familie, Arbeit, Schlaf, Entspannung, Sport, Finanzen) gestärkt werden, um erneut ein Gefühl von Sicherheit zu erreichen und auszubauen. Vor allem sind Autonomie und der Aufbau eines sozialen Netzes zu fördern, wobei schon kleine Schritte ein großer Erfolg sein können und entsprechend gewürdigt werden sollten.

Betroffene schreiben sich teilweise eigene Schuld zu, weil sie sich dann als aktiv Beteiligte mit Handlungsfähigkeit statt als willenlose Opfer mit Ohnmacht betrachten können. (Jungers 2017) Der Täter oder auch Vertreter der Kirche können ihnen aber auch eingeredet haben, dies alles gewollt zu haben und Schuld zu tragen (Stichwort „Verführung“). Diese Tendenz wird durch das regelmäßig stark herabgesetzte
Selbstwertgefühl des Missbrauchten noch bestärkt. In Fällen, wo tatsächlich keine Schuld vorliegt, dürfte das Sakrament der Buße das Risiko bergen, das schiefe Selbstbild von eigener Schuld zu verfestigen, so dass die Beichte in solchen Fällen wenig förderlich sein dürfte.

Wichtig ist, dass Begleitete das Recht zu Wut und Verbitterung haben und von ihnen nicht unter Hinweis auf das „Vater unser“ („wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“) Vergebung verlangt werden darf. Der Vergebungswunsch wie auch die Rede vom „lieben Gott“ kommen bei Missbrauchsopfern häufig so an, als würde das Mitgefühl dem Täter und nicht dem Opfer gelten. Ebenso sind hier übliche christliche Vorstellungen fehl am Platze, dass Vater und Mutter zu ehren seien, obwohl sie Täter oder Mitwissende waren. Das Opfer hat jedes Recht, den Tätern nicht zu verzeihen, zumal die wenigsten Täter überhaupt bereuen und solche Vergebung erbitten. Es kann vielmehr zum Selbstschutz notwendig werden, den Kontakt zu den missbrauchsleugnenden Eltern abzubrechen.

Am Ende eines langen spirituellen Weges könnte es dem Opfer jedoch helfen, bewusst auf Vergeltung oder Einforderung von Reue zu verzichten und stattdessen das Ausüben von Gerechtigkeit Gott zu überlassen. Der noch weitergehende Schritt einer Vergebung wird vielleicht nie möglich werden und wäre gegenüber einem nicht reuigen Täter auch wenig angebracht. Der oder die Missbrauchte kön-
nen sich aber nach vielen Jahren vielleicht selbst verzeihen und dadurch Erleichterung, Versöhnung mit der eigenen Lebensgeschichte und letztlich auch Heilung erreichen.

Kerstner, Haslbeck und Buschmann liefern viele nützliche Bibelstellen, die sich zur Stärkung der Opfer anbieten. So nahm sich Jesus stets der Ausgegrenzten an. Er heilt in Lk 8, 42-48 eine Frau von ihrer Blutflüssigkeit. Auch diese Erkrankung war ein gesellschaftliches Tabu und führte zur umfassenden Isolation. Mt 18, 1-10 zeigt, dass gerade ein Kind geschätzt und vor „Ärgernissen“ geschützt werden
muss. Selbst wenn eine Mutter ihr Kind vergessen sollte, Gott vergisst es nicht (Jes 49, 14-18). Außerdem hat Jesus vorgemacht, dass es möglich ist, sich eine neue Wahlfamilie zu suchen (Mt 12, 46-50). 2 Sam 13, 21-22 zeigt, dass Zorn und Hass angemessene Reaktionen auf eine Vergewaltigung sind.

Fehlervermeidung bei der Geistlichen Begleitung Missbrauchter

Es ist wichtig, Missbrauchte nicht nur in einer Opferrolle zu sehen. Sie haben ihre sonstigen Fähigkeiten, Kompetenzen und Ressourcen behalten und an diese muss angeknüpft werden.

Es kann passieren, dass Begleitete Täter-Opfer-Reinszenierungen vornehmen, wobei sie Anteile des Täters wie auch des Opfers zeigen können. Begleitete wie auch Begleiter können dabei jeweils in die Rolle des Opfers oder des Täters hineinrutschen. Es ist wichtig, sich hier verschärft drohender Übertragungen wie auch Gegenübertragungen bewusst zu sein.

Missbrauchten ist vom Täter antrainiert worden, das zu sagen, was ein Gegenüber mutmaßlich hören möchte. Die Begleiterin sollte aufmerksam sein, ob solche Verhaltensmuster auch ihr gegenüber angewandt werden.

Geistliche Begleiter decken nicht aktiv auf und deuten Sachverhalte nicht eigenmächtig als „Missbrauch“, auch wenn die objektiven Umstände ihnen eindeutig erscheinen. Der Selbsteinschätzung der Betroffenen darf nicht vorgegriffen werden. Aufgegriffen werden nur Empfindungen der Missbrauchten, die diese von sich aus im Hier und Jetzt ansprechen oder erkennen lassen. Sobald die Missbrauchte jedoch innerlich bereit ist und Zustimmung signalisiert, dürfen ihr deutliche Worte zur Beschreibung des Tatgeschehens angeboten werden (wie Vergewaltigung, Missbrauch und Gewalt).

In Fällen schweren Missbrauchs ist mit besonders vielen Widerständen der Begleiteten und scheinbaren Rückschritten zu rechnen. Sie sollten als positive Signale für Wachstumschancen interpretiert und aufgegriffen werden

Generell wird das Gottesbild bei Missbrauch erschüttert. Betroffene fragen sich, wieso Gott dies nicht verhindert und sie im Stich gelassen hat. Sie möchten wissen, welchen Sinn dieser Teil ihres Lebens hatte. Auf die Theodizee-Frage kann es keine befriedigende Antwort geben. Es hilft aber, den Blick von dem „warum“ des Leids auf das „wozu“ des Leids zu richten. Ein Leben ohne Leid wird es nicht geben können. Seine Erfahrung hilft, sich in andere hineinzuversetzen und eigene Mitmenschlichkeit, Geduld und Widerstandsfähigkeit zu entwickeln. Eine solche Sichtweise darf aber nicht als billig wirkende Vertröstung eingesetzt werden. Es kann Jahre brauchen, bis schlimme Erfahrungen als Teil des eigenen Lebens akzeptiert und auch in ihren langfristig lebensermöglichenden Wirkungen gesehen werden können.

Gott kann nur zur Ressource werden, wenn er mit Zuwendung und Unterstützung assoziiert wird. Jesu Wirken zeigt, dass er immer für besonders Benachteiligte, Kranke und Verletzte eingetreten ist und sich selbst größtem Leiden ausgesetzt hat. Er ist auf der Seite des Opfers und nicht des Täters. Dieser liebende Gott muss in den Vordergrund gerückt werden, um falsche Vorstellungen von einem Gott, der das Opfer bestrafen wollte, zurechtzurücken. Für einen solchen Gott ist jeder Mensch kostbar, und er begleitet ihn auch auf den ganz schweren Wegen, da seine Menschenwürde unantastbar ist. (Jungers, 2017) Ein derartiger Gott verträgt es auch, angeklagt und nach dem Sinn des Leids kritisch befragt zu werden. Es ist Aufgabe des Begleiters, die tastende Suche nach einem gütigen und gerechten Gott zu begleiten und stellvertretend für den Verzweifelnden zu hoffen.

Falls der Täter männlich war, wird es häufig unmöglich sein, sich Gott weiterhin als „Vater“ geschweige denn als „liebenden Vater“ vorzustellen. Hier können weibliche oder nicht-personale Gottesbilder (wie Licht, Quelle, Burg oder schützendes Schild) hilfreich sein.

Es ist einzelfallabhängig, ob und inwieweit Gebet oder spirituelle Übungen zu einer Stütze und Ressource oder ganz im Gegenteil zu einem erneuten Trigger der traumatischen Erlebnisse werden.

Die Stille beim (kontemplativen) Gebet oder auch bei ignatianischen Exerzitien könnte die psychische Instabilität vertiefen bis hin zu suizidalen Krisen (Jungers, 2017). Bei der „Unterscheidung der Geister“ nach Ignatius von Loyola könnten zudem Trost und Trostlosigkeit längere Zeit nicht mehr unterscheidbar sein.

Zwanghaft ausgeübte repetitive Gebetsformen verstärken die Probleme Missbrauchter. Andererseits kann die vorgegebene Struktur bei Rosenkranzgebet, Jesusgebet oder Stundenliturgie helfen, im Hier und Jetzt zu bleiben. Verschiedene spirituelle Wege könnten testweise in verkürzter Form angegangen werden, um ihre momentan positive oder negative Wirkung zu erproben: So könnte z. B. eine fünfminütige Meditation unter Anleitung versucht werden.

Ausblick

Selbst kirchliche Opfer schweren Missbrauchs wünschen sich häufig GB durch Mitglieder der Kirche, weil zwar ihr Vertrauen in die Amtskirche nachhaltig erschüttert wurde, ihnen aber dennoch ihr Glaube und ihre persönliche Gottesbeziehung wichtig bleiben. Die Selbstverständlichkeit des früheren Gottesbildes ist verloren gegangen. Angesichts der ernüchternden Missbrauchserfahrungen entwickelt sich daraus über die nächsten Jahre bestenfalls ein reiferer Glaube eines innerlich auch durch die Beschwernisse gereiften Menschen. Dazu können viel Geduld und Fingerspitzengefühl des Begleiters beitragen, der die zahlreichen „Aufs“ und „Abs“ der Begleitungsbeziehung aushalten muss.

Die Dunkelziffer sexuellen und spirituellen Missbrauches innerhalb der Kirche dürfte hoch sein. Insbesondere das klösterliche Umfeld ist aufgrund der weitgehenden Autonomie von Orden päpstlichen Rechts noch kaum aufgearbeitet worden, obwohl dies zwecks Prävention wie auch Unterstützung der Opfer wesentlich wäre. Zudem schadet es der Kirche, wenn in den nächsten Jahrzehnten das Versagen von Amtsträgern tröpfchenweise als Dauerthema öffentlich diskutiert wird. Es ist im Interesse von Opfern, Begleitern wie kirchlichen Amtsträgern, dass die Kirche aktiv, schnell und mit Konsequenz das eigene Versagen mit seinen strukturellen Ursachen umfassend aufarbeitet – in katholischen Gemeinden, Klöstern,
Verbänden etc. / bei Taten gegenüber Kindern und Jugendlichen wie auch gegenüber Erwachsenen.

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Literaturverzeichnis

U. Frommberger/B. Menne, Traumatisierung und Missbrauch, in: J. Sautermeister/T. Skuban (Hg.), Handbuch psychiatrisches Grundwissen für die Seelsorge, Freiburg (Herder) 2018.

M. Jungers, Wege ans Licht, Wie Geistliche Begleitung traumatisierter Menschen gelingen kann, Reihe zeitzeichen, Band 41, Ostfildern (Matthias Grünewald Verlag) 2017.

E. Kerstner/B. Haslbeck/A. Buschmann, Damit der Boden wieder trägt, Seelsorge nach sexuellem Missbrauch, Ostfildern (Schwabenverlag) 2016.

H. Liebhardt/A. Jud/M. Rassenhofer/J.M. Fegert, Gewalterfahrungen im Kindesund Jugendalter, in:
J. Sautermeister/T. Skuban (Hg.), Handbuch psychiatrisches Grundwissen für die Seelsorge, Freiburg (Herder) 2018.

D. Wagner, Spiritueller Missbrauch in der katholischen Kirche, Freiburg 2019

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