Krisenphänomene prägen den Glauben seit über fünfzig Jahren. Das Neue jedoch stößt nur langsam an die Oberfläche durch. Dennoch lassen sich heute einige wesentliche Elemente des veränderten Paradigmas beschreiben: Geisterfahrung und gelebte Gemeinschaft. Beginnt damit die synodale Zeit der Kirche?

Eine neue Gestalt des Glaubens und der Kirche

Text: Peter Hundertmark – Photo: dp792/pixabay.com

Nicht nur die Kirche, auch der Glaube verändert sich ständig: fides semper reformanda. Die Offenbarung geht weiter. Mal geschieht die Veränderung kleinschrittig, durch den Einfluss von einzelnen Theolog/innen und geistlichen Lehrer/innen, mal innerlich erschüttert durch die Begegnung mit anderen Religionen und Kulturen. Immer wieder aber kommt es auch zu großen Sprüngen. Eine ganz neue Weise Gott zu suchen, ihn zu erfahren und die Rückbindung an ihn zu leben, setzt sich durch. Ein neues Muster ordnet die bestehenden Elemente des Glaubens zu einem neuen Mosaik. Das Kaleidoskop der Kirche zeigt ein neues Bild. Die seit Jahrzehnten anhaltende Krise des Glaubens und der Kirche spricht dafür, dass wieder so ein Sprung anstehen könnte bzw. sich vielleicht bereits vollzieht.

Zu solche paradigmatischen Sprüngen kam es historisch gesehen in Zeiten großer gesellschaftlicher Umwälzungen, nicht selten ausgelöst durch kollektive Traumatisierungen. Vielleicht wären die Christ/innen eine jüdische Splittergruppe geblieben, wäre nicht der Tempel in Jerusalem zerstört und die bisherige Form jüdischer Religionsausübung vernichtet worden. Zuvor hatten bereits die Sklavenzeit in Ägypten und das Exil in Babylon ähnlich große Sprünge und Reifungsprozesse ausgelöst. Der Zusammenbruch der römischen Welt und dann der hochmittelalterlich-romanischen Vorstellung vom geordneten Kosmos sind für den Gottglauben in Europa weitere wichtige Achsenzeiten. Die vorletzte große Anpassung im 16. Jahrhundert brachte die Vorstellung, dass jede und jeder Einzelne durch seine/ihre persönliche Nachfolge Jesu mit Konsequenzen für die gesamte Lebensführung dazu beitragen muss, damit er oder sie einen „gnädigen Gott“ findet. Die damit einhergehende Individualisierung und Personalisierung prägen bis heute Gesellschaft und Glauben.

Zwei Weltkriege, Shoah, Völkermorde, das Ende der europäischen Dominanz, Flucht und Vertreibung, neokapitalistische Ausbeutung, Säkularisierung und die große Beschleunigung seit Beginn der siebziger Jahre haben nun wieder schwere kollektive Traumata hinterlassen. Nichts spricht dafür, dass der Glaube unverändert oder nur mit minimalen Anpassungen durch solche Zeiten gehen könnte. Vielmehr legt die  Erfahrung nahe, dass es wieder zu einem Sprung in der Gottesvorstellung und in der Praxis der Gottsuche kommen müsste. Wahrscheinlich kann die Kritik der neoscholastischen Theologie durch die „nouvelle théologie“ Mitte des 20. Jahrhunderts rückblickend als Prophetie verstanden werden, die den nächsten Paradigmenwechsel einleitete.

Erfahrung der heiligen Geistkraft Gottes

Welches Muster aber könnte es sein, das den Glauben nach den Katastrophen des 20. Jahrhunderts neu organisiert? Tritt man weit genug vom religiös-kirchlichen Alltagsgeschehen zurück, um das große Bild in Augenschein nehmen zu können, so bieten sich zwei Entwicklungen der letzten fünfzig Jahre an, die unmittelbar ineinander greifen. Die eine Neuerung ist, dass immer mehr Menschen Erfahrungen der göttlichen Geistkraft als Mitte ihres Glaubens entdecken. Charismatische Aufbrüche, pfingstliche Kirchen, Erfahrungen von Geisttaufe, Spiritualität als Mega-Trend, eine Vielzahl pneumatologischer Theologieentwürfe, selbst das Bedürfnis eine Epiklese in die Eucharistiefeier einzufügen, aber auch nichtkirchlich-esoterische Konzepte kosmischer Lichtkraft und universeller Energie … deuten in diese Richtung.

Der Geist Gottes löst dabei jedoch keineswegs die Christusmystik und die Jüngerschaft Jesu als gläubigen Lebensentwurf ab, wie es zum Beispiel im Hochmittelalter Joachim von Fiore vorgeschlagen hat. Denn die heilige Geistkraft ist der Geist Jesu. Sie ist eine Wirklichkeit des dreifaltigen Gottes, der stets mit sich einig ist. Sie setzt das Werk Jesu fort, inkulturiert den Christusglauben in je neue gesellschaftliche und kulturelle Kontexte, inkarniert das Gottgeschehen zu jeder Zeit in die Welt hinein, schafft dem Wirken und der Gegenwart Gottes so aktuelle Gestalt und Relevanz. Mit dem neuen Paradigma wird etwas – Geisterfahrung und Geisttheologie, das bisher wichtig, aber doch irgendwie in der zweiten Reihe der Frömmigkeit und Theologie stand, nach vorne geholt. Der theologische Sprung in die Geisterfahrung und Geisttheologie als neues Paradigma integriert vielmehr die vertrauten Bestandteile des christlichen Gottesglaubens nur in veränderter, allerdings grundlegend veränderter Weise.

Gemeinschaftliche Repräsentation Christi

Eine neu gedachte und erlebte Gestalt und menschliche Repräsentanz der Christusgegenwart ist möglicherweise das zweite Element des neuen Glaubensparadigmas. In der neoscholastischen Theologie wurde Gottes Einheit und seine Herrschaft vom Himmel her priorisiert. Entsprechend wurde seine Vergegenwärtigung an das Amt und die Person des Priesters gebunden gesehen. Im Priester, so die klassische Amtstheologie seit dem Trienter Konzil des 16. Jahrhunderts tritt Christus der Kirche als ihr Haupt und damit als Herrschaft gegenüber. Die Weihe wurde entsprechend als das kirchenbegründende Sakrament verstanden, die Kirche schlüssig in eine lehrende und eine hörende Kirche getrennt.

Ein theologisches Paradigma, das bei Geisttheologie und Erleben göttlicher Geistkraft ansetzt, bewirkt unmittelbar eine trinitarischen Wende der Gottesvorstellung und eine neue Verortung Gottes in statt gegenüber der Welt. Ist der Geist Gottes doch allen Glaubenden gegeben. Als Lebensatem durchweht er die ganze Schöpfung. Die heilige Geistkraft ist es, die Inkarnation und Wandlung bewirkt. Ausgehend von der Geisterfahrung wird Gott als lebendiges Geschehen inniger Gemeinschaft verstanden: bewegt, engagiert, bei den Menschen, im Himmel, auf der Erde und unter der Erde zugleich. Gott kann also nicht länger als einfaches Gegenüber zur Welt und zu den Menschen verstanden werden. Gott ist das Wort, das an die Glaubenden gerichtet ist, und ist die Antwort, mit der sich die Glaubenden ihm zuwenden. Wie in der Atmung der Luftstrom zwischen Umwelt und Lunge pulsiert, fließt Gottes Gegenwart zwischen Mensch und Himmel, zwischen Immanenz und Transzendenz hin und her.

Damit verändert sich unweigerlich die Gestalt der Vergegenwärtigung Gottes unter den Menschen. Die trinitarische Taufformel legt dafür die theologische Basis. Die Getauften werden Kinder Gottes, werden Miterben Christi, die alle an seinem dreifachen Amt als König, Priester und Prophet Anteil haben. Sie alle werden Trägerinnen und Träger des Geistes, griechisch „pneumatikoi“, auf Deutsch „Geistliche“. Die heilige Geistkraft verbindet sich mit ihrem Leben und verbindet sie im gleichen Augenblick mit dem Geheimnis der Trinität. Alle Christinnen und Christen sind aus der Geistkraft wiedergeboren zum neuen Leben in Christus zur Ehre des Vaters. Das in der Taufe gründende gemeinsame Priestertum als Repräsentanz Christi übersetzt diese Erfahrung in Theologie und kirchliche Wirklichkeit. Die Taufe wird nun als das kirchenbegründende Sakrament gesehen.

Die in sich einige, gemeinschaftliche Wirklichkeit des dreifaltigen Gottes ist das Urbild, dessen innerweltliches Ebenbild das gemeinsame Priestertum des pilgernden Gottesvolk ist. Die Glaubenden sind zusammen, als Ganzes, die Vergegenwärtigung Christi in der Zeit. Sie sind sein kommunitärer, gemeinschaftlicher Leib. Das Bildwort vom Leib Christi, das bereits Paulus in den Mittelpunkt seines Kirchenbildes stellt, beschreibt aber mehr als eine Masse von Individuen. Der Leib Christi ist ein Organismus, eine lebendige Wirklichkeit, ein komplexes Zusammenwirken von Milliarden von Gliedern. Die heilige Geistkraft ist sein Atem. 

Gelebte Gemeinschaft im Glauben

Auf der Erfahrungsebene, denn dieser Leib aus Milliarden Geistträgerinnen und Geistträgern ist eine Wirklichkeit die unsere menschliche Anschauung übersteigt, entspricht dieser Wirklichkeit „holographisch“ – das Ganze immer in jedem Fragment – die konkret gelebte und erfahrene Glaubensgemeinschaft vor Ort. Aus der Perspektive eines theologischen Paradigmenwechsels wenig überraschend durchzieht auch die Suche nach gelebter Gemeinschaft das Leben der Kirche in den letzten fünfzig Jahren. Pfarrfamilien, Basisgemeinden, Kleine Christliche Gemeinschaften, Fresh Expressions of Church, Kirchliche Bewegungen, Haus- und Bibelkreise, die Idee der Hauskirche, christlich geprägte Mehrgenerationenwohnprojekte, Communio-Theologie… sie alle sind gelebter Ausdruck dieses neuen Paradigma des Glaubens, das auf die Traumata des 20. Jahrhunderts antwortet.

Dabei lässt sich eine Enttäuschung nicht übersehen. Viele Ansätze, Gemeinschaften im Glauben als Ausdruck der Geistbegabung aller Getauften zu bilden, blieben über weite Strecken nachgeordnete Phänomene, die auf die amtlich-klerikale Basisstruktur der Kirche aufsattelten, diese aber nicht veränderten. Die Christus-Repräsentanz blieb scheinbar an das Amt gebunden. Die kirchenverändernde theologische Relevanz der Gemeinschaften wurde nicht konsequent umgesetzt. Ihre Bedeutung wurde pastoraltheologisch auf die gegenseitige geistliche Unterstützung begrenzt und nicht amts- und sakramententheologisch zu Ende gedacht.  

Aber auch in ihrem kommunitären Leben bleiben viele Ansätze gelebter Gemeinschaft hinter den Möglichkeiten zurück. Glaube, geistliche Erfahrung und spirituelle Reifung bleiben oft – ganz in der Tradition, die auf die Krise des 16. Jahrhunderts antwortete – an die Einzelperson gebunden. Die Gemeinschaft ist dann „nur“ eine Art Biotop, in dem die eigene Bindung an Gott gelebt werden kann –  ein Schutz- und nicht selten auch ein Rückzugsraum gegen die massiven Anfragen der Moderne. Nicht wenige der Gemeinschaften haben zudem in sich die Spaltung in lehrende und hörende Kirche reproduziert, und bleiben damit geistlich auf einem Stand vor der geisttheologischen Wende, die die göttliche Befähigung aller Getauften durch die heilige Geistkraft in den Mittelpunkt rückt.

Gruppen als geistlicher Organismus

Weiterentwickelte Tauf- und Geisttheologie als neues Paradigma kirchentheologischer Reflexion ermöglichen es, einen Schritt weiter zu gehen. Die Glaubensgruppe selbst wird dabei zum Agenten des geistlichen Lebens und der Gottsuche. Durch das Gruppengeschehen, durch Glaubensgespräch und gelebte Solidarität, entsteht ein geistlicher Organismus, eine „korporative“ Person als Ausdruck und Verwirklichung des einen kommunitären Leibes Christi. Diese korporative Person geht gemeinschaftlich den Weg der Nachfolge Jesu. Dieser gemeinsame Weg wird sekundär, aber deshalb nicht weniger notwendig – die Errungenschaften der Krise des 16. Jahrhunderts sollen keineswegs zurückgenommen werden, durch die persönliche geistliche Vertiefung und Reifung der Gruppenmitglieder gestützt.

Die korporative geistliche Person – die sichtbare und lokal erfahrbare Vergegenwärtigung des Leibes Christi – existiert also in einer bifokalen Struktur, getragen von persönlichen Gottsuche der Einzelnen und dem Glaubensgespräch und der Solidarität in der Gruppe. Gott ist durch seine heilige Geistkraft in beiden Vollzügen gleichermaßen gegenwärtig und am Werk. Die leitende Dynamik wird dabei im 21. Jahrhundert jedoch vom Einzelnen zur Gemeinschaft verschoben. Die korporative Person als gemeinsame Wirklichkeit folgt Jesus nach, entwickelt in sich eine sakramentale Struktur als Zeichen und Werkzeug des Wirkens Gottes und wird gemeinsam zur Zeugin der Auferstehung und der Neuschöpfung. Als „holographisch“-sakramentale Vergegenwärtigung wird jede Gruppe und Gemeinschaft, die den Glauben miteinander teilt und Solidarität lebt, zu einer authentischen Christus-Repräsentation. Sie ergänzt die Repräsentation Christi durch das Amt und bindet sie in eine neue, bifokale, synodal-dialogische Kirchengestalt ein.  

Geistliche Elemente der synodalen Kirche

Die Erfahrung der allen Getauften gegebenen Geistkraft Gottes, eine trinitarische Wende der Gotteslehre, die Taufe als kirchenbegründendes Sakrament, das gemeinsame Priestertum aller getauften Frauen und Männer als ein Brennpunkt einer bifokalen Kirchengestalt, ein vertieftes Verständnis der konkreten Glaubensgemeinschaften als Repräsentation Christi in die Kirche und in die Welt, das Erleben, dass Gruppen als korporative Person gemeinsam den Weg der Nachfolge Jesu gehen… sie beschreiben die Wirklichkeit der beginnenden synodalen Kirche.

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