Die Exerzitien des Ignatius von Loyola als Chance für den Epochenübergang der Kirche. Der folgende Text ist zuerst in der Festschrift für Klaus Kießling: „Wagnis Mensch werden. Eine theologisch-praktische Anthropologie.“ Göttingen 2022, Hrsg. von Jakob Mertesacker et. al. veröffentlicht worden.

Freiheit und Mündigkeit

Text: Peter Hundertmark – Photo: Nature-Pix/pixabay.com

Als Ignatius von Loyola in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts sein Exerzitienbuch[1] verfasst, stand er unter dem Eindruck einer hohen Dringlichkeit geistlichen und kirchlichen Neuanfangs. Durch die Arbeit der Humanisten war das menschliche Individuum in den Mittelpunkt der Welterfahrung gerückt. Die Reformation in Deutschland nimmt dieses neue Paradigma auf und propagiert, dass deshalb jede und jeder selbst die Schrift kennen und nach Heiligkeit streben muss. Die römische Kirche selbst ist dringend reformbedürftig. Hinzu kommen die Nachrichten aus den neu entdeckten Erdteilen. Unzähligen Menschen dort, so die damalige Soteriologie, muss das Evangelium verkündet werden, um sie vor der Hölle zu bewahren. Vor diesem geistesgeschichtlichen Hintergrund entwirft Ignatius das Programm seiner Exerzitien.

In heutiger Sprache würden wir sagen, Ignatius stand unter massivem Dauerstress. Es ist ihm klar, dass er als Einzelperson wenig ausrichten wird. Also gilt es Menschen zu finden, die sich mit ihm der Aufgabe stellen, die Zeitenwende geistlich zu gestalten, die Kirche zu reformieren und die Menschen der neuen Welten für Christus zu gewinnen. Die Größe der Aufgabe, jenseits aller vorgespurten Wege erfordert Persönlichkeiten, die überwiegend auf sich alleine gestellt, geistlich leben und handeln können. Dafür entwirft Ignatius seine Exerzitien. Sie sollen rasch und ohne komplizierte äußere Bedingungen durchgeführt, in einer Art ‚Franchise-System‘ von verschiedenen Begleitern genutzt und unterschiedlichen Menschen und Situationen leicht angepasst werden können.  Ignatius  schlägt dabei einen gegenüber den bisherigen Ansätzen geistlicher Übungen radikal verkürzten Einübungsweg vor. Vier intensive Wochen müssen genügen, um ein apostolisches geistliches Leben einzuüben und umfassende spirituelle Mündigkeit zu erreichen. Franz Xaver SJ, der nach alleine Indien und Ostasien aufbricht, um dort das Evangelium zu verkünden, ist die heroische Gestalt, die diesen Ansatz später exemplarisch verkörpert.

Da Ignatius sich selbst fraglos in der Kirche sieht, zugleich aber alle Kraft und eben auch sein Übungsprogramm der Exerzitien für die Reform der Kirche einsetzen will, setzt er die angestrebte geistliche Unabhängigkeit in Spannung mit loyaler Kirchlichkeit. Die Übenden, jede und jeder nach dem eigenen Maß, soll in die Lage versetzt werden, in neuer, selbstverantworteter Weise Kirche zu sein. Auf diese Weise soll die Kirche als Ganze transformiert werden. Ignatius träumt von Menschen, die in der Lage sind, den Glauben selbstverantwortet und in der kirchlichen Gemeinschaft zu leben.


Innere Freiheit

Ignatius beginnt die Übungen mit einem Fokus auf Sünde. Das ist einerseits zeittypisch, kann aber andererseits auch im Kontext seines Interesses gelesen werden. Da es ihm um Mündigkeit und Unabhängigkeit geht, macht es viel Sinn, sich zuerst der Macht der Sünde bewusst zu werden. Es gilt zu durchschauen, wie ubiquitär das Böse alle Wirklichkeit durchzieht. Erlernt wird dadurch eine Grundskepsis gegenüber allen Interessen und Strukturen – von Adam an (EB 51). Ignatius ist sich der Gefährdung jeder Macht bewusst, missbräuchlich eingesetzt zu werden, und lässt deshalb gleich vom ersten Tag an eine Hermeneutik des Verdachts einüben.  

Die gleiche Skepsis wendet er dann auch gegen die Übenden selbst. Auch sie sind für ihr eigenes Leben und in ihrem Umfeld mächtig – und damit in der Versuchung, ihre Macht missbräuchlich und eben nicht in Einklang mit dem Willen Gottes, der Leben, Gerechtigkeit und Frieden für alle will, einzusetzen. Der Blick auf die eigene Verstrickung in die Sünde ergänzt notwendig den Blick auf die sündigen Strukturen und Gegebenheiten der Welt. Damit steigt Ignatius in eine längere Phase der Biographiearbeit ein.

Erstes Ziel ist es, Abhängigkeiten, die durch eigenes Fehlverhalten entstanden sein können, aufzulösen. Es soll ein Neuanfang gesetzt werden. Für seine Reformanliegen werden in der Vision des Ignatius Menschen benötigt, die nicht wegen alter Schuld angreifbar sind, die nicht wegen früherer Fehler unter Druck gesetzt werden können. Die Lebensbeichte macht in diesem Kontext Sinn. Die Lossprechung setzt ja nicht nur Bekenntnis und Reue, sondern auch Wiedergutmachung voraus. Damit werden in der Rechtsauffassung der Zeit mögliche Altlasten endgültig entsorgt und ein effektiver Schlussstrich gezogen.

Im der Phase der Biographiearbeit kommen die Übenden erfahrungsgemäß auch in Kontakt mit eigenen Verletzungen und inneren Nöten. Wieder geht es darum, die dadurch entstandenen Abhängigkeiten zu relativieren und die innere Freiheit zu stärken. Das gleiche Ziel wird für alle kulturellen Prägungen, für Verpflichtungen gegenüber der Herkunftsfamilie, für die Loyalität zu einem Staat angestrebt. Der Einfluss all dieser Kräfte, aller psychologischen Faktoren und inneren Bindungen soll gegenüber dem freien Wirken Gottes mit den Übenden zurückgedrängt werden.Ignatius setzt dabei auf die Unterscheidung der Geister. Die Übenden lernen, mit den eigenen Reaktionsmustern auf die Spur zu kommen, Gefühle in ihrem Einfluss auf den Willen zu beschreiben, die Signale des Körpers zu deuten. Es wird eine Haltung eingeübt, den Automatismus emotional gesteuerter Handlungsimpulse zu unterbrechen.

Dazu sollen die Übenden sich indifferent machen lassen. Indifferenz meint in diesem Kontext die Fähigkeit alle affektiven Impulse wahrzunehmen, aber nur denen zu folgen, die mit dem lebensförderlichen Wollen Gottes übereinstimmen. Natürlich ist eine solche vollkommene Unabhängigkeit nicht wirklich menschenmöglich. Psychologische, sogar neurologische Faktoren begrenzen die Freiheit des Menschen mindestens so unaufhebbar wie gesellschaftliche Normierungen und politisch-ökonomischer Druck. Ignatius aber setzt auf die Kraft einer Vision: Es soll bei jedem Schritt ein klein wenig mehr innere Freiheit angestrebt werden. Entscheidend – so seine Erfahrung – sind Sehnsucht und innere Haltung.

Personalisierte Kriterien

In seinem Basistext ‚Prinzip und Fundament‘ (EB 23)  setzt Ignatius die Überzeugung außer Kraft, dass es für das geistliche Leben Dinge gibt, die grundsätzlich immer und für jeden gut oder schlecht sind. Eine objektive Beurteilung unabhängig von Person und Umständen ist vielleicht im Bereich der Gesetze und der Moral, nicht aber in geistlichen Dingen möglich. Alles kann ein Hindernis für die Freiheit sein und dafür, dass Gott mit diesem Menschen im Sinne des Evangeliums handeln kann und alles kann dafür hilfreich sein.

Dazu kombiniert Ignatius einen Finalsatz und einen Konsekutivsatz. Ziel jeden menschlichen Lebens ist es, Gott zu lieben, ihn zu ehren und ihm zu dienen – oder in heutigeren Worten gesagt: die Beziehung zu Gott in den Mittelpunkt zu stellen, Gott in seiner Entschiedenheit für Menschen und Erde Gott sein zu lassen und an Gottes Selbstsendung und Engagement mitzuwirken. Diese Ausrichtung führt dann zu einem positiven Effekt für den Menschen selbst. Dieser Gewinn kann jedoch nicht auf direktem Weg erreicht werden, ohne in angestrengte Selbstoptimierung abzugleiten. Indem sie sich Gott zuwenden, gewinnen die Übenden persönliche Reife und streben der Verheißung über ihrem Leben nach.

Jede und jeder gerufen, die individuelle Gestalt der Verheißung über dem eigenen Leben zu entdecken. Diese fühlt sich nach gelingendem Leben und glückender Identität an. Im englischsprachigen Raum hat sich dafür der Begriff ‚Name of Grace‘ eingebürgert. ‚Name of Grace‘ meint eine knappe Formulierung, die die Ausrichtung meines Lebens, meine persönliche Berufung, die Verheißung über meinem Leben und meine spezifische Teilhabe an der Sendung Gottes zusammenfasst.

Die Übungen der Exerzitien laden ein, über den persönlichen ‚Name of Grace‘ nachzusinnen. Einmal gefunden, wird er zum personalisierten Kriterium für die Unterscheidung der Geister. Mir dienlich sind die Verhaltensweisen, Einstellungen, Haltungen… die in die gleiche Richtung weisen wie die Verheißung über meinem Leben. Und so werde ich „einzig das ersehen und erwählen, was mich jeweils mehr zu dem Ziele hin fördert, zu dem ich geschaffen bin“. (vgl. EB 23) Auf diese Weise bekommt die Freiheit eine Richtung. Sie weist nicht in eine vollkommen offene, unbestimmte Zukunft. Vielmehr ist jede und jeder eingeladen, immer mehr Freiheit zu gewinnen, um sie zugunsten Gottes, der Menschen und der Erde einzusetzen – und so die gelingende Identität des eigenen Lebens zu gewinnen. Ignatius will Freiheit in Verantwortung.

Dem/der Einzelnen wird von Ignatius zugetraut und zugemutet, selbst diese Freiheit zu gestalten und in allen Entscheidungsfragen das Kriterium des eigenen ‚Name of Grace‘ anzuwenden. Niemand kann, niemand muss, niemand darf mir sagen, was meine Berufung ist und wie ich sie lebe. Niemand darf in meine Gestalt eingreifen, ein Mensch für andere und für den Anderen zu sein. Das schließt qualifiziertes Feed-back zum Beispiel durch eine geistliche Begleiterin oder einen Begleiter nicht aus, setzt aber jede und jeden in die selbstverantwortliche Verfügung über sein beziehungsweise ihr (auch geistliches) Leben.

So zielt diese erste Phase der Exerzitien auf umfassende Selbstbestimmung – in Freiheit, in Verantwortung und in Ausrichtung an Gott, seiner Selbstsendung und seiner Verheißung für mich. Es muss zuerst ein ‚genug‘ dieser Freiheit und Selbstbestimmung erreicht sein, bevor die Übenden mit den weitergehenden geistlichen Übungen bekannt gemacht werden. Die Selbstbestimmung gilt sogar für den nun folgenden Ruf in die Nachfolge Jesu. Erst wenn die Übenden zu der Gewissheit gekommen sind, den Ruf in eine besondere Nachfolge auch ablehnen zu dürfen, und damit dennoch nicht aus der Rechtfertigung und dem Wohlwollen Gottes heraus zu fallen, können sie sich existentiell darauf einlassen.

Erlösung

In dieser ersten Phase der Exerzitien entdecken die Übenden ihre Bestimmung als glückendes Menschsein für andere. Sie erleben sich in Freiheit und Verantwortung gesetzt. Sie können und müssen wählen. Ziel ist es, alle Lebensbereiche in die geistliche Freiheitsdynamik einzubeziehen. Aber es gelingt nicht. Es ist nicht möglich, sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen. Die tatsächliche Entscheidungsfreiheit ist und bleibt durch kulturelle Prägungen, neuronale Gesetzmäßigkeiten, biographische Erfahrungen und die unüberschaubare Komplexität des Lebens begrenzt. Sympathie und Antipathie sind nicht steuerbar. Die ‚ungeordneten Anhänglichkeiten‘ lösen sich nicht auf. Der alte Adam lebt weiter.

Leistungsdenken und zugesprochene Selbstverantwortung führen bei vielen Übenden zum Versuch, das Unmögliche zu erzwingen. Sie investieren sehr ernsthaft in die geistlichen Übungen. Sie bemühen sich, Gottes Führung in ihrer Biographie aufzuspüren. Sie versuchen sich von Sünde fern zu halten. Sie wollen die Ausrichtung auf Gott, die Liebe zu ihm und das Einstimmen in seine Sendung leben und auf alle Lebensbereiche ausweiten. Und scheitern, überfordern sich, laufen in eine Sackgasse und vor die Wand. Übungen und geistliche Erfahrungen kommen zu einem schmerzhaften Stillstand.

In diesem Stillstand, in der Verzweiflung über die eigene Unfähigkeit, Gott zu lieben und seiner Verheißung zu folgen, geschieht Bekehrung. Die Übenden werden sich der eigenen Erlösungsbedürftigkeit gewahr. Ohne Gottes Hilfe geht es nicht weiter, ist das Leben nicht zu gewinnen. Rechtfertigung, Vergebung, Neuausrichtung des Lebens, Zurücklassen von Verletzungen und fremdgesetzten Grenzen liegen nicht in der Verfügung des Menschen. Gnade und menschliches Bemühen müssen unter der Führung des Heiligen Geistes zusammen wirken. Die Übende beginnen in neuer Weise zu glauben.

Oft – und häufig überraschend schnell – schlägt diese Erfahrung der Erlösungsbedürftigkeit um in ein tiefes Erleben, dass die Erlösung schon gewirkt ist. Ganz konkret: Ich bin gerettet, für mich ist Jesus geboren, für mich hat er gelebt, für mich ist er gestorben, für mein Heil. Und Gott wendet sich mir auch heute und hier in Wohlwollen zu. Er holt mich an seinen Tisch, lädt mich in den Kreis seiner Freunde und Freundinnen, öffnet mir den Weg in ein glückendes Leben – obwohl er weiß, wie ich bin und dass ich es nicht schaffe, mich wirklich in der Tiefe zu ändern.

Diese doppelte Erfahrung der Erlösungsbedürftigkeit und der gewirkten Erlösung ermöglicht eine weitere Dimension der Freiheit. Die Übenden werden frei vom Zwang zur Selbsterlösung. Sie lernen, aus dem Drang zur Selbstoptimierung – auch aus der Selbstoptimierung durch geistliche Übungen – auszusteigen. Das Leistungsprinzip, das unserer westlichen Lebensweise zugrunde liegt, wird in seiner Fragwürdigkeit sichtbar. Ziel ist es, die inneren Antreiber in die Schranken zu weisen. Der Zwang, es mir selbst, meinen Eltern, anderen Menschen oder der Gesellschaft zu beweisen, dieser Zwang, der so viele Menschen in die Erschöpfung treibt und sie für manipulierende Ausbeutung anfällig macht, zieht sich ein wenig zurück und öffnet einen Raum der Freiheit. Eine andere Haltung und ein anderes Verhalten sind möglich und können nun eingeübt werden.

Partnerschaft

In diesen Raum der Freiheit platziert Ignatius die nächsten Übungen. Er lädt ein, den Blick von sich selbst und der eigenen Biographie weg zu lenken. Dies geschieht mit dem Ruf in die Nachfolge Jesu (EB 90-99). Ignatius versteht Nachfolge als Antwort des Menschen, der zuvor Leben, Freiheit und Erlösung gratis bekommen hat. Wurde bisher vorwiegend erwogen, wie Gott für den Menschen sorgt, ihn fördert und freisetzt, wird tritt nur die Idee einer Partnerschaft hinzu, in der beide, Gott und Mensch, zusammenwirken.  Durch die übende Aneignung der Geheimnisse des Lebens Jesu wird diese Partnerschaft konkret. Im Mittelpunkt stehen die Menschwerdung Gottes und die Mitmenschwerdung der Übenden.

Jesu Ruf in Nachfolge, in die Freundschaft und Vertrautheit mit ihm, hebt die Übenden in eine neue Würde. Christus bietet den Übenden an, auf dem Weg der Menschwerdung alles – Mühe und Erfolg, Scheitern und Rettung – mit ihm zu teilen. Das deutsche Wort ‚Partnerschaft‘ kennt eine Doppelbedeutung, die annähernd diese Beziehung ausdrückt. Die eine Dimension ist die emotionale Verbundenheit. Gott sucht, bietet und lockt in emotionale Nähe. Er bietet zugleich an, in seine Selbstsendung für Menschen und Erde verantwortlich mit einzusteigen. Christus ist der Herr, aber er räumt den Übenden nicht nur eine Aufgabe, sondern eine eigenverantwortliche Beteiligung an seiner Sendung ein. Die angebotene Partnerschaft umfasst diese beiden Dimensionen: Beziehung und Verbundenheit, aber auch die Senior- und Juniorpartnerschaft im gemeinsamen Wirken.

Nehmen die Übenden dieses Angebot an, entsteht ähnlich ein gemeinsamer Weg. Es beginnt eine Zeit der Aushandlung, sie sich durchaus mit dem Geschehen zwischen zwei menschlichen Partnern vergleichen lässt. Immer wieder kommt es auch auf dem Weg der Nachfolge zu neuen Herausforderungen, stellen sich Krisen ein, muss die Beziehung nachjustiert werden – und vertieft sich dadurch.

Die persönliche Berufung der Übenden bekommt nun eine klarere Gestalt. Nach und nach wird deutlich, was mein Platz in der Welt und im Plan Gottes ist, wie mein Beitrag zu seinem Heilshandeln gedacht ist. Die Übenden gewinnen an geistlichem Profil und menschlicher Prägung. Auch werden Charismen, Geistesgaben für die Mitwirkung an Gottes Sendung und zum Aufbau des Gottesvolkes, sichtbar und beginnen ihre Wirkung zu entfalten. Langsam, oft fast unmerklich verändert sich die Identität der Übenden. Die Übenden werden natürlich nicht andere Menschen, aber durch den neuen Rahmen der Partnerschaft mit Christus bekommt das Leben andere Bezüge, ändert sich das Bild und entsteht neue Bedeutung. Der Glaube wird durch die Erfahrung der Partnerschaft in neuer Weise zu einer prägenden Komponente der Identität – vergleichbar der Veränderung, die sich einstellt, wenn zwei Menschen eine verlässliche, dauerhafte partnerschaftliche Beziehung miteinander eingehen.

Der alte ‚Adam‘, die alte ‚Eva‘, aber lässt nicht locker. Gerade die Erfahrung von persönlicher Berufung und Charismen setzt auch wieder eine Versuchung: Etwas Besonderes sein, eine exklusiven Platz im Herzen Gottes und in seinem Plan haben oder auch – ganz menschlich – das Bedürfnis nach Sicherheit, Ansehen und Erfolg. Diese Sehnsucht ist normal und gehört zu gelingendem Menschsein. Nur, wenn sie sich von der Nachfolge Jesu ablöst, um für das Individuum einen Sonder-Gewinn zu erzielen, statt sich auf den Weg der Verletzlichkeit einzulassen, kann sie in die Falle der Selbstbezogenheit und Selbstoptimierung münden. Besonders perfide ist, dass diese Versuchung sich häufig in die Gestalt ‚frommer‘ Hingabe verkleidet.  Bei näherem Hinsehen verstecken sich Leistung, Werkgerechtigkeit und egoistischer Nutzen hinter der Fassade. Die Kosten für andere Menschen und für die Übenden selbst bleiben dabei Dunkeln. Die ganze Freiheit und Indifferenz und auch die doppeltdimensionale Partnerschaft stehen – von den Betroffenen oft unbemerkt –  auf dem Spiel.

Ignatius begegnet dem, indem er in Erinnerung ruft, dass der Weg der Menschwerdung ein Weg der Kenosis, der Demut, letztlich eine absteigende Lebenslinie ist. Durch die Inkarnation macht Gott sich verletzlich. Ignatius lädt die Übenden ein, betrachtend dem Menschwerdungsweg Jesu in wachsende Verletzlichkeit zu folgen. Die dunkle Konsequenz der Partnerschaft tritt nun in den Vordergrund. Während zuerst das Hochgefühl, Sendung und Erfolg mit Jesus zu teilen, erlebt wurde, wird nun deutlich, dass es auch eine Partnerschaft ist, die in Mühe, Verletzlichkeit und Scheitern weiterbestehen soll und kann. Die Partnerschaft zwischen Gott und Mensch in der Nachfolge Jesu ist in doppeltem Sinne Passion: Enthusiasmus und Leid(mit)erleben.

Damit lässt Ignatius eine weitere Perspektive der Lebensbewältigung anklingen. Brüche, die es in jedem Leben gibt, die Erfahrungen von Grenzen und Scheitern, verbinden sich in einer emotional erlebten Nähe mit dem Lebens- und Passionsweg Jesu. „Birg in deinen Wunden mich“ betet das Gebet ‚Anima Christi‘, eines der Lieblingsgebete des Ignatius. Zu erleben, dass die eigenen Wunden in seinen Wunden geborgen sind, öffnet wieder einen neuen Freiheitsraum. Denn nun müssen weder die erlittenen Wunden versteckt, noch künftige Wunden unbedingt vermieden werden. Das Richtige für mein Leben bleibt richtig, auch wenn sich kein Erfolg einstellt. Die persönliche Berufung trägt, auch wenn sie nicht anerkannt wird. Die Erlösung und auch mein Beitrag zur Sendung Gottes gehen durch Ohnmacht und Nacht. Die Übenden werden freigesetzt aus der gesellschaftlichen Norm des erfolgreichen, vorzeigbaren Lebens in stets jugendlichem Elan. Wunden und Narben, die das Leben schlägt, dürfen aus dem Schatten treten und ihren Beitrag zur Identität und Reife des Menschen entfalten. 

Diese neue Dimension der Freiheit öffnet sich dann hin auf eine weitere Dimension der Verantwortung. Die Freundschaft zu Jesus, die ihn auch auf dem Passionsweg nicht alleine lassen will, übersetzt sich in eine auch emotional erlebte und praktisch nach eigenem Maß und Möglichkeit zu lebende Solidarität mit dem leidenden Leib Jesu heute: Gottesvolk, Menschheitsfamilie, Erde und Kosmos. Gelingendes Leben vollzieht sich als Menschsein für andere – inkarniert und engagiert, verletzt und verletzlich.

Auf eigenen Füßen

Die Partnerschaft mit Christus in Aufgabe und Verletzlichkeit, in Berufung und Passion, endet jäh. Jesus geht den Kreuzweg bis zum Ende, stirbt und wird begraben. Aus Verletzlichkeit ist letzte Niederlage geworden. Vorbei: der Weg an seiner Seite geht nicht mehr weiter. Die Erschütterung, die diese Erfahrung auch in den heute geistlich Übenden auslösen kann, kann kaum überschätzt werden.  Oft stockt jetzt auch der geistliche Weg. Trauerarbeit ist zu leisten.

Erst aus dem leeren Grab, auch dem leeren Grab der bisherigen Jesus-Nachfolge, kann radikal Neues geschehen: Jesus lebt, lebt aber bei Gott. Im Sterben hat er seinen Geist Gott übergeben. In den Auferstehungserfahrungen übergibt er ihn den Jüngerinnen und Jüngern. Er stattet sie mit der gleichen Vollmacht aus, die er vom Vater hatte. Seine Sendung ist nun ihre Sendung. (Joh 20,21) Aus Jüngerinnen und Jüngern werden Apostelinnen und Apostel: Gesandte des Gesandten. Sie stehen in nun in der vollen, inkarnatorischen Verantwortung für Gottes Wirken: Heilung, Vergebung, Gerechtigkeit, das Evangelium für die Armen und die Menschen aller Länder: das Reich Gottes ist ihnen anvertraut.

Emotional kann dieser Schritt vielleicht verglichen werden mit dem Erleben junger Erwachsener, die das Elternhauses verlassen: Plötzlich auf eigenen Füßen, plötzlich frei, plötzlich allein verantwortlich… Das lässt ein wenig von dem Enthusiasmus und zugleich der Ratlosigkeit der Zeuginnen und Zeugen der Auferstehung erahnen. Sie finden sich in der Verantwortung, geistlich erwachsen und selbstständig den Weg und die Sendung Jesu weiter zu leben. Nach und nach erst wird die innere Geistführung erlebt, die die Nachfolge ablöst und nun Kraft und Weisheit für den Weg gibt.

Dabei irritiert, dass der Geist von jeder und jedem anders erfahren wird und Streit entsteht, obwohl sich alle vom Geist Gottes geführt erleben. Glauben, das zeigt sich spätestens jetzt, heißt miteinander den jeweils nächsten Schritt unterscheiden, abwägen und aushandeln. Zum Aushandeln mit Christus in der Partnerschaft tritt das dialogische Aushandeln mit den Christinnen und Christen hinzu.

Erneut begleiten zwei Versuchungen den Weg der geistlichen Selbstständigkeit als Mensch für andere. Die erste, äußert sich als eine imaginierte Macht, die im auferstandenen Herrn zur Rechten Gottes zu gründen vorgibt, aber nicht kenotisch ist:, die eben nicht freie Hingabe an die Selbstsendung Gottes zum Heil für Menschen und Erde ist. Die andere wurzelt in einer Verwechslung: Die geistgeführte Mündigkeit ist nicht die Mächtigkeit des umfassend gebildeten, energiegeladenen, perfekten Heros, den die europäische Moderne zu ihrem Leitbild erhoben hat. Mündige Christinnen und Christen sind Menschen der Inkarnation, die um ihre Beschränkung auf einen einzigen kleinen Ort und einen vergänglichen Körper wissen und sind Menschen der Kenosis, verletzt und verletzlich, sind Menschen der Passion und der Nacht des Scheiterns – und darin Menschen der Auferstehung und des neuen Lebens. Die Würde der geistlichen Selbstbestimmung  und Verantwortung hängt nicht an Gesundheit, geistiger Spannkraft und Einsicht. Sie gründet vielmehr auf den Geist des gekreuzigten Erlösers. In den Schwachen ist Gottes Kraft mächtig. Weg und Schicksal Jesu bleiben gerade auch in den Erfahrungen von Ermächtigung und Vollmacht für die Christinnen und Christen normativ.

Frei zu sein, geistlich-menschliche Mündigkeit zu leben, selbstverantwortlich zur Sendung Gottes für Menschen und Erde beizutragen, selbstorganisiert Kirche zu sein – und das inkarniert, von Jesus und den kenotischen Geheimnissen seines Lebens geprägt und geformt – ist die Verheißung der Exerzitien. Dadurch sind die Exerzitien des Ignatius von Loyola eine Chance auch für unseren Epochenübergang heute. 

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