Für das französische „emprise“ gibt es keine einfache deutsche Übersetzung. Gemeint ist ein System manipulativer Dominanz, Ausbeutung und Gewalt. „Emprise“ ist jedoch die entscheidende Brille, um geistlichen Missbrauch durchschauen zu können. Zugleich erklärt „emprise“, warum Erwachsene nicht einfach flüchten können.

Emprise

Text: Peter Hundertmark – Photo: Akiragiulia/pixabay.com

Menschen berichten davon, in geistlichen Gemeinschaften drangsaliert und unterdrückt worden zu sein. Sie erzählen von Ausbeutung und Gedankenumbildung. Sie beschreiben, wie ihr Glaube ganz verdreht und gegen sie selbst gerichtet wurde. Sie beschreiben, wie sie in dieser Situation immer mehr den Zugang zu sich selbst verloren haben, wie sie auch körperlich zu Schaden kamen. Sie beteuern, dass sie sich, solange sie in der Situation waren, nicht dagegen abgrenzen und wehren konnten.  Sie finden sich bis in den Grund ihrer Existenz erschüttert und jeden Selbstvertrauens beraubt. Viele benötigen langewährende therapeutische Begleitung.

Zusammenfassend wird, was sie erleben mussten, als geistlicher Missbrauch bezeichnet. Dieser Missbrauch greift ebenso tief in die Persönlichkeit ein, wie sexualisierte Gewalt – und ist auch vergleichbar zerstörerisch.

Der Schaden, der Menschen zugefügt wird, und die Not in die sie geraten, ist offensichtlich und vielfach dokumentiert. Viel schwieriger hingegen ist es, zu beschreiben, was eigentlich stattgefunden hat. Fast unmöglich ist es, etwas davon juristisch zu fassen. Weder staatliches noch kirchliches Recht geben einfache Kriterien an die Hand.

Viele der einzelnen Vorgänge, die von den Betroffenen beschrieben werden, könnten in sich auch harmlos sein bzw. zu einem normalen geistlichen Gemeinschaftsleben passen. Einige Beispiele:
Bei der zuständigen Mitschwester um ein neues Stück Seife fragen zu müssen, kann ein ganz unkomplizierter Vorgang sein. Es kann aber auch eine massive Demütigung sein.
Jede Noviziatsordnung sieht Zeiten vor, in denen der Außenkontakt reduziert werden soll. In Exerzitien gibt es ähnliche Regeln. Wenn also eine Gemeinschaft verlangt, dass ihre Mitglieder den Kontakt zur Herkunftsfamilie und zu Freunden einschränken, könnte das auch gute, verständliche und sinnvolle Beweggründe haben. Es kann aber auch ein Maßnahme sein, um Menschen von ihren Ressourcen abzuschneiden, damit ihnen nichts anderes übrig bleibt, als sich zu unterwerfen.
Jede Gemeinschaft muss prüfen, ob ein/e Kandidat/in für das Leben in der Gruppierung geeignet ist. Wird jemandem mitgeteilt, dass er nicht berufen ist, kann das ein verunglückter sprachlicher Ausdruck für diese Eignungserwägung sein. Oder eben ein massiv manipulativer Eingriff in die persönliche Gotteserfahrung.

Jede Gruppierung muss ein Innen und ein Außen definieren. Jede Gemeinschaft wird den Schriften und Anweisungen der Gründerpersönlichkeit besondere Beachtung zukommen lassen. Wo immer Menschen eng zusammenleben, entsteht eine Binnensprache. Wer sich als Mitglied einer Gemeinschaft intensiv für seine Mitmenschen einsetzt, darf darauf auch stolz sein. Selbst die Kriterien für totalitäre und missbräuchliche Gruppen, die von Robert Lifton entwickelt wurden, genügen nicht einfach, um eine missbräuchliche Gemeinschaft von gesunden und menschenfreundlichen Formen der Gemeinschaftslebens zu unterscheiden. Die Unterschiede sind graduell.

Was jedoch in missbräuchlichen Gemeinschaften deutlich anders ist, ist das Faktum, dass es unter den Mitgliedern Profiteure der bestehenden Ordnung und Leidtragende gibt. Jede missbräuchliche Gruppierung entwickelt dieses Zwei-Klassen-System. Der Gründer, die Oberen, die Kerngruppe… hat andere Rechte, ist an einige Bestimmungen nicht gebunden, wird anders versorgt, hat Zugang zu Ressourcen, die den „normalen“ Mitgliedern versagt bleiben. Auch das hat oft mit ganz nachvollziehbaren Begründungen begonnen. Beispiel: Die Oberin verfügt über ein Auto, weil sie die Verantwortung für mehrere Kommunitäten hat und diese besuchen muss. Dann aber nutzt sie es ganz selbstverständlich für eigene Urlaubsfahrten, während den Schwestern Urlaubstage außerhalb der Gemeinschaft verwehrt werden. Wieder ist der Unterschied zwischen einer notwendigen besonderen Ausstattung und einer ausbeuterischen Vorteilnahme nur graduell.

Was macht aber diese „eine Umdrehung zu viel“ aus, die normale Vorgänge einer Gemeinschaft von Missbrauch unterscheiden? Von innen, aus der Perspektive der Mitglieder – sowohl der Profiteure wie der Leidtragenden – ist das in der Regel nicht zu benennen. Und auch im Blick von außen, kann alles scheinbar ganz harmlos aussehen. Vorausgesetzt man blickt auf den einzelnen Aspekt.

In der französischen Sprache gibt es den Begriff der „emprise“, der genutzt werden kann, um eine missbräuchliche Gemeinschaft oder auch eine missbräuchliche Beziehung zwischen zwei Menschen zu beschreiben. Der Vorteil ist, dass dieser Begriff einen synthetischen Blick auf das Ganze ermöglicht. Leider lässt er sich nicht in einem Wort ins Deutsche übertragen. „Einflussnahme“, wie ihn Wörterbücher wiedergeben, hat nicht die eindeutig negative Konnotation, die „emprise“ umgibt. Umschreiben lässt sich die Bedeutung mit: ein System manipulativer Dominanz, Ausbeutung und Gewalt.

Dabei wird die umfassende, über einen längeren Zeitraum stabile Dimension des Missbrauchs sichtbar gemacht. Geistlich missbräuchlich ist oft nicht die einzelne Handlung oder Entscheidung. Erst in einem Kontext ständiger manipulativer Dominanz, bekommen sie ihre zerstörerische Wirkung. Der systemische Charakter dieser Dominanz erklärt auch, wieso manipulatives Verhalten eines Oberen von seinen Nachfolgern weitergeführt wird, wieso oft weder Täter noch Opfer ein Schuldempfinden haben und es keine Tateinsicht gibt.

Das Werkzeug der „emprise“ ist die Manipulation. Alles – Sprache, Liturgie, Beziehungen, Seelsorge, ungeschriebene Regeln… – wird in den Dienst der Manipulation gestellt. In einem System der „emprise“ bekommen alle Lebensäußerungen eine Bedeutung und Funktion, die sich von der Bedeutung und Funktion der gleichen Lebensäußerung außerhalb unterscheidet. Alles wird genutzt, um die Dominanz einiger über die anderen aufzubauen und zu festigen. Es entsteht eine Art „Paralleluniversum“. Dabei geht es im Kern um manifeste Ausbeutung: Ausbeutung von Arbeitskraft, Ausbeutung von emotionaler Zuwendung und geistlicher Motivation, Ausbeutung von Sexualität… Auch die finanzielle Ausbeutung ist nicht zu unterschätzen. Es wird zum Beispiel Druck auf die Familien ausgeübt, zu spenden. Die Mitglieder werden gezwungen, persönliches Vermögen auf die Gemeinschaft zu übertragen, ohne dass sie sich im Ernstfall, oder gar beim Verlassen der Gruppierung, auf eine angemessene Versorgung verlassen können.

Im Zugriff der „emprise“, im Binnenraum der Manipulation, ist das alles aber scheinbar schlüssig, gottgewollt, normal und Ausdruck der Nachfolge Jesu. Die Verdrehung der Wirklichkeit, der Abläufe, der Theologie und des geistlichen Lebens ist von innen nicht durchschaubar. „Emprise“ führt dazu, dass auch diejenigen, die unter dem System leiden und schweren Schaden nehmen, es öffentlich und in voller Überzeugung verteidigen. In einer solchen Atmosphäre gibt es keine Distanz. Leben kann man dort nur in wasserdichter Täteridentifikation.

Diese wasserdichte Täteridentifikation muss kontinuierlich aufrecht erhalten werden. Ständig müssen Risse im manipulativen Gesamtsystem zugekittet werden. Die Profiteure investieren deshalb unentwegt in die Sicherung der manipulativen Dominanz. Zugriff auf unabhängige Informationsquellen wird unterbunden, unbeobachtete Gespräche unter den Leidtragenden untersagt, Selbstreflexion, emotionale Reaktionen und körperliche Empfindungen der Opfer in ihrer Bedeutung neutralisiert, Dissidenten bei der kleinsten Abweichung aus der Gemeinschaft entfernt… „Emprise“ ist immer gewaltförmig, selbst dann, wenn nie sichtbare, gar dokumentierbare Gewalt angewandt wird.

Dominanz, Ausbeutung und Gewalt übersetzen sich auf Seiten der Betroffenen in Bindung, Identifikation, Unterwerfung, Unmündigkeit, Abhängigkeit und Selbstzweifel, minimales Selbstvertrauen, Schuldgefühle, Minderwertigkeitsvermutungen. Nicht die Leidtragenden sind für das System der Emprise verantwortlich. Aber in ihnen entstehen unvermeidlich Haltungen und Empfindungen, die das manipulative System stützen und seine Weiterexistenz möglich machen. Es kann sein, dass sie einige der genannten Dispositionen schon mitbrachten. Aber das komplexe Belastungsbild wird erst durch die andauernde Manipulation induziert. Unmündigkeit, Abhängigkeit, Selbstzweifel, Schuldgefühle sind die vergifteten Früchte der manipulativen Dominanz und nicht ihre Quelle. Unter „emprise“ jedoch gibt es nahezu keinen Ausweg aus diesen selbstzerstörerischen Haltungen. Die Leidtragenden müssen sie gegen sich selbst „wasserdicht“ halten, um im Gewaltsystem überleben zu können. Sie müssen die theologische Manipulation übernehmen, die verqueren Regeln gutheißen, ihre eigene Ausbeutung verteidigen. Nicht selten werden dafür regelmäßige Unterwerfungs- und Selbstbezichtigungsriten inszeniert. Wer in einem solchen System beginnt, die Schuld bei anderen, gar bei der Leitung zu suchen, dem wird das Leben zur Hölle gemacht.

Empfunden werden Unterwerfung und Selbstzweifel unter „emprise“, obwohl die Last und das Leid nicht zu leugnen sind, als weniger schlimm und existenzbedrohend als der Ausschluss. Dieser wird nämlich durch die Profiteure manipulativ mit der kompletten Vernichtung verbunden: in die Hölle verdammt, vom Glauben abgefallen, der Teufel ist in den Dissidenten am Werk… Mitglieder, die erwägen die Gemeinschaft zu verlassen, werden ideologisch entmenschlicht, zu Schädlingen herabgewürdigt. Praktisch wird das dann so umgesetzt, dass mit dem Austritt seitens der Gemeinschaft jeglicher Kontakt abgebrochen wird. Die Dissidenten fallen damit oft tatsächlich in ein soziales, finanzielles, emotionales und geistliches Nichts. Die Angst vor diesem Nichts ist in den Betroffenen oft lange Zeit größer als das Leiden an den Folgen der „emprise“. Und so verwenden sie viel Energie darauf, in sich selbst die Zweifel am System zu verdrängen – zum Beispiel in dem sie sich selbst die Schuld am Leid geben, das sie erleben. Eine Gemeinschaft unter „emprise“ hat immer eine aggressiv gewaltförmige und eine depressiv gewaltförmige Dimension. Obwohl beides zur Stabilisierung zusammen wirkt, sind nicht die Leidtragenden die Täter, sondern die Profiteure.

Damit sollte auch klar sein, warum die Unterstellung, man habe die Gemeinschaft doch verlassen können, wenn es da so schrecklich war, vollkommen an der Realität vorbei geht. Menschen unter „emprise“ können sich eben nicht distanzieren. Sie können sich nicht in Sicherheit bringen. Das Erleben ist vergleichbar einer schweren Suchterkrankung. Die Leidtragenden, die länger in einem manipulativen System von Dominanz, Ausbeutung und Gewalt leben, verlieren ihren freien Willen. Sie sind nicht in der Lage, als mündige Erwachsene zu handeln. Entsprechend gibt es auch keinen Konsens und keine Einvernehmlichkeit, auch wenn es formal so inszeniert wird – und auch dann nicht, wenn die Betroffenen selbst die Situation so einschätzen zu müssen glauben.

Aus einem System der „emprise“ gibt es nur drei Auswege. Entweder die missbräuchliche Gemeinschaft beendet die Mitgliedschaft – sei es weil er oder sie bis zum Ende ausgebeutet ist und die Gemeinschaft keinen Nutzen mehr von ihr/ihm hat, sei es weil er/sie möglicherweise nicht mehr in der Lage ist, die Identifikation und Unterwerfung zu 100% aufrecht zu halten. Oder mindestens eine Person – meist braucht es mehrere Helfer/innen – von außen investiert sehr viel Kraft und Zeit, um einer/einem Leidtragenden eine Sicherheit zu geben, die das angedrohte „Nichts“ übersteigt. Der häufigste Fall jedoch ist der körperliche Zusammenbruch der Betroffenen. Manchmal braucht es sogar eine Abfolge von Zusammenbrüchen, Hospitalisierungen, Therapien… bis es den Betroffenen möglich wird, aus der „emprise“ zu flüchten.

Denen lange zuzuhören, denen die Flucht gelungen ist, ist der erste und unverzichtbare Schritt, um geistlichen Missbrauch aufzudecken. Darin braucht es jedoch nach und nach auch den Abstand von der konkreten Erzählung, von den einzelnen Erlebnissen. Erst im Blick auf das Ganze, auf die eingespielten Zusammenhänge, auf die Atmosphäre, die alles durchzieht, wird das System einer manipulativen Dominanz, Ausbeutung und Gewalt sichtbar. Die „emprise“ versteckt sich. Aber einmal ans Licht gezogen, zeigt sie sich als Schlüssel zum Verständnis der Not, die die Betroffen durchleiden mussten.

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